M. Müller-Butz: Blicke zurück nach Osten

Cover
Titel
Blicke zurück nach Osten. Erfahrungen des Imperialen in Lebenserzählungen der polnischen Intelligenz im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Müller-Butz, Martin
Reihe
Europas Osten im 20. Jahrhundert (8)
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 464 S.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jannick Piskorski, Lübeck

Wie haben sich individuelle Erfahrungen im Russischen Imperium in polnischen Autobiografien des 20. Jahrhunderts niedergeschlagen, und welche Konzepte und Ideen des nationalen Selbstverständnisses haben Angehörige der polnischen Intelligenz auf dieser Grundlage entwickelt? Diesen beiden großen Fragenkomplexen widmet sich Martin Müller-Butz in dem vorliegenden Buch, das auf seiner Jenaer Dissertation basiert. Indem er die Langzeitfolgen imperialer Herrschaft nach dem Zerfall des Russischen Imperiums analysiert, eröffnet Müller-Butz eine erweiterte Perspektive auf die Geschichte der polnischen Intelligenz, die insbesondere Forschungsansätze der Post-colonial Studies und der New Imperial History mit einbezieht.

Müller-Butz sucht nach dem Ausdruck imperialer Erfahrung in Lebenserzählungen der polnischen Intelligenz. Dies geschieht vor der Grundannahme, dass die Wahrnehmung des Ostens innerhalb des östlichen Europas sich von analogen Wahrnehmungen im westlichen Europa unterscheidet. Er zeigt dies exemplarisch anhand der polnischen Wahrnehmung des Ostens, die Elemente der Fremd- und Selbstwahrnehmung in sich vereint. Polens Rolle als kolonisierte Nation wurde demnach vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Russischen und Sowjetischen Imperium verhandelt.

Müller-Butz distanziert sich von den Arbeiten des vielgelesenen Historikers Andrzej Nowak, weil er in ihnen eine Reproduktion der Orientalisierung Russlands zugunsten einer westlichen Verortung Polens erkennt.1 Als maßgeblichen Bezugspunkt benennt er hingegen die Arbeiten des Soziologen Tomasz Zarycki, der das Vorherrschen einer nationszentrierten Perspektive in der polnischen Ostforschung nach 1989 insbesondere im konservativen Spektrum konstatiert.2

Das Quellenkorpus der Studie bilden sieben autobiografische Lebenserzählungen. Bis auf die Autorin Halina Krahelska stammen die analysierten Werke ausschließlich von Männern. Die Quellen weisen folgende gemeinsame Merkmale auf: Sie sind in polnischer Sprache verfasst und richten sich an eine polnische Öffentlichkeit; die Autor:innen stammen aus den historischen Ostgebieten Polens oder aus weiter östlich gelegenen Gebieten; die Autor:innen identifizieren sich als der polnischen Intelligenz zugehörig bzw. handeln eine Definition zur polnischen Intelligenz aus.

In Anlehnung an die Generationsbegriffe von Karl Mannheim und Kazimierz Wyka kategorisiert Müller-Butz die ausgewählten Autobiografien in drei Generationen.3 Mit dieser nicht-chronologischen Kategorisierung schafft er einen flexiblen Rahmen für die Gliederung seiner Fallstudien. Seine Kategorisierung beginnt mit der Generation der „Unbeugsamen“, die nach dem Januaraufstand von 1863 sozialisiert wurde, wobei er diese Bezeichnung von Bohdan Cywińskis einflussreicher Begriffsprägung der niepokorni übernimmt.4 Diese Generation wird von den „Revolutionären“ abgelöst, die in den 1880er- und 1890er-Jahren geboren wurden und die Revolutionen von 1905 und 1917 als generationsprägende Momente erlebten. Die um die Jahrhundertwende geborene Generation der „Republikaner“ ist die letzte Generation, welche noch im Russischen Imperium aufwuchs.

Die von Müller-Butz getroffene Auswahl soll die polnische Intelligenz in einer möglichst breiten generationellen und politischen Bandbreite abbilden und diese als „sozial höchst heterogene Gruppe“ sichtbar machen (S. 65). Mit Blick auf die politische Repräsentativität gelingt ihm dies jedoch nur partiell: Müller-Butz bildet durch seine Auswahl eine Art Panorama eigenständiger polnischer sozialistischer Tradition. Jedoch fehlen Vertreter:innen der einflussreichen Nationaldemokratie (Narodowa Demokracja, Endecja), wenn man von Władysław Studnicki absieht, der zwar biografisch im Zusammenhang mit der Nationaldemokratie stand, jedoch bereits 1905 mit deren ideologischem Gründungsvater Roman Dmowski brach. In der Weltanschauung der Nationaldemokratie bildete der Antagonismus zu dem als kulturell höherwertig empfundenen Preußen-Deutschland das Zentrum der nationalistischen Agitation. Für die weitere Forschung zur Rezeption imperialer Herrschaft in Polen und dessen Verhältnis zum Osten wäre die stärkere Einbeziehung der Wahrnehmung Preußen-Deutschlands durch die polnische Intelligenz von großem Interesse. Auch wenn Müller-Butz sich punktuell mit der polnischen Erfahrung deutscher imperialer Herrschaft auseinandersetzt, zum Beispiel mit dem prägenden Einfluss der Okkupation Polens durch das nationalsozialistische Deutschland auf Stanisław Stempowski, bleibt seine Studie im Kern auf die Analyse der Wahrnehmung des Russischen bzw. Sowjetischen Imperiums fokussiert.

