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Titel
Rasender Stillstand oder Stunde Null?. Österreichische PressefotografInnen 1945–1955


Autor(en)
Krammer, Marion
Reihe
Zeitgeschichte im Kontext
Erschienen
Anzahl Seiten
380 S., 30 Abb.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Wurzer, Max-Planck-Forschungsgruppe „Alpine Geschichten“, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle/Saale

Vorstellungen über die Vergangenheit der frühen Zweiten Republik sind ganz wesentlich von zeitgenössischen Pressefotografien geprägt, aus denen über die Jahrzehnte hinweg mitunter Bildkonen wurden – Stichwort „die Vier im Jeep“. Wiewohl diese Bilder die kollektive Erinnerung wesentlich prägen, ist über ihre UrheberInnen allerdings kaum etwas bekannt. Das gilt vor allen Dingen im Hinblick auf die Karrieren, die diese Männer und Frauen vor 1945, nicht nur in der Ersten Republik, sondern vor allem auch im Austrofaschismus und Nationalsozialismus gemacht haben. Marion Krammer hat sich in ihrer Dissertation, die sie im Rahmen des FWF-geförderten Forschungsprojekts „War of Pictures. Press Photography in Austria 1945–1955“ am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaften in Wien erarbeitet hat und die nun als Buch vorliegt, diesem Desiderat der österreichischen Medien- und Kulturgeschichte angenommen. Ihr Hauptanliegen ist es, nachzuzeichnen, welche personellen Kontinuitäten es im fotojournalistischen Bereich über die politischen Brüche 1934, 1938 und 1945 hinweg in die unmittelbare Nachkriegszeit bis 1955 gibt (S. 14).

Der Forschungsstand zu Pressefotograf:innen, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt in Österreich tätig waren, ist ausgesprochen dünn und einseitig: Bisherige Arbeiten präsentierten einzelne Fotoreporter:innen wenig kritisch als geniale Bildagent:innen (S. 15). Krammer schließt dagegen an Arbeiten von Anton Holzer und Annette Vowinckel an, die einen gänzlich anderen Begriff von Pressefotografie teilen. Für sie ist diese ein „arbeitsteilig und marktwirtschaftlich organisiertes System“ (S. 23). Aus einer solchen Perspektive sind Pressefotograf:innen keine „Stars“, deren Können alleinig über den „Bilderfolg“ entscheidet; sie befinden sich vielmehr erst am Beginn komplexer Kanäle massenmedialer Bildverbreitungsprozesse. Diesem Umstand Rechnung tragend, untersucht Krammer bildjournalistische Biografien im Kontext ihrer ökonomischen, gesellschaftlichen, technischen und politischen Rahmenbedingungen (S. 21f.). Das ist nur konsequent, schließlich lautet ihre Hauptannahme, „dass die Entwicklung des Berufsfeldes der Pressefotografie wie auch jene der Bildagenturen und des Bildjournalismus in den Jahren von 1945 bis zum Abschluss des Staatsvertrages und dem Abzug der Alliierten 1955 untrennbar an politische Ereignisse und an die Interessen der Besatzungsmächte gekoppelt war“ (S. 24).

Es ist Krammers Ziel, die zwischen 1945 und 1955 tätigen Pressefotograf:innen zu erfassen und Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen, Karrierewege und Netzwerke sowie die Berufspraxis im Zusammenspiel zwischen alliierten Bilddiensten, (inter-)nationalen Bildagenturen und dem sogenannten Syndikat, dem Zusammenschluss der Pressefotograf:innen und Bildagenturen, zu untersuchen (S. 24f.). Im Hinblick auf die Karrierewege der FotografInnen lautet Krammers These, „dass es im österreichischen Fotojournalismus nach 1945 zu keinem umfassenden Bruch mit dem Nationalsozialismus/Austrofaschismus kam; vielmehr zeigen sich personelle Kontinuitäten innerhalb des Berufsfeldes der Pressefotografie“, wobei der Begriff Kontinuität in den Worten der Autorin das „kontinuierliche und von politischen Zeitumständen und Kontexten unabhängige ,fotografische Handeln‘ von Personen“ meint, „die mit diesem (politische) visuelle Öffentlichkeit erzeugten“ (S. 25).

Folglich interessiert sich die Autorin (a) für die politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen der Pressefotografie zwischen 1945 und 1955, (b) für den Einfluss der alliierten Medienpolitik auf und die Netzwerke von Pressefotograf:innen sowie (c) für deren faschistische Vergangenheiten, um letztendlich „das ,fotografische Handeln‘ dieser Generation an Fotojournalist:innen sichtbar zu machen“ (S. 26).

