Über Julius Hirsch erschienen bereits zwei Biografien, in denen die meisten wichtigen Daten aus dem Leben des jüdischen Fußballspielers dokumentiert sind.1 Hirschs Karriere ist untrennbar mit dem Karlsruher Fußballverein (KFV) der Kaiserzeit verbunden. Auch zur „Fußballhochburg Karlsruhe“ konnte Werner Skrentny auf frühere Forschungen zurückgreifen.2 Dennoch gelingt es seiner Biografie, neue Details über Karriere und Schicksal Hirschs zu recherchieren und mit einer ebenso ausführlichen wie spannenden Analyse der Rezeption des Spieleridols der Kaiserzeit in den Medien der Jahre vor und nach 1945 abzurunden.
Der 1892 geborene Julius Hirsch ist neben Gottfried Fuchs der einzige bekannte jüdische Fußballnationalspieler Deutschlands, was seine Sonderstellung in der Sportgeschichte begründet. Hirsch spielte von 1902 bis 1913 und von 1919 bis 1924 beim KFV. Unterbrochen wurde diese Zeit durch die Kriegsjahre und ein Engagement bei der Spielvereinigung Fürth 1913/14 und 1919. Mit beiden Vereinen errang Hirsch die Deutsche Fußballmeisterschaft (1910 und 1914). Von 1911 bis 1913 hatte er in der Nationalmannschaft einen Stammplatz. Er vertrat sieben Mal die Farben des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), unter anderem bei den Olympischen Spielen in Stockholm 1912. Ebenso wie seine treu zum Kaiserhaus stehenden Brüder Leopold, Max (Kriegsfreiwilliger) und Rudolf nahm Julius Hirsch am Ersten Weltkrieg teil, aus dem alle, mit Ausnahme des 1918 gefallenen Leopold, mit Orden ausgezeichnet zurückkehrten. Die Hirsch-Brüder empfanden, ebenso wie zahllose andere deutsch-national eingestellte Juden, ihre fortschreitende Entrechtung in der NS-Zeit als eine ebenso tiefe wie vollkommen unverständliche Demütigung. Als Julius Hirsch seinem Fußballverein am 10. April 1933 den Austritt erklärte, um ihm nicht zur Last zu fallen, erinnerte er an seinen und seiner Brüder Frontkämpfereinsatz sowie an zahllose andere „national denkende und auch durch die ‚Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene‘ (sic) deutsche Juden“ (S. 163). Trotz des um sich greifenden Antisemitismus und des Ausschlusses jüdischer Turner und Sportler aus den Vereinen wollte der KFV, was in der Forschung oft übersehen wurde, die Austrittserklärung nicht akzeptieren und bedauerte sie. Für den vaterländisch gesonnenen Juden Hirsch war es folgerichtig, sich nach dem Austritt keinem Verein der zionistischen Sportorganisation Makkabi anzuschließen, sondern 1934 dem jüdischen Turnclub Karlsruhe 03 (TCK), der im Sportbund Schild des ultranationalen Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten organisiert war, als Spieler und Trainer beizutreten. Mit dem TCK gewann Hirsch 1936 die Badische Meisterschaft des Sportbundes Schild.
Julius Hirsch war im Tuchhandel, in der Herstellung und dem Vertrieb von Flaggen, Bekleidung und Ausrüstung für Militär, Behörden und Sport tätig. Nach dem Konkurs des Familienunternehmens „Deutsche Signalflaggenfabrik“ (seit 1929 „Sigfa-Sport GmbH“) war sein Leben von wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und zunehmender Verzweiflung geprägt. Um seine nicht jüdische Frau und seine beiden Kinder zu schützen, ließ er sich scheiden. Nach einem Suizidversuch wurde er vorübergehend ein Fall für die Psychiatrie und 1943 in Auschwitz ermordet.
Skrentny beschreibt Hirschs Schicksal einfühlsam, aber nie störend emotional. Er schildert Hirsch als einen überaus populären Spieler der Kaiserzeit, der die Titelblätter der Fachpresse schmückte, nach dem ein Wettspielball benannt und über den Zigarettensammelbilder vertrieben wurden, der als Fabrikant in den 1920er-Jahren zu wirtschaftlichem Erfolg gekommen war und sich in der gehobenen Mittelschicht etabliert hatte. Insofern stieß die NS-Rassenpolitik den ehemaligen Sportstar in einen erniedrigenden wirtschaftlichen und sozialen Abstieg, der durch „damnatio memoriae“, die Tilgung seines Namens aus den Annalen des Sports, vollendet werden sollte.
