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Titel
Der Jischuw an der Oder. Juden in Stettin, 1945–1950


Autor(en)
Wörn, Achim
Reihe
Studien zur Ostmitteleuropaforschung (54)
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 378 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Friedla, Hoover Institution Library and Archives, Stanford University

Die Schicksale und Erfahrungen von Juden und Jüdinnen in Polen in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden zuletzt intensiv erforscht.1 Achim Wörn folgt diesem Trend, indem er die Lebensrealitäten jüdischer Holocaust-Überlebender im Stettin der unmittelbaren Nachkriegszeit rekonstruiert.

In der vormals deutschen Hafenstadt Stettin begann mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zeit des großen Transfers: Die durch die Kriegshandlungen stark beschädigte Stadt fiel kraft des Potsdamer Abkommens an Polen und erhielt den amtlichen Namen Szczecin. Parallel zur Aussiedlung der deutschen Bevölkerung wurden polnische Siedler aufgenommen, darunter auch Shoah-Überlebende. Diese kamen aus KZ-Haft, Zwangsarbeitslagern, Verstecken und sowjetischem Exil. In den ersten Monaten und Jahren nach der Befreiung war ihre Situation im befreiten Polen äußerst prekär, so auch in Stettin. Unter sehr schweren Lebensbedingungen waren die Shoah-Überlebenden mit dem unvorstellbaren Verlust ihrer Angehörigen und der Vorkriegswelt konfrontiert sowie andauernder, antisemitisch motivierter physischer Gewalt ausgesetzt, die mancherorts in antijüdischen Exzessen und Pogromen mündete. Stettin erwies sich für die meisten von ihnen als Durchgangsstation.

Im ersten Teil seiner rund 300-seitigen Studie behandelt Wörn zunächst die Zeit bis 1945/46. Nach einer kurzen Darstellung des Schicksals der deutsch-jüdischen Gemeinschaft in Stettin vor dem Zweiten Weltkrieg und deren Vernichtung während des Nationalsozialismus geht er auf die Situation der wenigen Überlebenden ein, die in ihre Heimatstadt zurückkehrten. Die etwa 60 Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft wurden mit einem Stettin konfrontiert, das nicht nur seinen Namen geändert hatte. Ähnlich wie die deutsch-jüdischen Rückkehrer in Breslau oder Hirschberg (Niederschlesien) wurden auch die deutschen Shoah-Überlebenden in der Hafenstadt von Seiten der polnischen Siedlergemeinschaft und der sich erst etablierenden polnischen Behörden feindselig betrachtet. Sie konnten sich keine Zukunft in einem polnischen Stettin vorstellen und verließen die zerstörte Stadt in den ersten Monaten nach der Befreiung.2

Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt allerdings auf dem Schicksal der aus der Sowjetunion und aus Polen eintreffenden Holocaust-Überlebenden, die sich hier als Flüchtlinge ansiedelten. Zwischen 1944 und 1946 kehrten im Rahmen der staatlich organisierten „Repatriierung“ über 200.000 polnische Jüdinnen und Juden aus dem sowjetischen Exil nach Polen zurück. Die meisten von ihnen waren entweder nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aus dem deutsch besetzten Polen in die Sowjetunion geflüchtet oder im von 1939 bis 1941 sowjetisch besetzen Ostpolen als „Klassenfeinde oder politisch unerwünschte Elemente“ diffamiert, verhaftet und ins Innere der Sowjetunion deportiert worden. Dennoch schützte die Deportation oder Flucht die Mehrheit jener polnischen Juden, welche die Shoah überhaupt überlebten, vor den Gräueln der Vernichtung, die dem deutschen Angriff folgten.3 Bereits im Frühjahr 1946 kehrten sie in Hunderten von Transporten aus der Sowjetunion nach Polen zurück. Der überwiegende Teil der Züge wurde in die ehemaligen deutschen Ostgebiete geleitet, die Polen zugeschlagen worden waren. Auf diese Weise wurden bis zum Herbst 1946 etwa 28.000 Jüdinnen und Juden in Stettin angesiedelt.