Um das gesteckte Ziel zu erreichen und die diesbezüglichen Fragen beantworten zu können, verortet die Autorin ihr Vorhaben am Schnittpunkt von Medien- und Kommunikationswissenschaften, Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte. Sie bedient sich eines integralen, akteurstheoretischen Ansatzes, der Makro-, Meso- und Mikroperspektiven verknüpft und die Analyse fotojournalistischen Handelns im Kontext von Strukturzusammenhängen erlaubt (S. 29f.). Diesem Zugang folgend strukturiert Krammer ihr Buch übersichtlich und klar: Sie arbeitet die drei zuvor skizzierten Fragekomplexe konsequent ab, wobei sie ihren analytischen Fokus schrittweise von der Makro- über die Meso- auf die Mikroebene verengt. Herzstück ihrer Analyse sind schließlich die Kapitel sechs und sieben, in denen sie eine quantitative, statisch-empirische prosopografische Analyse mit anschließenden qualitativen kollektivbiografischen Fallstudien verknüpft.

In ihrer Analyse zeigt Krammer, dass die Entwicklung des Berufsfeldes Pressefotografie ganz wesentlich vom politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontext geprägt gewesen war: Die fotojournalistische Praxis war von Papiermangel, prekären Arbeitsverhältnissen, Konkurrenzkämpfen nach „innen“ unter anderem gegen sogenannte „Unbefugte“ bzw. nach „außen“ gegen internationale und staatliche Bilderdienste sowie von einer Professionalisierung durch die Aktivitäten des Syndikats beeinflusst (S. 311). Krammers Studie entlarvt die Imagination des „rasenden Reports“ als mythisch verdichtete Selbstinszenierungsstrategie, deren Attribute wie Jugendlichkeit, Flexibilität und der militärische Sprachjargon bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichen. Mit dem fotojournalistischen Personal des ersten Nachkriegsjahrzehnts hatte dieses Selbstbild Krammer zufolge wenig gemeinsam: Die Autorin beschreibt die „typische“ Bildjournalist:in als männlich, autodidaktisch ausgebildet, zwischen Mitte 40 und Anfang 50 Jahre alt, weitgehend immobil und als Person, die in den wechselnden politischen Systemen der 1930er- und 1940er-Jahre Berufserfahrung gesammelt hatte (S. 316).

In der Tat ist der Mythos vom „rasenden Reporter“ nicht der einzige, den Krammer in ihrer Studie in überzeugender Weise dekonstruiert: Sie zeigt außerdem anhand der Analyse von 195 (!) erhobenen Biografien, dass es im Fotojournalismus tiefreichende personelle und institutionelle Kontinuitäten zum Nationalsozialismus gegeben hat, weswegen auch für dieses Feld der Mythos der „Stunde Null“ nicht haltbar sei (S. 315): Fast die Hälfte der Untersuchten war bereits während der NS-Herrschaft als Bildreporter:in aktiv und mehr als ein Fünftel Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Organisationen gewesen. Alle bis auf zwei traten nach 1945 dem Syndikat bei (S. 314). Besonders erstaunlich ist dabei, dass zwar der Großteil der NS-Pressefotograf:innen nach 1945 ihre Karriere nahtlos fortsetzen konnten; als innovative Impulsgeber:innen fungierten allerdings nicht sie, sondern eine kleine Gruppe jüdischer RemigrantInnen, die über das Syndikat die Berufswelt der Pressefotografie wesentlich modernisierten (S. 320).

Vorliegendes Buch überzeugt durch die enorm sorgfältige Arbeit Krammers: Sie identifiziert die Forschungslücke, entwickelt ein adäquates Forschungsdesign in überzeugender Weise und arbeitet die aufgeworfenen Fragen in konsequenter, quellengesättigter und methodologisch souveräner Art und Weise ab. Krammer stützt ihre Argumente vor allem auf Material aus dem Archiv des Syndikats Österreichs, dem Staatsarchiv in Wien sowie aus den National Archives in Washington. Bestände aus britischen, französischen, deutschen und russischen Archiven ergänzen das beeindruckend umfangreiche Quellenkorpus. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch die Erhebung von rund 60.000 Einzelbildnachweisen ausgewählter illustrierter Zeitschriften aus dem Zeitraum von 1945 bis 1955, die die Autorin gemeinsam mit Studierenden in mehreren Lehrveranstaltungen vorgenommen hat. Angesichts all dessen, vor allem aber aufgrund der gehaltvollen quantitativen Analyseergebnisse und der Kurzbiografien im Anhang, besteht kein Zweifel daran, dass das vorliegende Buch zu einem Standardwerk für alle jene werden wird, die sich mit der Zeitgeschichte der Pressefotografie in Österreich beschäftigen wollen. Nicht zuletzt deshalb ist das Fehlen eines Registers, das das Auffinden von Personen, Zeitschriften und Zeitungen, Agenturen etc. wesentlich erleichtern würde, zu bedauern.

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