T. Köhler: Die Berichterstattung der schleswig-holsteinischen Presse

Cover
Titel
Die Berichterstattung der schleswig-holsteinischen Presse anlässlich der Wahlen zum Reichstag und zum preußischen Abgeordnetenhaus (1867–1881).


Autor(en)
Köhler, Tobias
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe
Erschienen
Paderborn 2023: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
1.131 S.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lukas Moll, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Berlin

Parlamente sind stets auch „symbolische Ordnungen“. Ihre Macht wird nicht nur durch Gesetze, Verfassungen oder materielle Ressourcen definiert, sie können ihren Machtanspruch nur mit „plausiblen Geltungsgeschichten“1 dauerhaft bewahren. Zur Behauptung dieser „symbolischen Macht“, der „Kraft des Imaginativen“2, sind parlamentarische Institutionen maßgeblich auf die mediale Vermittlung in der Öffentlichkeit angewiesen.3 Der gesamte Akt des Wählens, von Wahlkampf über Stimmabgabe bis zur Verkündung der Ergebnisse, eignet sich dabei besonders für die Analyse politisch-symbolischer Kommunikationsstrategien.

Auch im Deutschen Kaiserreich rückten während der Wahlkampfzeiten das Parlament und seine Wahlkandidaten in den Fokus der Medienberichterstattung. Selbst konservativ bis rechtsliberal orientierte Familienblätter widmeten sich intensiv diesem Thema und ließen dabei sogar die Berichterstattung über die Fürstenhäuser zeitweilig in den Hintergrund treten. Umso erstaunlicher ist der Befund der 2021 von Tobias Köhler bei der Universität Hamburg eingereichten Dissertation, die landes- und regionalgeschichtliche Forschung habe sich bislang kaum mit der „Wechselwirkung zwischen Wahlen und Zeitungen“ (S. 10) beschäftigt.4

Seine äußerst umfangreiche Monografie (einschließlich Anhang mehr als 1.100 Seiten) widmet sich eben jener attestierten Forschungslücke zu den Kommunikationsbeziehungen während der Wahlkampfzeiten der Jahre 1867 bis 1881. Köhler geht dabei der Frage nach, inwiefern die „verschiedenen Zeitungen der preußischen Provinz Schleswig-Holstein die Wahlkämpfe der Jahre 1867 bis 1881 journalistisch begleiteten bzw. sogar selbst in den Kampf um Wählerstimmen eingriffen“ (S. 13). Die Arbeit eröffnet somit einen wichtigen Blick auf die Rolle der Medien als Akteure und Beobachter in den Wahlkampagnen des Kaiserreichs.

In diesem Untersuchungszeitraum analysiert und vergleicht Köhler die Berichterstattung von vier deutschsprachigen Zeitungen („Flensburger Norddeutsche Zeitung“, „Schleswiger Nachrichten“, „Kieler Zeitung“, „Itzehoer Zeitung“) sowie einer dänischsprachigen Zeitung („Flensborg Avis“) in Bezug auf sieben Reichstagswahlen und fünf Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus. Dabei stellt er die Frage, inwiefern sich die Art und Weise der Wahlberichterstattung zwischen dem preußischen Dreiklassenwahlrecht und dem Mehrheitswahlrecht des Reichstags unterschieden.

Köhlers Studie gliedert sich in neun übergeordnete Kapitel. Auf allgemein gehaltenen Überblicksdarstellungen über die gesetzlichen Rahmenbedingungen des Wahl- und Presserechts (S. 38–70) folgt eine ausführliche Auseinandersetzung mit der schleswig-holsteinischen Parteienlandschaft der Jahre 1863–1881 (S. 71–199). Anschließend widmet sich Köhler der „Presselandschaft im 19. Jahrhundert“ (S. 200–222) und führt mit einer gründlichen Vorstellung der betrachteten Zeitungen (S. 232–299) in den Hauptteil seiner Arbeit ein (S. 232–973). Daran anschließend findet sich ein „wahlstatistischer Anhang“ (S. 1024–1053), der hauptsächlich den einschlägigen Handbüchern entnommen ist. Ergänzt wird dies durch ein umfangreiches biografisches Personenverzeichnis (S. 1054–1122) mit mehr als 200 Einträgen sämtlicher Wahlkandidaten, Chefredakteuren und Herausgebern der fünf Zeitungen.

