Eine Geschichte der Menschenrechte ist dort besonders spannend, wo sie Konflikte von widerstreitenden Konzepten und Bedeutungen zu analysieren sucht. Ramon Leemanns Zürcher Dissertation „Entwicklung als Selbstbestimmung“ bietet genau dies. Leemann fragt, wie die „Entwicklungsstaaten“ im Kräftefeld des Kalten Kriegs versucht haben, „die Menschenrechtsplattform der UNO für die Umgestaltung der Weltwirtschaftsordnung in den Dienst zu nehmen“ (S. 17). Es habe in der Diskussion ein Spannungsverhältnis von „Selbstbestimmung“ und „Entwicklung“ gegeben. Während etwa die westlichen UNO-Delegationen einen direkten Zusammenhang eher bestritten, hätten die so genannten Entwicklungsländer die Interdependenz beider Konzepte betont.
Leemanns Anspruch ist es, die Debatten um die Implementierung des Rechts auf Selbstbestimmung in die UN-Pakte von 1966 sowie um die Erklärung des Rechts auf Entwicklung als ein Menschenrecht von 1986 zu untersuchen. Dabei nähert er sich den Debatten auf vier Ebenen – einer ideologischen, einer begrifflichen, einer verfahrenstaktischen sowie einer Ebene der Auswirkungen. Als Quellenbasis dienen ihm die Dokumente der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen sowie des Dritten Komitees der Generalversammlung. Hinzu treten die Aufzeichnungen des Plenums, des Zweiten Komitees und die Schlussakten von Menschenrechtskonferenzen.
Seine Arbeit gliedert sich in drei große Blöcke: einen „propädeutischen Teil“ (Kapitel 1 bis 5), einen „Hauptteil“ (Kapitel 6 bis 8) und einen „Schluss“ (Kapitel 9 sowie Anhänge und Bibliografie). Nach der Einleitung liefert Leemann in den Kapiteln 2 bis 4 die Grundlagen für seinen Analyseteil. Im zweiten Kapitel klärt er die Begriffe „Kolonie“ und „Entwicklungsstaat“. Er stellt fest, dass der Terminus „Kolonie“ besonders von den sozialistischen Staaten und der „Dritten Welt“ inkriminiert wurde. Der Begriff „Entwicklung“ sei dagegen ein Differenzbegriff; er beschreibe einen Zustand, der erst noch erreicht werden müsse. Die Frage der „Entwicklung“ wurde seitens der „Entwicklungsländer“ früh mit der Dependenztheorie verbunden. Diese sieht die Ungleichheit zwischen ökonomischen Zentren und Peripherie in einer unfairen Weltwirtschaftsordnung begründet. Im dritten Kapitel widmet sich Leemann dem zeitgenössischen „Fachdiskurs“ und den dort relevanten Deutungen. Leemann spricht die „Synthesetheorie“ an, in der argumentiert wurde, dass das Recht auf Entwicklung eine Synthese aus bereits bestehenden Menschenrechten darstelle und sich somit kein Mehrwert ergeben werde. Er zeigt, wie der aus Ägypten stammende Völkerrechtler Georges Abi-Saab auf eine ökonomische Dimension des Selbstbestimmungsrechts abzielte, die über das Recht auf Entwicklung abgedeckt werde. Den Unterstützern sei es dabei nicht um eine Abschaffung von ökonomischer Interdependenz, sondern von wirtschaftlicher Abhängigkeit gegangen. Im vierten Kapitel präsentiert Leemann drei Modelle der Relation von Entwicklung und Selbstbestimmung – das koloniale, das antikoloniale und das postkoloniale. Das fünfte Kapitel ist der „Menschenrechtssetzung in der UNO“ gewidmet.
Kapitel 6 ist das erste und zugleich knappste Hauptkapitel der Arbeit. Es befasst sich mit der Diskussion um die UNO-Charta von 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Darin werden die Streitpunkte zwischen politischer und ökonomischer Menschenrechtsauffassung nochmals deutlich – etwa wenn es um die Rechte auf „Fortschritt“ und besseren Lebensstandard ging. Für westliche Diplomaten habe ein Unterschied bestanden zwischen Menschenrechten sowie den Erfordernissen für Entwicklung und ein erfülltes Leben. Aber auch an der Frage von Eigentumsrechten entspann sich der Streit. Diskutiert wurde etwa ein Vorschlag der chilenischen Delegation für einen Mindestanspruch auf Eigentum. Stattdessen einigte man sich auf die Formulierung, dass jeder das Recht habe, allein oder mit anderen Eigentum zu besitzen.
