G. Zipfel (Hrsg.) : Vor aller Augen

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Titel
Vor aller Augen. Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten


Herausgeber
Zipfel, Gaby; Mühlhäuser, Regina; Campbell, Kirsten
Erschienen
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paula Dahl, Arbeitsbereich Globalgeschichte, Universität Hamburg

Um die Jahrtausendwende begann eine breite öffentliche und akademische Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten. Mit den Urteilen des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda und für das ehemalige Jugoslawien wegen sexueller Gewalttaten in den jeweiligen Kriegen hatte diese spezifische Form der Gewalt große Aufmerksamkeit erhalten.1 Sexuelle Gewalt und Vergewaltigung wurden von allen beteiligten Kammern als „Völkermord, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, [...] Kriegsverbrechen, sowie als schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen“ eingestuft (S. 362).

Der hier vorliegende internationale und interdisziplinäre Sammelband umfasst geschichts-, politik-, sozial-, kultur- und literaturwissenschaftliche, soziologische, philosophische, anthropologische und juristische Perspektiven auf das Phänomen der sexuellen Gewalt in bewaffneten Konflikten. Zusammengestellt von der internationalen Forschungsgruppe Sexual Violence in Armed Conflict (SVAC) untersucht er nicht nur unterschiedliche Praktiken und Einflüsse auf ausgeübte sexuelle Gewalt sowie Täter-, Opfer-, Zuschauerdynamiken, sondern auch die jeweiligen Politiken der Wissenserzeugung, die das Verständnis des Phänomens der sexuellen Gewalt in bewaffneten Konflikten grundlegend prägen.

Der Band nähert sich dem Thema über vier Schlüsselperspektiven: Krieg/Macht, Gewalt/Sexualität, Gender/Engendering, Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit. Diese wurden auf der internationalen und -disziplinären vom SVAC-Netzwerk organisierten Konferenz „Against Our Will – Fourty Years After: Exploring the Field of Sexual Violence in Armed Conflict“ im Juli 2015 herausgearbeitet. Die Beiträge zu den jeweiligen Schlüsselperspektiven werden jeweils kurz eingeleitet und sind dann in „Interventionen“ und „Reflektionen“ gegliedert, wobei erstere Schlüsselkonzepte, -debatten und -probleme diskutieren, letztere daran in Form von konkreten Ansätzen oder Fallbeispielen anschließen und in manchen Fällen sogar Beiträge des Sammelbands direkt reflektieren, z.B. der Bezug auf Pascale Bos‘ Text (S. 521–531) in Júlia Garraios Beitrag „Was kommt zur Sprache, wenn es um Vergewaltigungen in Krieg und Genozid geht?“ (S. 532–534). Diese Einteilung strukturiert den umfangreichen Band übersichtlich, wenn auch einige Artikel sich nicht ganz so eindeutig kategorisieren lassen und die Bereiche sich teilweise überschneiden. Vorangestellt ist den Kapiteln der vier Schlüsselperspektiven eine anregende, selbstreflexive Diskussion einiger Forscher:innen des SVAC, in der sich bereits viele Fragen eröffnen, die im Laufe des Buches erneut aufgegriffen und verhandelt werden.

Die Herausgeberinnen verstehen den Band, der seit der Veröffentlichung des englischsprachigen Originals 2019 als neues Grundlagenwerk gelten kann, als „work in progress“. Er soll bestehende Fragen beantworten, neue Perspektiven eröffnen und Forschungsdesiderata aufzeigen sowie zu weiteren Diskussionen und zur ständigen wissenschaftlichen Selbstreflexion anregen. Das Ziel des SVAC ist auch ein politisches, nämlich die komplexen Realitäten sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten aufzudecken, um den Politiken, die diese möglich machen, den Boden zu entziehen.

