Der Geschichtswissenschaft wird gerne eine ungute Vorliebe für antiquarische Anekdoten nachgesagt. Weshalb es jedoch tatsächlich lohnend sein kann, sich für scheinbare Nebensächlichkeiten wie Glocken oder Gerüche zu interessieren, hat Alain Corbin, einer der großen Pioniere der Sinnesgeschichte, in ein hübsches sinnliches Bild gefasst:1 Wenn man den Zipfel eines Tischtuches erhasche, gerate alles in Bewegung, was sich auf der Tafel befinde.2 Als ein ähnliches, vermeintlich „kleines Objekt, das, nach und nach, zu einem größeren führt“3, erweist sich auch die Kinderbeobachtungsstation „Neuhaus“ in Bern, die Urs Hafner in seiner neuesten Publikation untersucht. Im Gegensatz zur verbreiteten Unterstellung, dass Schweizer Geschichte eigentlich fast immer eine Form von Mikrogeschichte bleibe, führt Hafners Untersuchung die tatsächlichen Vorzüge eines solchen kleinschrittigen Vorgehens vor Augen, das die größeren Zusammenhänge nicht aus dem Blick verliert. Hafner gelingt nämlich nicht nur eine minutiöse Studie des „Neuhaus“, vielmehr erweist sich die psychiatrische Beobachtungsstation bei ihm gleichzeitig als ein „historisches“ Symptom weitreichender Entwicklungen.
Das „Neuhaus“ wurde 1937 „am Rand der Psychiatrischen Klinik Waldau“ eröffnet und war damit eine der ersten kinderpsychiatrischen Einrichtungen der Schweiz (S. 7). Mit dieser besonderen Lage lässt sich auch gut der Status der Kinderpsychiatrie sowohl in der Psychiatrie als auch in der Historiographie umreißen: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie fristet bislang in beiden Fachrichtungen ein „Nischendasein“ (S. 8). Hafner, der auch schon mit einer Geschichte der Heime hervorgetreten ist, analysiert in seinem neuen Buch nun die „kinderpsychiatrische“ Facette des „Aufwachsens in der Anstalt“.4 Im „Neuhaus“ wurden pro Jahr zwischen 20 bis 60 Kinder und Jugendliche aufgenommen, in der Regel blieben sie zwischen drei bis sechs Monaten dort. Wie in anderen Beobachtungsstationen und der Sonderpädagogik insgesamt wurden „deutlich mehr Knaben als Mädchen“ behandelt (S. 12). Hafners Geschichte der Beobachtungsstation befasst sich mit der „Regentschaft“ der ersten beiden Psychiater, die der Station vorstanden und denen die ersten beiden Kapitel gewidmet sind: Arnold Weber (1894–1976), der das „Neuhaus“ von 1937 bis 1961, und Walter Züblin (1919–1990), der es von 1961 bis 1985 leitete. Das dritte abschließende Kapitel behandelt den zwiespältigen „ärztlichen Blick“, der auf die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien geworfen wurde.
Der Psychiater Weber, der auch Psychoanalytiker war, hatte am einflussreichen „Burghölzli“ in Zürich bei Eugen Bleuler gearbeitet und scheint auch vom Wiener Pädagogen und Psychoanalytiker August Aichhorn inspiriert gewesen zu sein. So wurden die Kinder versteckt beim Spielen beobachtet, neben üblichen Intelligenztests auch der Rorschachtest durchgeführt und auch für die Träume der Kinder interessierte sich Weber. Wenig verwunderlich diagnostizierte der Arzt häufig Neurosen und vermutete ganz „orthodox“ den Grund für die Schwierigkeiten in unbewussten infantilen Konflikten. Mit dieser psychoanalytisch geprägten Ausrichtung war das „Neuhaus“ allerdings nicht allein, vielmehr wurde die frühe Kinderpsychiatrie insgesamt international stark von der Psychoanalyse beeinflusst.5 Um die Anfänge der Beobachtungsstation verstehen zu können, greift Hafner gekonnt auf eine Reihe unterschiedlicher Quellen zurück. Unter anderen stützt sich das erste Kapitel auf Krankenakten, Tests und wird etwa auch der Psychoanalyse-Rezeption anderer wichtiger Vorreiter der Schweizer Kinderpsychiatrie wie Moritz Tramer oder Jakob Lutz nachgegangen oder Webers ambivalente Einstellung zur Erbbiologie erörtert.
