In seinem 1949 erschienenen Werk „La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II“ unterschied der französische Historiker Fernand Braudel drei Geschwindigkeiten des historischen Wandels: „la courte durée“, innerhalb derer sich politische Entscheidungen und ihre Auswirkungen abspielen, „la moyenne durée“, die den langsameren Wandel sozialer und wirtschaftlicher Strukturen charakterisiere, sowie „la longue durée“, die den Wandel geographischer Gegebenheiten auszeichne. Letzterer, so Braudel, vollziehe sich so allmählich, dass er „kaum wahrzunehmen“ sei.1
Siebzig Jahre nach der Veröffentlichung von Braudels Werk erscheint diese Unterscheidung seltsam überholt. Berichte über Gletscherschmelze und Korallensterben verdeutlichen, dass der geographische Wandel direkt vor unseren Augen stattfindet.2 Zugleich scheint das vorherrschende Wirtschaftssystem unserer Zeit, der Kapitalismus, von erstaunlicher Stabilität zu sein. Wie ein berühmtes Diktum aus den 1990er-Jahren besagt, „ist es leichter, sich ein Ende der Welt vorzustellen als ein Ende des Kapitalismus“.3
Inwiefern beide Phänomene zusammenhängen, müsste noch untersucht werden. Fest steht jedoch: Die Auffassung, dass es nahezu unmöglich sei, sich eine Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem vorzustellen, ist ein junges Phänomen. Die Geschichte des Kapitalismus war immer auch eine Geschichte seiner Untergangsfantasien. Dieser Geschichte hat sich der italienische Politikwissenschaftler und Historiker Francesco Boldizzoni angenommen. In seinem 2020 erschienenen Buch „Foretelling the End of Capitalism. Intellectual Misadventures since Karl Marx“ zeichnet er die Prophezeiungen des Endes des Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert nach und versucht daraus Handlungsanweisungen für die Gegenwart abzuleiten. Mittels einer „Autopsie der Prophezeiungen“ (S. 13), so Boldizzoni, möchte er herausfinden, warum die Prognosen gescheitert seien und wie dies wiederum unser Verständnis des Kapitalismus schärfen könne.
In den ersten vier Kapiteln präsentiert Boldizzoni in chronologischer Reihenfolge die Prophezeiungen von Ökonomen, Philosoph:innen und Soziologen seit 1848. Mit Koselleck versteht der Autor die Prophezeiungen als Reaktion auf einen beschleunigten Wandel, der den Zeitgenossen die historische Bedingtheit und damit auch die Endlichkeit des Wirtschaftssystems vor Augen gehalten habe. Die vier Kapitel konzentrieren sich dementsprechend auf Perioden und Räume, die von besonders starken politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen geprägt waren: das viktorianische England, das durch Karl Marx und John Stuart Mill vertreten wird, die Zwischenkriegszeit mit einem Fokus auf John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter, die krisengeplagten 1970er-Jahre mit ihrem neu erwachten Bewusstsein für die Grenzen des Wachstums (der Schwerpunkt liegt hier auf den Schriften Herbert Marcuses und Daniel Bells), sowie die Phase vom Zusammenbruch der Sowjetunion bis zur Finanzkrise 2008. Die Darstellung Letzterer leitet Boldizzoni mit Francis Fukuyama ein, der hier stellvertretend für einen nicht lange währenden „post-Cold War triumphalism“ (S. 228) firmiert, und beschließt sie mit zeitgenössischen Stimmen wie jenen von Paul Mason und Wolfgang Streeck. Daneben finden noch zahlreiche weitere Texte Erwähnung, die das Bild eines sehr weißen und vorwiegend männlichen Kanons jedoch nicht aufbrechen.
Auf der Grundlage dieser Übersicht nimmt Boldizzoni im fünften Kapitel eine Kategorisierung der Prophezeiungen vor und legt Gründe für ihr Scheitern dar. Boldizzoni erkennt eine Hauptgemeinsamkeit der Prophezeiungen, die zugleich den zentralen Grund für ihr Scheitern darstelle: der Fortschrittsglauben. Dieser sei aus den Umwälzungen der Französischen Revolution geboren und von erstaunlicher Dauer gewesen. Nach einer ersten Krise in den 1970er-Jahren komme er seit den 2000er-Jahren allerdings zunehmend an seine Grenzen (S. 227–228).
Die Erkenntnis, dass der Fortschrittsglaube selbst eine zeitlich begrenzte historische Utopie war, eröffne, so Boldizzoni, neue Einsichten. Sie erlaube es, Abschied von deterministischen Zukunftserzählungen zu nehmen und stattdessen den tatsächlichen Garanten der erstaunlichen Stabilität des Kapitalismus zu erkennen: Kultur. Darunter versteht Boldizzoni gesellschaftliche Wertvorstellungen, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben und wie „Kleber“ die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen „Strukturen“ zusammenhalten und reproduzieren würden (S. 259). In diesem Sinn bezeichnet Boldizzoni die „‘mental frameworks‘ of culture“ mit Fernand Braudel als „prisons of long duration”, die eine „pattern maintenance“ bewirken würden (S. 262).
Boldizzoni zufolge erkläre diese Tatsache auch die beträchtlichen Unterschiede zwischen verschiedenen kapitalistischen Systemen. Die „varieties of capitalism“ seien demnach auf unterschiedliche historische Ausgangsbedingungen zurückzuführen. Beispielsweise führt der Autor die größere soziale Gerechtigkeit in Norwegen auf die Tatsache zurück, dass der Feudalismus dort schwächer ausgeprägt war. Den stärkeren Fokus auf Wettbewerb und wirtschaftliches Wachstum in den Vereinigten Staaten beschreibt er wiederum als Folge des Siedlerkolonialismus (S. 260–261). Daraus schließt er einerseits, dass Wandel nur sehr langsam möglich sei – langsamer als es die Propheten eines revolutionären Umsturzes hofften. Andererseits leitet er daraus ab, dass ein allmählicher Wandel eben doch möglich sei und ruft seine Leser:innen in einem mit „Call to Action“ titulierten Abschnitt am Ende des Buches dazu auf, im Rahmen des Möglichen einen realistischen institutionellen Wandel nach sozialdemokratischem Vorbild anzustreben.