Thematisch verhandelt der Band eine Bandbreite an Formen sexueller Gewalt in unterschiedlichen bewaffneten Konflikten weltweit mit einem zeitlichen Schwerpunkt im 20. Jahrhundert. Neben vielen bekannten Argumenten und neuen Einsichten in das Schwerpunktthema werden auch immer wieder im Themenfeld angesiedelte Konzepte, wie etwa die „neuen und alten Kriege“ von Mary Kaldor oder auch die Theorie des „Ausnahmezustand Krieg“, die Gaby Zipfel bereits in vorherigen Texten angefochten hat, neu und kritisch diskutiert.2

Den Aufschlag macht eine der Herausgeberinnen, Regina Mühlhäuser, die am Beispiel der deutschen Armee während des Kriegs in der Sowjetunion 1941–1945 ihre These veranschaulicht, dass sexuelle Gewalt implizit oder explizit Teil taktischer und/oder strategischer Überlegungen einer Armee oder bewaffneten Gruppe ist. Mühlhäuser legt knapp die Geschlechterverhältnisse und -stereotypisierungen dar, aus deren Kontext heraus sexuelle Gewalt und der alltägliche sowie wissenschaftliche Umgang mit dieser entsteht. Hier führt die Autorin Motive an, die sich zum Teil bereits in ihren vorherigen Aufsätzen finden lassen und die ich hier kurz aufzählen möchte, da sie in weiteren Beiträgen ebenfalls eine zentrale Rolle spielen: Soldaten dürfen sich, gewissermaßen als „Belohnung“ für ihre Kriegsdienste, ohne Rücksicht alles nehmen, was sie wollen (was häufig Sex beinhaltet); in der Moderne gibt es ein geläufiges Verständnis von Krieg und Sex als die existenziellen Erfahrungen der menschlichen (männlich gedachten) Existenz; die Annahme, dass sich die Vitalität eines Mannes in seiner sexuellen Identität als aktiver und kraftvoller Mann ausdrückt; sexuelle Gewalt und (Gruppen-)Vergewaltigungen vollziehen sich oftmals im Kontext einer Art „männerbündischen Zusammenhalts“; Vergewaltigung im Krieg zielt auf die Abwertung der „anderen“ Frauen und dadurch des Kollektivs, damit ist sie auch eine Kommunikation von Mann zu Mann, da es die Aufgabe der Männer gewesen wäre, „ihre“ Frauen zu beschützen; den Opfern wird häufig Kompliz:innenschaft vorgehalten und der Gewaltakt oftmals erst anerkannt, wenn er mit übermäßiger Brutalität einhergeht; die Betroffenen sind häufig Frauen aus unteren Schichten und haben keine große politische Lobby.3 Ebenfalls im ersten Teil findet sich unter dem Titel „Diskurs, Repräsentation, Trauma. Reflektionen über Macht“ die scharfsinnige Analyse der britischen Historikerin Joanna Bourke zu Darstellung und Umgang mit sexueller Gewalt (S. 153–182). Sie kritisiert die an „westlichen“ Konzepten angelehnte Begriffsdefinitionen bezüglich Sexualität und Gewalt und den dadurch geprägten Umgang mit sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten, sowie die auf problematische Weise gegenderte Darstellung sexueller Gewalt in unterschiedlichen Medien, welche in der Regel primär männliche Perspektiven einnimmt.

Im zweiten Teil, „Gewalt/Sexualität“, geht unter anderem die Philosophin Renée Heberle den Fragen nach, ob die dominante Vorstellung von Männlichkeit ohne sexuelle Gewalt überhaupt bestehen kann und ob mit einem undoing gender auch die Eliminierung sexueller Gewalt einhergehen würde (S. 223–245). Anspruchsvoll, aber auch besonders lohnend zu lesen ist die Reflektion von Gaby Zipfel, in der sie der Frage nachgeht, was eigentlich „sexuell“ an sexueller Gewalt ist (S. 276–294).