Auch Webers Nachfolger Züblin wurde am „Burghölzli“ ausgebildet, zwar nicht mehr bei Eugen Bleuler, wohl aber bei dessen Sohn Manfred. Während Weber eine eindeutige Zuneigung zur „orthodoxen“ Psychoanalyse hegte, folgte Züblin C.G. Jung, von dem er auch selbst analysiert wurde. Verglichen mit Weber wies Züblin insgesamt stärker „unorthodoxe“ Züge auf, sein Spitzname lautete übrigens „Holzbodenheiland“. Im Garten, den er auch sonst eifrig bepflanzte, legte Züblin etwa eine „Art Tunnel an, der in therapeutischer Absicht als Geburtskanal funktionieren sollte“ (S. 65). Neben der Botanik und Psychotherapie begeisterte sich Züblin auch für die neu aufkommenden Psychopharmaka, die er generös einsetzte, um die Kinder und Jugendlichen zu sedieren. Die sogenannte pharmakologische Wende mit ihrem „aus heutiger Sicht brachialem Einsatz von Medikamenten“ (S. 72) lässt sich daher auch gut am „Neuhaus“ studieren. So geht Hafner in seinem zweiten Kapitel wiederum auf einzelne Krankengeschichten ein und leuchtet mit ihrer Hilfe den „kaum kontrollierten Graubereich“ aus, in dem die Medikamente eingesetzt wurden. Zwar gibt es keine Hinweise auf direkte Medikamentenversuche, in jedem Fall wurden aber für Erwachsene zugelassene Medikamente eingesetzt, ohne dass die Einwilligung der Kinder und Jugendlichen oder derer Eltern eingeholt worden wäre. Unter Züblin kam es im „Neuhaus“ überhaupt zu einer neuen „starken naturwissenschaftlich-biologischen Ausrichtung“ (S. 87). So war Züblin auch ein Pionier der medikamentösen Behandlung des sogenannten psychoorganischen Syndroms – einer Art Vorläuferdiagnose zur ADHS. Diese „Wende“ bedeutete jedoch nicht, wie Hafner zeigt, dass die Psychotherapien verschwanden. Im Gegenteil wurden nach wie vor fleißig Bilder gemalt, gab es Feuerwerkstherapie – um Aggressionen abzubauen – oder wurde Psychodrama betrieben. Pharmako- und Psychotherapie schlossen sich schon damals keineswegs aus – genauso wenig wie sie es heute tun.6
Das dritte abschließende Kapitel ist eine Art Autopsie der Psychiatrie, wie sie im „Neuhaus“ praktiziert wurde. In ihrem „Selbstverständnis“ verstand sich die Beobachtungsstation nämlich als „gegen den Mainstream von Politik und Gesellschaft“ gerichtet (S. 99). Dass die Psychoanalyse nicht nur avantgardistisch war, sondern gleichzeitig auch sehr konservativ sein konnte, zeigt Hafner an Webers Vorstellung, was eine ideale Familie sei: „Verheiratete Eltern, ein arbeitstätiger Vater und eine die Kinder betreuende Mutter“ (S. 101). Züblin führte Webers „kulturkonservative Zivilisationskritik“ weiter (S. 105), denn die Realität entsprach nicht unbedingt Webers oder Züblins Vorstellungen. Wie Hafner zeigt, verschoben sich auch diagnostisch die Gewichte: Wurden zwischen 1951 und 1965 vor allem Verwahrlosung, Neurose und Oligophrenie – Intelligenzminderungen – festgestellt, vervielfachten sich die Diagnosen danach: „Um 1980 war die Anzahl verschiedener Diagnosen […] auf nicht weniger als zwanzig angewachsen“ (S. 110f.). Die Möglichkeiten anormal zu sein nahmen also zu. Dabei waren psychiatrische Beobachtungsstationen wie das „Neuhaus“ nicht die einzige Institution, die an diesem Wachstum beteiligt waren; insbesondere trugen auch Erziehungsberatungsstellen, schulärztliche Dienste, Polikliniken und die Sonderpädagogik dazu bei. Ihr Einsatz war, wie Hafner hervorhebt, äußerst „zweischneidig“, und zwar „von Anfang an“: Er „oszillierte“ stets „zwischen Anpassung und Emanzipation“, zwischen „Unterwerfung“ und „Befreiung“ (S. 120).
Mit seiner Studie liefert Hafner einen überzeugenden, nuancierten Beitrag zur Geschichte dieser Ambivalenz und es gelingt ihm dabei das Kunststück, die Geschichte einer Institution zu schreiben, ohne die größeren Entwicklungen zu vernachlässigen. Seine elegant geschriebene Untersuchung besticht auch durch die Auswahl der Quellen, auf die sie sich stützt. Der Band enthält zudem eine Reihe instruktiver Abbildungen etwa von Kinderzeichnungen, Stammbäumen oder Rorschach-Tests. Ein weiterer Vorzug der Untersuchung besteht fraglos darin, dass sie, wie in der neueren Psychiatriegeschichte üblich, aber ohne großes Aufheben darum zu machen, ebenso gekonnt wie entspannt ein besonderes Augenmerk auf Akteure und die „Material Cultures“ richtet.7 So hat die Untersuchung eigentlich nur einen einzigen kleinen Haken: Man wäre dem nur vom Umfang her schmalen Band ohne Weiteres und mit großem Vergnügen auch über die doppelte Länge gefolgt.
Anmerkungen:
1 Zu Alain Corbin als Vorreiter vgl. z.B. Mark M. Smith, A Sensory History Manifesto, Pennsylvania 2021, S. 28.
2 Alain Corbin, Historien du sensible. Entretiens avec Gilles Heuré, Paris 2000, S. 187.
3 Ebd.
4 Urs Hafner, Heimkinder. Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt, Baden 2011.
5 Für die Vereinigten Staaten vgl. z.B. Deborah Blythe Doroshow, Emotionally Disturbed. A History of Caring for America’s troubled Children, Chicago 2019.
6 Der Schweizer „Pionier“ Roland Kuhn unternahm etwa Medikamentenversuche und analysierte gleichzeitig die Pflegerinnen. Vgl. Magaly Tornay, Träumende Schwestern. Eine Randgeschichte der Psychoanalyse, Wien 2020, und Marietta Meier / Mario König / Magaly Tornay, Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie 1940–1980, Zürich 2019. Für einen Forschungsüberblick vgl. Urs Germann, Medikamentenversuche in der Deutschschweizer Psychiatrie 1950–1990. Zum aktuellen Stand der Forschung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2022), S. 75–91, http://doi.org/10.5169/seals-981254 (03.02.2023).
7 Vgl. z.B. Monika Ankele / Benoît Majerus (Hrsg.), Material Cultures of Psychiatry, Bielefeld 2020, und Henriette Voelkers Rezension des Bandes in H-Soz-Kult, 30.04.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94436 (03.02.2023).