Titel
Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Schoeller-Häuser


Autor(en)
von Saldern, Adelheid
Reihe
Beiträge zur Unternehmensgeschichte 29
Erschienen
Stuttgart 2009: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Hilger, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

„Die Netzwerkökonomie garantierte zwar bei Weitem nicht den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Unternehmen […], aber sie erhöhte […] die Chancen auf eine ertragreiche Geschäftsentwicklung beträchtlich“, so fasst Adelheid von Saldern die Ergebnisse ihrer Netzwerkanalyse zu der frühindustriellen Eifeler Unternehmerdynastie der Schoeller zusammen (S. 333). Damit wird ein Ansatz aufgegriffen, der in den letzten Jahren eine hohe Forschungskonjunktur erlangt hat. Von diesem Trend wurde auch die Geschichtswissenschaft erfasst. So fand der ursprünglich aus der Soziologie stammende Netzwerkbegriff Eingang in die Wissenschaftsgeschichte, die Bürgertumsgeschichte, die Kulturgeschichte oder die Geschichte der sozialen Eliten.1 Mit dem Siegeszug der „Neuen Institutionenökonomie“ hat die Analyse und Darstellung von Netzen darüber hinaus eine zunehmende Beachtung bei den Wirtschafts- und Unternehmenshistorikern erfahren.2

Die historische Auseinandersetzung mit Familienunternehmen nahm dabei in den letzten Jahren eine Art Vorreiterrolle ein. So entstanden eine Reihe von Untersuchungen, die sich der Netzwerkanalyse als heuristischem Hilfsmittel bedienen, um die Frage nach dem „Erfolgsfaktor Familienunternehmen“ zu lösen.3 Detailstudien hingegen, die die verschiedenen Netzwerkformen sowie ihre vielseitigen Funktionen, aber auch ihre strukturellen Wirkungsgrenzen beleuchten, sind nach wie vor Mangelware.4 Einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke liefert nun Adelheid von Saldern. Sie untersucht die ökonomische Funktion und die kulturellen und sozialen Dimensionen unternehmerischer Netzwerke im frühen 19. Jahrhundert. Dabei übt die Autorin den dreifachen Spagat zwischen „Familien- und Verwandtennetzwerk“, „lokalen und regionalen Netzwerken“ und „regionalen und überregionale Branchennetzwerken“ (S. 313).

Adelheid von Saldern konzentriert sich auf das „regionale Abseits“ (S. 85), die Mittelgebirgsregion der Eifel im Aachen-Dürener Raum, und untersucht mit den Tuch und Papier fabrizierenden Mitgliedern der Schoeller-Familie eine der erfolgreichsten Unternehmergruppen dieser Region. Einen hohen Grad an Aktualität und Innovationspotenzial erlangt die Studie als Brückenschlag zwischen unternehmenshistorischen und kulturhistorischen Fragestellungen. Sie betritt dezidiert Neuland, wenn sie die geschlechterbezogene, typisch „männliche“ Dimension von Netzwerken (S. 23) hinterfragt. Ebenso wegweisend ist der Ansatz, Netzwerke als „Kommunikations- und Informationsraum“ auf der Grundlage der Korrespondenzen ihrer Mitglieder, etwa mit Hilfe der „Schriftkultur“ und Sprachsemantiken, zu analysieren.

Die Arbeit basiert vor allem auf den Beständen der Familien Schoeller und Prym, die unter anderem im Kreisarchiv Düren, im Landeshauptarchiv Koblenz, im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, dem Stadtarchiv Köln und dem RWWA lagern. Sie ist in sechs Kapitel unterteilt, die von Saldern zwei thematischen Blöcken zuordnet. Während im ersten Teil die Analyse des wirtschaftlichen und (halb-)öffentlichen Handelns der Schoellers dominiert und Aspekte der Kapitalisierung, Unternehmensführung und Governance im lokalen Umfeld thematisiert werden, rücken im zweiten Teil die „Kommunikationsräume“ der Schoeller-Akteure in den Fokus, wenn zum Beispiel die Korrespondenzkultur als eines der wichtigsten zeitgenössischen Instrumente zur Netzwerkbildung beleuchtet wird und Strategien wie ‚name dropping‘ (S. 235), Empfehlungen und Auskünfte auf ihren semantischen Gehalt untersucht werden.