Die Autor:innen des dritten Teils „Gender/Engendering“ stellen die Zentralität von gender für (konfliktbedingte) sexuelle Gewalt heraus. Ruth Seifert etwa übt Kritik an bestehenden Forschungen, die sexualisierte Gewalt in kriegerischen Konflikten nicht mehr als gendered bezeichnen und macht das Argument, dass „Geschlechterdynamiken und -symboliken“ nicht außer Kraft gesetzt seien, „wenn ein biologisch männlicher Körper Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt erleidet“ (S. 347). Diese sei vielmehr eine „Ausübung männlicher Dominanz, unabhängig vom Geschlecht von Täter:innen und Opfern“ (S. 350).4 Zudem beschäftigen sich die Autor:innen mit konzeptionellen Ansätzen wie Intersektionalität in Hinblick auf bewaffnete Konflikte. Beispielsweise kritisiert die Sozialwissenschaftlerin Dubravka Žarkov aus einer postkolonialen Perspektive den primär westlichen Diskurs zu sexueller Gewalt im Krieg und die damit einhergehende konstante Ethnisierung und Rassifizierung Afrikas und des Balkans (S. 297–304). Sie plädiert für eine verstärkte Untersuchung der Machtverhältnisse, die dem Phänomen zugrunde liegen, in Abgrenzung zur derzeit starken Fokussierung auf Identität(spolitiken), welche sie als Ergebnis ebendieser Machtverhältnisse sieht (S. 301). Die Reflektion der UN-Sonderberichterstatterin Rashida Manjoo zu Gewalt gegen Frauen gibt einen erschreckenden Einblick in das Versagen politischer Maßnahmen, (sexuelle) Gewalt gegen Frauen, konfliktbedingt oder nicht, dauerhaft einzudämmen (S. 392–418).

Der vierte und letzte Teil beschäftigt sich unter dem Titel „Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit“ mit dem Spannungsverhältnis „zwischen öffentlicher Sichtbarkeit und Praktiken der Trivialisierung und des Verschweigens“ sexueller Gewalt (S. 441). Hier geht es primär um erinnerungspolitische Aufarbeitungen und mediale Darstellungen schwerer konfliktbedingter sexueller Gewalt, wie etwa der grausamsten Vergewaltigungen in der DR Kongo (Ngwarsungu Chiwengo, S. 443–469) oder der als comfort women bezeichneten koreanischen Sexsklav:innen des japanischen Militärs während und nach dem Zweiten Weltkrieg (Hyunah Yang, S. 470–498). Die Autor:innen dekonstruieren bestehende Narrative und geben Anregungen zur Quellenarbeit, wobei sie Perspektiven von Betroffenen in den Mittelpunkt ihrer Analysen rücken.

Bisweilen ist eine unscharfe Trennung der zentralen Begriffe und deren Verwendung zu bemängeln – beispielsweise zwischen „sexueller Gewalt“, „sexualisierter Gewalt“ und „Vergewaltigung“ oder auch zwischen „bewaffneten Konflikten“ und „Krieg“. Einige Autor:innen, wie etwa Bourke, reflektieren die Unterschiede und auch Vor- und Nachteile der einzelnen Begriffe, bei anderen hingegen bleibt unklar, ob diesbezüglich Unterschiede gemacht oder die Begriffe synonym verwendet werden. Die Autor:innen vertreten eine große Bandbreite an Positionen in der aktuellen Forschungsdebatte um sexuelle Gewalt (in bewaffneten Konflikten), was einen eindrucksvollen Überblick über diese kreiert. Dadurch entsteht auch der Eindruck einer Diskussion zwischen den unterschiedlichen Beiträgen, wobei einige Autor:innen sich sogar explizit aufeinander beziehen. Sie thematisieren darüber hinaus auch andere Differenzkategorien und Intersektionalität in Bezug auf sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten (z.B. Dubravka Žarkov, S. 297–304; Atreyee Sen, S. 419–428 u.a.).

Der rundum lesenswerte Sammelband präsentiert, in teilweise sehr dichten Texten, eine so noch nicht vorhandene, höchst aktuelle und umfangreiche Diskussion. Die Übersetzung eröffnet die Inhalte einer deutschsprachigen Leserschaft. Der Band vereint gewinnbringend verschiedene akademische Disziplinen und geografische Regionen.

Anmerkungen:
1 Einen Überblick bietet die im Sammelband vorgestellte Auswahlbibliografie https://www.warandgender.net (18.07.2022).
2 Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt am Main 2000; Gaby Zipfel, Ausnahmezustand Krieg? Anmerkungen zu soldatischer Männlichkeit, sexueller Gewalt und militärischer Einhegung, in: Insa Eschebach / Regina Mühlhäuser (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Berlin 2008, S. 55–74.
3 Siehe bspw. Regina Mühlhäuser, Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe. Zur Entwicklung eines Verständnisses seit den 1970er Jahren, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 31 (2020), Heft 1, S. 129–138.
4 Dasselbe Argument findet sich bei Miranda Allison, Sexuelle Gewalt in Zeiten des Kriegs, in: Eschebach / Mühlhäuser, Krieg und Geschlecht, S. 35–54.

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