Die Generation der „Unbeugsamen“ wird in dem Sample der Studie von den Lebensgeschichten von Bolesław Limanowski (1835–1935), Władysław Studnicki (1867–1953) und Stanisław Stempowski repräsentiert. Sie sind geprägt von Fortschrittsglauben, Partizipation an der sozialen Frage, einer grundlegenden anti-imperialen Haltung und der Forderung nach Unabhängigkeit Polens. Obwohl diese Generation am engsten mit der russischen Intelligenz und dem russischen sozialistischen Denken verflochten war, ist ihre Wahrnehmung Russlands am deutlichsten von einer kompensierend-zivilisatorischen Grundhaltung geprägt. Die Ausprägung eines polnischen Nationalbewusstseins war eng mit einer anti-russischen Grundhaltung verknüpft. Beispielsweise zeigt Müller-Butz, dass Studnickis Selbstinszenierung in seinem autobiografischen Schreiben eine Reduktion zugunsten einer anti-russisch geprägten Lebenserzählung darstellt. Während Studnickis russischsprachige Publizistik in seinem Schaffen quantitativ eine große Rolle einnahm, spielt er deren Bedeutung in seiner Autobiografie herunter, um seine autobiografische Selbstdeutung in Einklang mit dem von ihm proklamierten ständigen polnisch-russischen Antagonismus zu bringen.

In der Generation der „Revolutionäre“ vollzieht sich eine Abkehr von diesem negativen Russlandbild. Hier zeigt sich der weitreichende Einfluss sozialistischen Denkens und ein positiv konnotiertes Bild der Sowjetunion. Bei Halina Krahelska (1886–1945) bildet die historische Erfahrung der gemeinsamen Freiheitsbewegung gegen die russisch-imperiale Herrschaft das gemeinsame Element zwischen russischer und polnischer anti-imperialer Intelligenz. Daneben stützt Müller-Butz seine Analyse dieser Generation auf die Lebensgeschichte von Władysław Uziembło (1887–1980).

Schließlich stehen Leon Lech Beynar (1909–1970) und Stanisław Swianiewicz (1899–1997) stellvertretend für die Generation der „Republikaner“. Bei ihnen scheint die nationale Selbstzentrierung der romantisch-heroischen Tradition überwunden, was sich auch in Anerkennung für die nationalstaatlichen Bestrebungen von Belarussen:innen, Litauer:innen und Ukrainer:innen niederschlägt. In der oppositionellen und exilierten Intelligenz steht die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion auch in dieser Generation im Mittelpunkt. Müller-Butz stellt fest, dass sich in dieser Generation anti-russische Denkmuster nicht mehr direkt artikulieren. Jedoch bleibt die Auseinandersetzung mit dem Osten bei den „Republikanern“ eine ambivalente Kategorie.

Der Vergleich von Autobiografien aus der Zwischenkriegszeit mit solchen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, gibt Aufschluss über Kontinuitäten und Veränderungen sowie über den Einfluss von politischen Umbrüchen und Flucht- und Vertreibungserfahrungen auf die polnische Ideengeschichte. Müller-Butz zeigt eindrucksvoll, dass die wiederholten Systembrüche, deren Verarbeitung und Deutung eine Kontinuität polnischer Lebenserfahrungen im 20. Jahrhundert bildeten. Anti-russische Denkmuster nahmen im Laufe der Zeit ab, ohne aber gänzlich an Bedeutung zu verlieren – was für die polnische Gesellschaft bis heute charakteristisch ist. Zu den wichtigsten Ergebnissen der Studie gehört, dass sich das von Orientalismen und Imperialismen geprägte Verhältnis Polens zum Osten in den untersuchten Lebenserzählungen vor allem in der komplexen Wechselbeziehung zwischen polnischen und russischen Intelligenzlern und Revolutionären artikulierte (S. 427f.).

Zugleich arbeitet Müller-Butz mit seiner Analyse wichtige Aspekte von Postkolonialität und Imperialität in der neueren Geschichte des östlichen Europas heraus: So deutet er das autobiografische Schreiben von Limanowski und Studnicki als postkoloniale Verarbeitung von Kolonisierungserfahrungen, welche diese durch den Prozess der Nationalisierung als überwunden inszenieren. Einen postimperialen Einfluss bemerkt Müller-Butz wiederum in Beynars autobiografischer Schrift, die den Zustand der polnischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit als postimperiale Starre beschreibt. Insgesamt interpretiert Müller-Butz die von ihm analysierte Orientalisierung Russlands zum Zwecke der west-östlichen Selbstverortung Polens als Ausdruck eines innereuropäischen Kolonialismus. Indem seine Studie die prägende Rolle postkolonialer Einflüsse und Rezeptionsmuster für die von ihm untersuchten autobiografischen Selbstdeutungen sichtbar macht, eröffnet sie eine anregende Perspektive, die zu weiteren Diskussionen und Forschungen einlädt.

Anmerkungen:
1 Andrzej Nowak (Hrsg.), Imperiological studies. A Polish Perspective, Kraków 2007.
2 Tomasz Zarycki, Ideologies of Eastness in Central Europe, London 2014.
3 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157–185, S. 309–330; Kazimierz Wyka, Pokolenia literackie, Kraków 1977.
4 Bohdan Cywiński, Rodowody niepokornych, Warszawa 1971.

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