Akribisch recherchiert Skrentny die Versuche der nationalsozialistischen Publizistik, Hirsch und andere jüdische Sportler aus der Erinnerung zu löschen, ein Vorsatz, der aber sehr inkonsequent durchgeführt wurde. Ebenso spannend ist die Darstellung der Rückkehr Hirschs ins Gedächtnis des DFB und der Vereine, für die Hirsch gespielt hatte, in den Jahrzehnten nach 1945. Bereits die populäre, aber ohne jeden fachwissenschaftlichen Anspruch verfasste Darstellung der deutschen Fußballgeschichte durch den DFB-Publizisten Carl Koppehel berücksichtigte Hirsch und andere jüdische Kicker, ohne dabei auf ihr Schicksal in der NS-Zeit einzugehen.3 Dagegen diffamierte die DDR-Sporthistoriografie der 1970er-Jahre beispielsweise den jüdischen Fußballpionier Walther Bensemann als Propagandisten des bürgerlichen „unpolitischen Sports“ und der „kapitalistischen Klassengesellschaft“ (S. 297). Da fundierte Studien zur Fußballgeschichte der NS-Zeit fehlten, konnte Skrentny zufolge die „Fußballgeschichte aus DDR-Sicht“ (S. 297) Ende der 1970er-Jahre auch auf bundesdeutsche Darstellungen übergreifen. Einen Tiefpunkt bietet in dieser Hinsicht zweifelsohne Arthur Heinrichs Buch über den DFB aus dem Jahr 2000.4 Bereits damals waren erste fundierte Erkenntnisse über die maßgebliche Beteiligung jüdischer Bürger an der Gründung und Entwicklung des DFB bekannt, dennoch habe Heinrich dieses wichtige Kapitel unterschlagen, obwohl sein Werk doch eine dezidiert „politische Geschichte“ (S. 302) des Verbandes bieten wollte.
Über Hirschs Biographie hinaus liefert Skrentny neue Detailerkenntnisse für eine Neubewertung der sportpolitischen Rolle, die der ehemalige Nationalspieler, FIFA-Schiedsrichter und DFB-Nachkriegsvorsitzende Peter Joseph „Peco“ Bauwens gespielt hat.5 Demzufolge sei Hirsch bei „seiner Bewerbung um eine Trainerstelle in der Schweiz“ (S. 170) noch 1938 von Bauwens unterstützt worden, wofür sich der nach Kanada emigrierte jüdische Nationalspieler Fuchs 1955 bei Bauwens bedankte.
Zu einem einzigen Thema indes unterbietet Skrentny ohne Not das Niveau seiner ansonsten ausgewogenen Argumentation. Ohne irgendeinen stichhaltigen Beleg liefern zu können, schilt er Kollegen der Sportgeschichte, den Antisemitismus des DFB als „fast legitime“ (S. 325) Haltung in dem Sinn zu rechtfertigen, als seien „die Juden selber schuld“ (S. 324) an der Shoa gewesen. Auch andere Mängel hätten leicht vermieden werden können. Denn leider verzettelt sich Skrentny immer wieder in Nebenthemen, die wenig mit Hirschs Biografie zu tun haben, oder in störende Exkurse, beispielsweise über technische Probleme mit seinem Rechner oder seine emotionalen Befindlichkeiten als Fußballfan. Hier hätten Textstreichungen dem Werk gut getan. Noch ärgerlicher ist das Fehlen von Quellennachweisen, die es dem Leser ermöglicht hätten, den Erkenntnisweg der Darstellung mitzuvollziehen. Wer über die genannten Mängel hinwegzusehen vermag, wird Skrentnys Hirsch-Biographie mit großem Gewinn lesen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Swantje Schollmeyer, Julius „Juller“ Hirsch. 1892 Achern – 1943 Auschwitz. Deutscher Fußballnationalspieler, Berlin 2007; Gereon Tönnihsen, Julius Hirsch. Ein deutscher Fußballnationalspieler jüdischer Herkunft aus Karlsruhe, Karlsruhe 2008.
2 Vgl. Ernst Otto Bräunche, Fußballhochburg Karlsruhe, in: Ernst Otto Bräunche / Volker Steck (Hrsg.), Sport in Karlsruhe von den Anfängen bis heute, Karlsruhe 2006, S. 168–218.
3 Vgl. Carl Koppehel (Bearb.), Geschichte des Deutschen Fußballsports, Frankfurt am Main o.J. [1954], S. 82, 88–90, 135, 239, 308, 312 u.ö.
4 Vgl. Arthur Heinrich, Der Deutsche Fußballbund. Eine politische Geschichte, Köln 2000; vgl. dazu auch Tönnihsen, Julius Hirsch, S. 20f.
5 Vgl. Franz-Josef Brüggemeier, Zurück auf dem Platz: Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, München 2004, S. 246–253; Nils Havemann, Biographische Studien zur deutschen Fußballgeschichte als Feld wissenschaftlich überholter Kontroversen, in: Michael Krüger (Hrsg.), Erinnerungskultur im Sport. Vom kritischen Umgang mit Carl Diem, Sepp Herberger und anderen Größen des deutschen Sports, Münster 2012, S. 75–99, hier S. 86–89.