Cover
Titel
Schicksalsorte Österreichs.


Autor(en)
Sachslehner, Johannes
Erschienen
Wien, Graz, Klagenfurt 2009: Styria
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Gröller, Graz

Ein in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen schon seit längerem und auch zur Zeit populäres Thema ist jenes der Erinnerungs- und Gedächtnisorte, die zumeist im umfassenden Sinne Pierre Noras verstanden werden. Der in Wien als Verlagslektor tätige Johannes Sachslehner legt seinem Buch jedoch ausschließlich konkrete geographische Orte zugrunde, womit er „ein[en] Beitrag zur Topographie österreichischer Erinnerungen und zu den Kristallisationspunkten des kollektiven österreichischen Gedächtnisses“ (S. 10) liefern und anhand dessen er ein an sich komplexes Thema allgemeinverständlich erörtern möchte. Diese von ihm als „Schicksalsorte“ bezeichneten Stätten liegen – der Intention einer erfundenen respektive konstruierten Tradition1 einer „mehr als tausendjährigen Geschichte [Österreichs]“ (Klappentext) folgend, die ausgeht von „jene[m] denkwürdige[n] 1. November 996, an dem [...] ein erstes Mal [Ostarrîchi] erwähnt wird“ (S. 17) – allesamt innerhalb der gegenwärtigen Grenzen der heutigen Republik Österreich.

Die Aneinanderreihung der einzelnen Texte zu den verschiedenen „Schicksalsorten“ erfolgt unter chronologischen Gesichtspunkten. Vorangestellt ist aber zunächst die provokante Frage „Erinnern wir uns zu viel?“, wobei man sich zu einem gewissen Teil an Nietzsches Ausführungen zur „blinden Sammelwut“ im Zuge einer antiquarischen Historie erinnert fühlt.2 Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage dient als Einleitung zur Thematik des kollektiven Gedächtnisses auf der Grundlage von Maurice Halbwachs’ posthum publiziertem Werk „La mémoire collective“.3

Anschließend geht Sachslehner konkret auf die Bedeutung der Landschaften und Orte zum Beispiel als mythologische Stätten ein, wobei sein Betrachtungszeitraum mit der Zeit der Kelten beginnt, ehe er dann kurz die entsprechenden Entwicklungen während der römischen Epoche(n) bis hin zum Werden der österreichischen Länder im Mittelalter skizziert. Von diesem Zeitabschnitt ausgehend folgen dann die kurzen Schilderungen jener Ereignisse, die „de[n] Speicher des kollektiven Österreich-Gedächtnisses [füllen] [...] [und wodurch] das Bewusstsein [wächst], einer ‚Schicksalsgemeinschaft’ anzugehören“ (S. 19).

Als erstes diesbezügliches Ereignis präsentiert der Autor die Festsetzung des englischen Königs Richard Löwenherz auf Burg Dürnstein 1192/93. Es folgen die Niederlage des Přemysls Ottokar gegen Rudolf von Habsburg in der Schlacht von Dürnkrut und Jedenspeigen 1278, die Ermordung von über einhundert „Ketzerinnen“ und „Ketzern“ durch die Inquisition in Steyr 1397, der durch äußere Umstände verursachte Massenselbstmord zahlreicher Jüdinnen und Juden am Wiener Judenplatz 1420, die Doppelhochzeit der Enkel Kaiser Maximilians I. im Wiener Stephansdom 1515, das sogenannte „Frankenburger Würfelspiel“ 1625, der Sieg über ein osmanisches Heer bei Mogersdorf/St. Gotthard 1664, das Massaker am Marktplatz von Perchtoldsdorf 1683, die Niederlage des Heeres von Kara Mustafa vor Wien 1683, der Tiroler Sieg bei der Pontlatzer Brücke 1703, der Kuruzzenüberfall auf Zistersdorf 1706, das „Pongauer Salzlecken“ 1731, die Schlacht von Aspern 1809, die Kämpfe am Bergisel 1809, der Einigungsparteitag der österreichischen Sozialdemokratie in Hainfeld 1888/89, der Mord/Selbstmord von Mary Gräfin Vetsera und Kronprinz Rudolf im Jagdschloss in Mayerling 1889, die Unterzeichnung der Kriegserklärung durch Kaiser Franz Josef I. in der Kaiservilla in Bad Ischl 1914, die Unterzeichnung der Verzichtserklärung durch Kaiser Karl I. in Schloss Schönbrunn 1918, der gewaltsame Zusammenstoß zwischen dem Republikanischen Schutzbund und der Heimwehr in Schattendorf 1927, die Hinrichtung von Koloman Wallisch in Leoben 1934, die Rede Adolf Hitlers auf dem Wiener Heldenplatz zum sogenannte „Anschluss“ Österreichs 1938, die Deportation von Jüdinnen und Juden vom Bahnhof Aspang 1939-1945, die Massenmorde im KZ Mauthausen 1938-1945, die Hinrichtungen im „Grauen Haus“ in Wien 1938-1945, die Morde im Kreuzstadl Rechnitz 1945, die Unterzeichnung des Staatsvertrags im Schloss Belvedere 1955 sowie der Weg des ungarischen Flüchtlingsstroms über die Brücke von Andau 1956. Beschlossen wird das Buch durch eine kurze Literaturauswahl.