Im nächsten Teil befasst sich Wörn mit den politischen Hintergründen der Ansiedlung und rekonstruiert die Etablierung jüdischen Lebens in der Stadt. Infolge der massiv steigenden Zahl der jüdischen Rückkehrer aus der Sowjetunion wurden in Stettin neue jüdische Institutionen und Organisationen ins Leben gerufen. Zu ihren dringendsten Aufgaben gehörten anfänglich die Krankenfürsorge, materielle Hilfe und die Beschaffung von Wohnraum und Arbeit. Das Jüdische Wojewodschaftskomitee, das dem Zentralkomitee der polnischen Juden unterstand, bot zudem Unterstützung bei der Suche nach überlebenden Familienangehörigen. Diese wichtigen Aufgaben wurden in großem Umfang von der jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation Joint Distribution Committee unterstützt, aber auch durch individuelle Hilfe aus dem Ausland oder jüdische Landsmannschaften aus Übersee.

Wörn weist auf die schwierige ökonomisch-soziale Lage der jüdischen Überlebenden in der schwer zerstörten Hafenstadt hin, wo die Lebenshaltungskosten sehr hoch waren und es an Arbeitsplätzen mangelte. Dank einer akribischen Analyse des Archivmaterials des Jüdischen Komitees beleuchtet Wörn auch viele Missstände und Missbrauch von Hilfeleistungen innerhalb der Institution. Zudem wirft er einen genauen Blick auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen nichtjüdischen Polen, polnischen Juden und der immer noch in der Stadt verbliebenen deutschen Bevölkerung. Der Krieg hatte die in Teilen der polnischen Gesellschaft verbreiteten Vorurteile gegen die jüdischen Bürger:innen keineswegs gemildert. Antisemitisch motivierte physische Gewalt, Drohungen und Einschüchterungen waren an der Tagesordnung. Nach dem Pogrom in Kielce im Juni 1946, in dessen Verlauf 42 Jüdinnen und Juden brutal ermordet wurden, entstand auch in Stettin ein jüdischer Wachschutz, der jüdischen Einrichtungen Schutz bieten sollte.

Trotz der angespannten Sicherheitslage, der instabilen politischen Situation und der andauernden Emigrations- und Fluchtwellen stabilisierte sich spätestens 1947 das institutionelle Leben der jüdischen Gemeinschaft in Polen und auch in Stettin. Neben dem bereits erwähnten Jüdischen Wojewodschaftskomitee, das zahlreiche jüdische Institutionen etwa zur Betreuung jüdischer Waisenkinder, für medizinische Fürsorge und Bedürftigenhilfe sowie das jüdische Kultur- und Schulwesen koordinierte, schufen die jüdischen Neuansiedler in Stettin auch religiöse Strukturen neu, die während des Zweiten Weltkriegs völlig zerstört worden waren. Die politische Freizügigkeit, die den Juden in Polen in der unmittelbaren Nachkriegszeit gewährt wurde, begünstigte die Entstehung eines breiten Spektrums von Parteien, die an die politische Tradition der polnischen Juden in der Vorkriegszeit anknüpften. Trotz aller Unterschiede in ihrer jeweiligen ideologischen Ausrichtung verfügten die zionistischen Parteien unter der jüdischen Bevölkerung über den größten Einfluss. Diese gründeten auch zahlreiche Kibbuzim in Stettin, die ihre Mitglieder auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten.

In diesem Abschnitt räumt Wörn auch den jüdischen Landsmannschaften viel Raum ein, die in Stettin von Überlebenden gegründet wurden, die aus denselben Vorkriegsorten stammten. Dieser Aspekt wird in den jüngsten Arbeiten zu den Schicksalen der polnischen Jüdinnen und Juden in der unmittelbaren Nachkriegszeit eher am Rande erwähnt. Die Landsmannschaften erstellten nicht nur Register von Überlebenden, sondern übernahmen auch die Verteilung ausländischer Hilfsgüter von Partner-Landsmannschaften aus dem Ausland (allen voran aus den USA). Diese starke transnationale Vernetzung erwies sich für die vielen Jüdinnen und Juden, die sich für die Emigration aus Polen entschieden, bald als äußerst hilfreich.

