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Titel
Modernes Indien in deutschen Archiven (MIDA). In Memoriam Dietmar Rothermund


Herausgeber
Mann, Michael
Erschienen
Heidelberg 2022: Draupadi Verlag
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Krieger, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Der von Michael Mann herausgegebene Sammelband Modernes Indien in deutschen Archiven (MIDA) stellt eine Würdigung des im März 2020 verstorbenen Dietmar Rothermund dar. Der Doyen der deutschen Indienforschung hatte den Fortgang des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten, gleichnamigen Langfristvorhabens „Das moderne Indien in deutschen Archiven, 1706–1989“ in seinen letzten Lebensjahren mit besonderem Interesse und Wohlwollen verfolgt; und es stellt einen Ausdruck der Verbundenheit dar, dass Herausgeber sowie Autorinnen und Autoren dem großen Gelehrten mit diesem Band ein Zeichen der Anerkennung setzen.

Das Buch gliedert sich in sechs weitgehend aus dem Berlin-Göttinger MIDA-Vorhaben hervorgegangene Aufsätze, die damit gleichzeitig die große inhaltliche und zeitliche Breite des Projektes dokumentieren. Zuvor widmet sich der Herausgeber in einer Einleitung Dietmar Rothermunds Forschungen zur deutsch-indischen Geschichte. Die Themen der weiteren Beiträge spiegeln die methodische Vielfalt sowie Multiperspektivität des MIDA-Projektes wider und führen die Leserin wie den Leser aus der Geschichte der jüngsten Jahrzehnte des geteilten Deutschlands zurück in das Zeitalter des Pietismus. Dem Wesenskern des MIDA-Vorhabens entsprechend nutzen alle Aufsätze teils bis dahin noch ungehobene Schätze aus deutschen und auswärtigen Archiven.

Zunächst fragt Alexander Benatar nach der Relevanz der Krise um die Gründung des Staates Bangladesch 1971 für das außenpolitische Selbstverständnis beider deutscher Staaten. Dabei gelangt er zu der bemerkenswerten Erkenntnis, dass die jeweilige Position gegenüber Südasien zu Beginn der 1970er-Jahre nicht automatisch die Gesetzmäßigkeiten des Kalten Krieges bediente, sondern dass sich darin durchaus auch eigenständige außenpolitische Positionen der Bundesrepublik und der DDR äußerten. Anandita Bajpai widmet sich in ihrem Beitrag „Herzliche Wellenlängen“ dem Einfluss des DDR-Senders „Radio Berlin International“ auf die Generierung eines spezifischen Indien-Bildes in der Deutschen Demokratischen Republik seit den 1960er-Jahren. Dabei nutzt sie Quellen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv und selbstgeführte Zeitzeugeninterviews. Einerseits taucht sie auf diese Weise tief die DDR-Alltagskultur ein, beschäftigt sich andererseits ebenso wie Benatar mit den großen außenpolitischen Linien. Aus der Zeit des Kalten Krieges geht es zurück in die Weimarer Republik, in deren Kontext Ravi Ahuja die Wahrnehmung der indischen Arbeiterschaft durch deutsche Gewerkschaftler untersucht. So analysiert er die Wirkung der 1928 nach einer Delegationsreise von Franz Josef Furtwängler und Karl Schrader unter dem Titel „Das werktätige Indien“ vorgelegten Publikation im weiteren deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftskontext. Die Veröffentlichung stellt ein bemerkenswertes Spiegelbild eines wachsenden deutschen Interesses an gegenwartsbezogenen Indien-Themen jenseits der traditionellen Indologie in den 1920er-Jahren dar, wie es später auch von Rothermund gepflegt wurde. Dabei fällt das Bemühen um Lösung von zeittypischen rassistischen Diskursen ebenso auf wie die Kritik am Kastenwesen.

Die drei letzten Aufsätze tauchen wiederum in das 18. und 19. Jahrhundert ein. Unter dem Titel „Ich bin ein Indianer“ untersucht Heike Liebau „Aneignungsstrategien und Distanzerfahrungen in Prozessen missionarischer Selbst- und Fremdwahrnehmung“ am Beispiel von Selbstzeugnissen aus der Hand deutscher Missionare. Dabei arbeitet sie die Mission als Unternehmen heraus, das in Indien keineswegs so geradlinig funktionierte, wie es die gedruckten Darstellungen daheim gern glauben machen wollten. Vielmehr wirkte jene in einer von Abhängigkeiten gegenüber dem kolonialen Staat und kolonialer Hierarchien geprägten Umgebung, und die Generierung von Wissen und Erfahrung fand in einem asymmetrischen Kontext statt. Asymmetrie wirkte aber nicht nur in der Welt der Mission, sondern auch im Bereich der Naturforschung, wie Tobias Delfs in seinem Beitrag über den aus Böhmen stammenden Naturforscher Johann Wilhelm Helfer herausarbeitet. Wie auch für manch anderen Gelehrten aus dem deutschsprachigen Raum stellte gerade Indien das erhoffte Karrieresprungbrett dar, das sich in der Realität aber oftmals als unwägbar und risikobehaftet erwies. Mit dem von Dietmar Rothermund formulierten Konzept der „unsicheren Transaktionen“1 gelingt es Delfs, Helfers disparates Leben – und auch das seiner Frau – in einen methodischen Rahmen zu fügen. Im letzten Beitrag setzt sich der Herausgeber Michael Mann mit seiner großen Erfahrung und Kompetenz im Feld der indischen Wald- und Forstwirtschaft mit dem aus Heidelberg stammenden Franz Wrede auseinander, der sich als Soldat und Kaufmann in den Diensten der niederländischen und der britischen Ostindienkompanie profilierte, um sich später mit seiner tiefen Indien-Erfahrung einen Namen zu machen. Vor dem Hintergrund der Bemühungen, den britischen Kriegsschiffbau auf dem Subkontinent zu forcieren, legte jener 1805 eine Denkschrift zur Entwicklung einer geregelten Forstwirtschaft mit einem Schwerpunkt an der Malabarküste vor. Abgeschlossen wird der Band mit einer kurzen Beschreibung des MIDA-Projektes.

Das Buch stellt ein aktuelles, relevantes Werk der deutschen historischen Indienforschung dar. Alle Aufsätze schöpfen methodisch reflektiert aus dem reichen, im Rahmen des MIDA-Vorhabens erschlossenen Quellenmaterial. Sie belegen in besonders unmittelbarer Weise die vielschichtigen Verflechtungen zwischen Deutschland und Indien innerhalb dreier Jahrhunderte. Allenthalben stellen Autorinnen und Autoren dabei fachliche oder auch sehr persönliche Bezüge zum Geehrten Dietmar Rothermund her – sei es in Form der Erinnerung an ein mit ihm geführtes Interview oder des Verweises auf die fachliche Inspiration, die jener für so manche Forschungsfrage geliefert hat. Es liegt ein gewinnbringendes, erkenntnisreiches Buch vor, das eine Visitenkarte des MIDA-Projektes darstellt und so manche Forschungslücke schließt.

Anmerkung:
1 Dietmar Rothermund, Unsichere Transaktionen in globalen Lebensläufen, in: Bernd Hausberger (Hrsg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006, S. 283–286.