Boldizzonis Abhandlung bleibt oft oberflächlich; die Ideen der meisten in Kapitel 1–4 vorgestellten Autoren werden auf nicht mehr als einigen Seiten, andere in nur einem Absatz abgehandelt. Das mag der Motivation des Autors geschuldet sein, dem nicht so sehr an neuen Einsichten über einzelne Denker gelegen ist, sondern der über die Panoramasicht auf Prophezeiungen aus den letzten 170 Jahren einen Beitrag zu einer besseren Zukunft leisten möchte. Boldizzoni versteht sein Buch denn auch als Aufruf, die letztlich fruchtlose Übung der Prophezeiungen zu beenden und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, um das „Leben im Kapitalismus“ (S. 234) zu verbessern. Wie diese beiden Teile des Buchs – die Geschichte der Prophezeiungen (Kapitel 1-4) und der Aufruf zu einem institutionellen Wandel nach sozialdemokratischem Vorbild (Kapitel 6) – zusammenhängen, bleibt allerdings offen.
Die Tatsache, dass der Autor oft recht unterschiedliche Ideen auf wenigen Seiten zusammenfasst, ohne dabei deutlich zu machen, in welchem Bezug die verschiedenen Ideen zueinanderstehen, kann für die Leserin mitunter frustrierend sein. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Offenheit des Kapitalismusbegriffs, mit dem der Autor operiert – eine Definition wird erst im sechsten Kapitel angeboten –, und den raschen Wechsel geographischer Schauplätze. Das erzeugt den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit, auch wenn der Autor zu suggerieren versucht, dass jeder einzelne Beitrag repräsentativ für etwas Größeres sei. Auch dieser Versuch ist allerdings nicht ganz unproblematisch: Hier entsteht das Bild eines ständigen transnationalen Dialogs über den Kapitalismus, in dem Ideen sich verbreiten wie Viren in einer globalisierten Welt. Zwar versucht der Autor die behandelten Prophezeiungen in den größeren historischen Kontext einzubetten, doch bleibt ihre Zirkulation und Rezeption von wirtschaftlichen und politischen Ereignissen wie Krisen und Kriegen seltsam unberührt. „It must be said that by the 1920s the opinion had spread that this milder, well-ordered form of capitalism was something one could live with” (S. 71), heißt es beispielsweise in einem Unterabschnitt über die Entwicklungen im Zuge der Weltwirtschaftskrise. Während Prozesse der Globalisierung und Deglobalisierung durchaus zeitgleich ablaufen können, wäre eine stärkere Kontextualisierung der von Boldizzoni vorgestellten Ideen und ihrer Rezeption gerade in einer Phase, die gemeinhin als Periode der Deglobalisierung verstanden wird, wünschenswert gewesen.4
Trotz dieser Kritikpunkte ist es begrüßenswert, dass mit Boldizzonis Studie nun die erste Zusammenschau der verschiedenen Abgesänge auf den Kapitalismus vorliegt, an die weitere Analysen anknüpfen können. Ob dabei tatsächlich die von Boldizzoni formulierte Frage im Zentrum stehen wird, warum die Prophezeiungen scheiterten, oder aber die Frage, warum der Kapitalismus in den letzten 170 Jahren so viele Prophezeiungen seines Endes motiviert hat, wird sich zeigen. Eine erste Antwort auf die zweite Frage formulierte der kürzlich verstorbene Historiker Thomas Welskopp bereits auf einer Tagung zum Kapitalismus im Jahr 2017: Es sei der Systembegriff, der die zahlreichen Dämonisierungen des Kapitalismus begünstigt habe.5 Tatsächlich operiert auch Boldizzoni mit einer solchen Vorstellung, obwohl er die Verwendung eines Systembegriffs und von Organismusmetaphern an anderer Stelle zurückweist. So beschreibt er den Kapitalismus an einer Stelle als “extraordinary chameleon” und behauptet an anderer: „[I]n its two centuries of existence, capitalism has shown that it does not need clean air to thrive, but only air that is barely breathable” (S. 6, 193). Es ist zu hoffen, dass die Geschichte der Prophezeiungen vom Ende des Kapitalismus, ihrer Implikationen und Gründe in der Forschung weiter diskutiert wird. Boldizzonis Buch bietet hierfür einen guten Ausgangspunkt.
Anmerkungen:
1 Fernand Braudel, The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II, Bd. 1, New York 1972, S. 20.
2 Siehe David Kuchenbuch, Histories in and of the Anthropocene. Commentary, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), S. 739.
3 Frederic Jameson, Future City, in: New Left Review 21 (June 2003), S. 76.
4 Zur möglichen Gleichzeitigkeit von Prozessen der Globalisierung und Deglobalisierung vgl. Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005, S. 97; sowie kürzlich Heidi J.S. Tworek, Communicable Disease. Information, Health, and Globalization in the Interwar Period, in: The American Historical Review 124,3 (2019), S. 813-842, hier S. 814–815, https://doi.org/10.1093/ahr/rhz577 (10.06.2022).
5 „Postkapitalismus? Arbeit, Konsum und Finanzen im digitalen Wandel“, Tagung am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg, 07./08. Juli 2017.