Trotz der nicht ganz unproblematischen Quellenlage eröffnet von Saldern damit einen neuartigen Einblick in die Funktionsweise, Struktur und Dynamik unternehmerischer Netzwerke im frühen 19. Jahrhundert. Zu Recht achtet sie auf die besonderen regionalen und lokalen Besonderheiten der einzelnen Standorte des Hauses Schoeller, etwa im Hinblick auf ihre korporativen und institutionellen Gegebenheiten. Sie sind, ebenso wie die verwandtschaftlichen und geschäftlichen Verflechtungen, von grundlegender Bedeutung für das Verständnis einer Netzwerkökonomie, die von Saldern in erster Linie als „Verwandtschaftsökonomie“ (S. 88) versteht. Dies sicherlich zu Recht, wenn man die Dominanz der fünf Schoeller-Unternehmer berücksichtigt. Dennoch hätte der Arbeit ein „Seitenblick“ auf die angelsächsisch dominierte sozialwissenschaftliche Forschung gut getan. Hier hat beispielsweise Mark Granovetter die Bedeutung der ‚weak ties‘ unterstrichen, deren Wirkungsmacht im vorliegenden Falle leider zu blass bleibt.

Von Saldern nimmt die in der neueren Unternehmensgeschichte wichtige Forderung nach Theoriebezogenheit 5 ernst und gibt sich nicht mit einem methodischen Zugang zufrieden. Ihr Konzept der Netzwerkökonomie beruht auf einem Methodenpluralismus, der von der Neuen Institutionenökonomie mit Transaktionskosten- und Prinzipal-Agenten-Theorie über die Bourdieuschen Kapitalsorten und ‚path dependency‘-Überlegungen bis hin zur Bürgertumsforschung und damit verbunden sogar zu Ansätzen der historischen Geschlechterforschung und der historischen Kommunikationsanalyse reicht.

Die Verbindung zwischen theoretischem Ansatz und historischer Empirie erweist sich freilich auch hier als eine der größten Herausforderungen. Adelheid von Saldern wird ihr mit unterschiedlichem Erfolg gerecht. Auf den verschlungenen Pfaden der Schoellerschen Unternehmensführung auf den europäischen Märkten für Tuche und Papier bleibt die übergeordnete Fragestellung immer mal wieder auf der Strecke. Dann dominiert der konventionelle unternehmenshistorische Blick (von von Saldern als „interne Unternehmensgeschichte“ bezeichnet, S. 27), der sich etwa an Fragen der Unternehmensführung, an Beschaffung, Produktion und Absatz sowie Personal oder auch betrieblicher Sozialpolitik „abarbeitet“. Wenn aber die Schoeller-Unternehmer, zum Beispiel auf den europäischen Beschaffungsmärkten für Wolle oder Lumpen oder bei Lohnabsprachen, fast kartellähnliche Netzwerke implementieren (etwa auf S. 108ff.), eröffnet sich ein faszinierendes Anschauungsobjekt. Ein vertiefender analytischer Zugriff auf Entstehung, Wirkungsweise und Konsequenz von ökonomischen Netzwerken kommt in dem jeweiligen historischen Kontext indessen nicht immer zustande. So werden auch die intensiv gepflegten Verbindungen, die die Schoeller-Unternehmer zu Monteuren, Ingenieuren und Maschinenbauern aus ganz Europa unterhielten (S. 158), lediglich skizziert, doch nicht analytisch durchdrungen. Dies geschieht erst viel später auf S. 255f., obgleich auch hier vertiefende Überlegungen zum Zusammenhang von Know-how-Transfer und grenzüberschreitenden Branchen-Netzwerken, so wie sie etwa für die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets angestellt worden sind, leider versäumt werden.6