Der Autor Johannes Sachslehner folgt mit dieser Publikation seiner Intention „ein ebenso unterhaltsames wie informatives Lesebuch [zusammenzustellen], das Anstoß zu kritischer Erinnerungskultur und lebendigem Geschichtsbewusstsein geben möchte.“(Klappentext) Dieses Vorhaben kann man als durchaus gelungen bezeichnen, da in diesem Buch sowohl „Klassiker“ der österreichischen Geschichte, als auch einige weniger bekannte Episoden behandelt werden, die dem Leser und der Leserin teils in launiger Leichtigkeit, teils in pathetischer Schwere – je nach Situation -, stets aber in guter Lesbarkeit präsentiert werden. Unterstützt wird dies durch die hohe Qualität der Abbildungen, die in einem qualitativ sinnvollen Maß den Text unterstützen und so zu einer gelungenen Illustration der Geschehnisse beitragen.

Leider beinhaltet dieses „Lesebuch“ auch einige Ungenauigkeiten, wobei manche durch eine sorgfältigere Lektorierung leicht vermeidbar gewesen wären.4 Andere wiederum basieren auf ungenauen Recherchen oder der dem Aufbau des Buches geschuldeten zwangsläufigen Verknappung der Darstellung.5 Zudem wäre es wohl angemessen gewesen, dass in jenen Fällen, in denen Zitate als Kapitelüberschriften gewählt wurden, diese durch das Setzen von Anführungszeichen kenntlich gemacht worden wären.6

Alles in allem mindern die oben genannten negativen Kritikpunkte die Qualität des Buches, welches gemäß seiner Konzeption als allgemeinverständliches Lesebuch populärwissenschaftlich erstellt und flüssig geschrieben ist, nur in geringem Maße, weswegen es als Lektüre für Personen mit einem gewissen Geschichtsinteresse durchaus geeignet scheint. Zumal, da es den selbst gefassten Vorsatz des Anstoßes zur Vermittlung eines lebendigen Geschichtsbewusstseins in dieser Hinsicht sicherlich erfüllt. Ob dieses Buch allerdings auch seine zweite Zielsetzung umsetzen kann, nämlich einen Impuls zu einer kritischen Erinnerungskultur zu bieten, sei dahingestellt.

Anmerkungen:
1 Zur Thematik der „invented tradition“ vgl. Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.
2 Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in: Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke in elf Bänden. 2. Bd., München 1977, S. 73-143.
3 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967.
4 Z.B. ein Kongruenzfehler (S. 17) oder eine fehlende Maß-Angabe (S. 128). Es irritiert auch, wenn im Zusammenhang mit Maximilian I. zwar sein Biograf Hermann Wiesflecker im Text mehrfach genannt wird (S. 71f.), bibliographische Angaben aber im darauffolgenden Literaturverzeichnis fehlen.
5 So verwechselt der Autor im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker US-Präsident Woodrow Wilson mit einem seiner Amtsvorgänger, James Monroe (S. 227). Des weiteren ist die Aussage Sachslehners, die Habsburger wären von 1276 bis 1918 die Herren Wiens „mit einigen kaum nennenswerten Unterbrechungen“ (S. 43) gewesen angesichts etwa der dortigen Residierung z.B. eines Matthias Corvinus zumindest zu hinterfragen. Im Zusammenhang mit dem Justizpalastbrand am 15. Juli 1927 ist anzumerken, dass es Karl Seitz und Julius Deutsch (und nicht Otto Bauer, S. 240) waren, die vor Ort versuchten, die aufgebrachte Menge zu beruhigen.
6 Dieses Fehlen sorgt beispielsweise bei dem Kapitel über den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland für Irritation, da neben einem Bild der versammelten Menschenmenge und NS-Formationen auf dem Wiener Heldenplatz am 15. März 1938, die Aussage „Der schönste Tag“ eben ohne Anführungszeichen steht (S. 250f.).

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