Das abschließende Kapitel widmet sich der Flucht und Auswanderung jüdischer Neuansiedler:innen aus Stettin. Das blühende jüdische Leben währte sehr kurz. Nach dem Pogrom in Kielce im Juli 1946 flohen zehntausende Juden aus Polen, die meisten in die DP-Lager in dem von den Amerikanern besetzten Teil Deutschlands. Wörn beschreibt die oft mühseligen Wege der Emigration und die einzelnen Phasen parallel zur politischen Entwicklung, beginnend mit den ersten illegalen Ausreisen mit Hilfe der Organisation „Brichah“ (hebr. Flucht), für die Stettin als eine der wichtigsten Drehscheiben diente. Insbesondere die geduldete Auswanderung der Jahre 1947/48 spiegelt sich dramatisch in den Statistiken wider: Während sich im Juni 1946 noch über 200.000 polnische Juden in Polen befanden, verließen bis Ende 1947 etwa 150.000 von ihnen das Land. Die Auflösung selbstständiger jüdischer Institutionen im Zuge der Stalinisierung löste ab 1948/49 eine weitere Emigrationswelle aus, zumal der neugegründete Staat Israel eine Alternative bot. In einem stalinistischen Polen sah die Mehrheit der polnischen Juden keine Zukunft für sich.

In der Gesamtschau wirkt Achim Wörns Buch leicht zerklüftet. Viele Wiederholungen, etwa Passagen über das Jüdische Wojewodschaftskomitee, die im dritten Kapitel und vierten Kapitel zu finden sind, desgleichen Informationen über die jüdischen Landsmannschaften oder allzu detailverliebte Ausführungen über die jüdischen Parteien, verwirren und verringern den Lesefluss. Demgegenüber wurden die Ergebnisse neuester Studien über die Situation der jüdischen Überlebenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Polen, deren Berücksichtigung überregionale Vergleiche ermöglicht hätte, nur sehr sparsam verarbeitet.

Ungeachtet dieser Kritikpunkte ist hervorzuheben, dass Wörn sich auf ein beeindruckendes Quellenkorpus stützt. Dank der Perspektive der Protagonist:innen, die er gekonnt in seine Darstellung einfließen lässt, gelingt es ihm, die facettenreichen Lebenswelten der jüdischen Überlebenden im nunmehr polnischen Stettin akribisch zu rekonstruieren.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Łukasz Krzyżanowski, Ghost Citizens. Jewish Return to a Postwar City, Cambridge, Mass. 2020, rezensiert für H-Soz-Kult von Markus Nesselrodt, 19.01.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29727 (26.02.2023); Ewa Kozmińska-Frejlak, Po Zagładzie. Praktyki asymilacyjne ocalałych jako strategie zadomawiania się w Polsce (1944/45–1950), Warszawa 2022.
2 Zur Geschichte der Jüdinnen und Juden in den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg siehe u.a. Katharina Friedla, Juden in Breslau/Wrocław 1933–1949: Überlebensstrategien, Selbstbehauptung und Verfolgungserfahrungen, Köln 2015; Kamil Kijek, Aliens in the Lands of Piasts. The Polonization of Lower Silesia and its Jewish Community in the Years 1945–1950, in: Tobias Grill (Hrsg.), Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories, Berlin 2018, S. 234–255.
3 Siehe dazu Markus Nesselrodt, Dem Holocaust entkommen. Polnische Juden in der Sowjetunion, 1939–1946, Berlin 2019, rezensiert für H-Soz-Kult von Katarzyna Person, 21.11.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28698 (26.02.2023); Eliyana R. Adler, Survival on the Margins. Polish Jewish Refugees in the Wartime Soviet Union, Cambridge, Mass. 2020, rezensiert für H-Soz-Kult von Katharina Friedla, 01.02.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94734 (26.02.2023).

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