Trotz des innovativen Anspruchs löst sich die Studie nicht in letzter Konsequenz von altbekannten familienhistorischen Zugängen. Sie verpasst die Chance, die Netzwerke der Schoellers auch visuell zu rekonstruieren, wie dies Margrit Schulte Beerbühl in ihrer 2007 veröffentlichten Habilitationsschrift zu den Netzwerken deutscher Kaufleute in Großbritannien (von Saldern nicht berücksichtigt) eindrucksvoll demonstriert hat.7

Zeitweise scheint die Autorin der Faszination des intimen Betrachtungsgegenstandes einer privaten Familiengeschichte zu erliegen, der aus den ausgewerteten Korrespondenzen offenkundig zu Tage tritt und den von Saldern darum der geschäftlichen Sphäre an die Seite stellt. „Redeweisen über private Angelegenheiten“, die auf S. 278ff. zu den „Frauen der Familie“, den „eigene[n] Kinder[n]“, „Schwangerschaft und Geburten“, „Krankheit und Tod“ oder „Reisen und Geselligkeiten“ Betrachtung finden, gehören in der Tat zu den klassischen Untersuchungsfeldern der Wirtschaftsbürgertumsforschung 8, nicht jedoch in eine ökonomische Netzwerkanalyse. Von Saldern selbst scheint diesen Bruch zu ermessen, etwa wenn Sie auf S. 272 das eigene Vorgehen dezidiert hinterfragt.

Insgesamt verdient von Salderns Studie Bewunderung für den „Mut zur Methode“ und Anerkennung für die zutage geförderten Ergebnisse. Der kleine einschränkende Hinweis, dass „weniger mehr“ sein könnte, sei indessen erlaubt. Im vorliegenden Falle hätte auf den einen oder anderen methodischen Zugriff wie auch Themenstrang zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf neue Themengebiete verzichtet werden können. Zu Letzteren gehören zum Beispiel von Salderns Überlegungen zu „Emotion und Kalkül“ (S. 276) ebenso wie die Bedeutung von Netzwerken als selbstregulative Ordnungssysteme im Rahmen lokaler ‚governance‘. Es sind Aspekte wie diese, mit denen Adelheid von Salderns Studie das Terrain für zukünftige unternehmenshistorische Forschungen bereitet.

Anmerkungen:
1 Heiner Fangerau / Thorsten Halling (Hrsg.), Netzwerke. Allgemeine Theorie oder Universalmethapher in den Wissenschaften? Ein transdiziplinärer Überblick, Bielefeld 2009.
2 Douglas C. North, Theorie des institutionellen Wandels, Tübingen 1988; Hartmut Berghoff, Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007; Margrit Schulte-Beerbühl, Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung 1660-1818, München 2006.
3 Schulte Beerbühl, Deutsche Kaufleute in London, S. 16.
4 Siehe dazu den Workshop Netzwerkanalyse, der seit einem Jahr in regelmäßigen Abständen stattfindet: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=14409> (30.12.2010).
5 Siehe etwa Hartmut Berghoff, Wozu Unternehmensgeschichte? Erkenntnisinteressen, Forschungsansätze und Perspektiven des Faches, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 49 (2004), S. 131-148.
6 Vgl. etwa Thomas Schmidt-Rutsch, William Thomas Mulvany: ein irischer Pragmatiker und Visionär im Ruhrgebiet, 1806-1885, Köln 2003; Hans Seeling, Wallonische Industrie-Pioniere in Deutschland. Historische Reflektionen, Lüttich 1983; Susanne Hilger, Netzwerke der Industrialisierung. Düsseldorf als Wirtschaftsstandort im 19. Jahrhundert, in: Susanne Anna (Hrsg.), Überschreitungen. Das Wechselspiel von Wirtschaft und Kunst im 19. Jahrhundert, Düsseldorf 2009, S. 9-23.
7 Schulte Beerbühl, Deutsche Kaufleute, S. 334, 340.
8 Ulrich S. Soénius, Wirtschaftsbürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert: die Familie Scheidt in Kettwig, 1848-1925, Köln 2000; Carola Groppe, Der Geist des Unternehmertums: eine Bildungs- und Sozialgeschichte. Die Seidenfabrikantenfamilie Colsman (1649-1840), Köln 2004.