Die Forschungsbefunde der Studie integrieren sich grundsätzlich nahtlos in den allgemeinen Forschungsstand zur Pressegeschichte des Kaiserreichs. Die schleswig-holsteinischen Zeitungen fungierten dabei, wie vom Autor betont, als Anbieter von „Serviceinformationen“, indem sie ihre Leserschaft umfassend über den Wahlablauf, gesetzliche Bestimmungen und administrative Organisationsmaßnahmen informierten. Diese informative Rolle verstärkte sich besonders im Vorfeld der Reichstagswahlen im Vergleich zu den Landtagswahlen nach dem Dreiklassenwahlrecht. Hierbei wurde die Intensität der Wahlkampfberichterstattung im Laufe der Jahre kontinuierlich gesteigert, wobei die Zeitungen verstärkt überregional über die Wahlkämpfe in den verschiedensten Teilen des Reiches berichteten.

Besonders interessant sind Köhlers Ausführungen zum „Negative Campaigning“, „das den Angriff auf die Integrität des Gegners zum Wahlkampfinstrument erhob“ (S. 986). So thematisierte die „Kieler Zeitung“ Ende 1870 den Gesundheitszustand des Nationalliberalen Karl Lorentzen, bezeichnete ihn als „Wendehals“ und „ortsfremden Berliner“. Die „Schleswiger Nachrichten“ veröffentlichten fingierte Leserbriefe, um die Reputation des Linksliberalen Karl Koch zu untergraben.

Köhler legt überzeugend dar, dass die Zeitungsredaktionen eine eigene politische Agenda verfolgten, die sich insbesondere während der Wahlkämpfe in ihrer Berichterstattung widerspiegelte. Die Tatsache, dass sich eine dänischsprachige Zeitung wie die „Flensborg Avis“ für die Kandidaten der dänischen Minderheit einsetzte, mag in diesem Kontext nicht erstaunen. In einer solchen Ausführlichkeit wie in dem zu rezensierenden Werk wurden die Parteinahmen schleswig-holsteinischer Zeitungen jedoch bisher nicht rekonstruiert.

Die Forschungsarbeit Tobias Köhlers ist beeindruckend. Fast minutiös zeichnet er, auch unter Zuhilfenahme von weiteren Quellen wie brieflichen Korrespondenzen, die Wahlkampfberichterstattung der einzelnen Zeitungen nach. Leider geht diese äußerst respektable Detailarbeit ein wenig in der streng chronologischen Nacherzählung der Ereignisse verloren, die für jede der Zeitungen einzeln durchgeführt wird. Durch ihre strikt chronologische Struktur verliert die Studie etwas an Dynamik, besonders wenn es darum geht, die Ergebnisse als mediengeschichtliche Vorgeschichte des politischen Massenmarkts der 1890er-Jahre zusammenzuführen.

Dennoch hinterlässt das Werk von Tobias Köhler insgesamt einen positiven Eindruck. Der Leser erhält ausführliche Einblicke in die Kommunikationsstrategien politischer Akteure im 19. Jahrhundert. Insbesondere für kulturgeschichtliche Studien können diese detaillierten Einblicke in die Wahrnehmungsperspektive des Zeitungspublikums von Nutzen sein. Als Chronologie der Presseberichterstattung über den gesamten Akt des Wählens erweist sich Köhlers Arbeit überdies als wertvolles Nachschlagewerk zur Pressegeschichte Schleswig-Holsteins.

Anmerkungen:
1 Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890, Düsseldorf 2009, S. 15. Zu Institutionen als symbolische Ordnungen und deren Geltungsanspruch vgl. André Brodocz, Behaupten und Bestreiten. Genese, Verstetigung und Verlust von Macht in institutionellen Ordnungen, in: ders. (Hrsg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln 2005, S. 13–36.
2 Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hrsg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, S. 3–52.
3 Andreas Biefang, Die Reichstagswahlen als demokratisches Zeremoniell, in: Andreas Biefang / Michael Epkenhans / Klaus Tenfelde (Hrsg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Düsseldorf 2009, S. 233–270.
4 Die Arbeit orientiert sich inhaltlich und strukturell stark an Peter Steinbach, Die Zähmung des politischen Massenmarktes. Wahlen und Wahlkämpfe im Bismarckreich im Spiegel der Hauptstadt- und Gesinnungspresse, Passau 1990.

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