Sehr anschaulich kann Leemann im siebten Kapitel darlegen, wie das Recht auf Selbstbestimmung von der afghanischen und saudischen Delegation 1950 ins Spiel gebracht sowie von afrikanischen, asiatischen, südamerikanischen und speziell kommunistischen Delegationen in den Debatten gehalten wurde. Dafür habe es verschiedene Motive gegeben. Zwei wesentliche Ziele seien die Schaffung neuer Staaten und internationaler Grenzen, aber auch die Bestätigung alter Staaten gewesen. Großer Streit entspann sich dabei um die Frage, was ein „Volk“ bzw. was das Rechtssubjekt des Selbstbestimmungsrechts sein solle. Die Menschenrechtskommission wurde so zu einem prestigereichen Austragungsort der Debatte um das Recht auf Selbstbestimmung. Die westlichen Delegationen hätten alle Register gezogen, um die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts in die Internationalen Menschenrechtspakte von 1966 zu verhindern. Sie hätten ihren Einsatz für Klarheit bei den Menschenrechtsformulierungen immer dann vergessen, wenn es um Recht ging, dass ihnen selbst nicht passte.
Dem achten Kapitel hat Leemann die mit Abstand größte Aufmerksamkeit geschenkt. Hier erörtert er die UN-Debatten um das „Recht auf Entwicklung“ auf dem Weg zu dessen Deklaration von 1986. Als erster habe der senegalesische Außenminister Thiam während einer Plenarsitzung der UN-Generalversammlung 1966 vom „Recht auf Entwicklung“ gesprochen. Zuvor hatten US-Präsident Kennedy und die UNO Anfang der 1960er-Jahre eine „Dekade der Entwicklung“ ausgerufen. In dem Maße, wie die tatsächliche Entwicklung im Laufe des Jahrzehnts enttäuscht habe, hätten die Nationen der „Dritten Welt“ das Thema mit den Menschenrechten zu verknüpfen versucht. Dabei sei es ein leitender Topos in der UNO geworden, soziale und kulturelle Menschenrechte als Voraussetzung für politische Menschenrechte zu sehen. Die westlichen Delegationen hätten dagegen befürchtet, es komme zur Abwertung der politischen Rechte. Dem Westen erschien der Kapitalismus als Bedingung für ökonomische Entwicklung und die Achtung der politischen Rechte als Voraussetzung für einen steten Investitionsfluss. Während vor der Dekolonisation die Kolonialmächte auf die fehlende Entwicklung der Kolonien hinwiesen, um die eingeschränkte Geltung von Menschenrechten dort zu begründen, hätten die Entwicklungsländer in den 1970er-Jahren die nun von den ehemaligen Kolonialmächten angemahnte, mangelnde Umsetzung von Menschenrechten mit der ausbleibenden ökonomischen Entwicklung in den eigenen Ländern erklärt.
Einige europäische Länder – etwa die Niederlande, Frankreich und Belgien – seien bereit gewesen, Probleme der damaligen Weltwirtschaftsordnung anzusprechen. Die USA und die Bundesrepublik hingegen lehnten dies ab. Das Sezessionsrecht wiederum wurde von keiner Seite thematisiert. Stattdessen sei es Konsens gewesen, dass auch Minderheiten an den Früchten der Entwicklung teilhaben sollten. Das Bemühen um die Deklaration des „Rechts auf Entwicklung“ stand 1984 gleichwohl vor dem Scheitern. Weder die Sowjetunion noch die USA waren offen für Kompromisse bei den Begriffen „Entwicklung“, „Selbstbestimmung“, „Souveränität“ und bei der Diskussion um eine Neuordnung der Weltwirtschaft. Schließlich übernahmen Jugoslawien und Kuba im Frühjahr 1985 die Initiative. Die jugoslawische Delegation lieferte einen Entwurf, der ohne große Änderungen in die finale Version der Erklärung überging. Deren Verabschiedung stellte für Kuba und Jugoslawien einen diplomatischen Erfolg dar.
Leemann schließt im Fazit mit zwei Fragen. Haben die „Entwicklungsstaaten“ ihre Ziele erreicht? Zwar hätten sie die Anerkennung des „Rechts auf Entwicklung“ als Menschenrecht erwirkt, jedoch ohne zu wissen, was danach folgen sollte – zumeist blieb es ein utopisches Steuerinstrument der hineinprojizierten Wünsche. Die zweite Frage lässt der Autor bewusst offen, als Impuls für weitere Diskussionen: Kann man die Weltwirtschaftsordnung über die Ausarbeitung von Menschenrechten beeinflussen?
Ramon Leemann ist ein sehr detaillierter Beitrag zur Erforschung der Kulturgeschichte der Menschenrechte in der UNO gelungen, der gerade dadurch besticht, dass er die Debatten aus der Perspektive der „Non-Aligned Nations“ analysiert. Dennoch seien zum Schluss zwei kleinere Kritikpunkte genannt. Erstens vernachlässigt Leemann etwas den Kontext und die Logik des Ost-West-Konflikts. So verschließt sich die Arbeit vor der Frage, warum gerade die 1960er-Jahre als „Dekade der Entwicklung“ proklamiert worden waren und warum die Entwicklungshilfe bzw. „Foreign Aid“ nun einen Durchbruch in den Industriestaaten erlangte. Auch die Frage der Bewertung des Rechts auf Eigentum wäre im Zusammenhang mit der Debatte um das Recht auf Entwicklung vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs stärker zu diskutieren gewesen. Andererseits zeigt Leemanns Analyse, dass die Deklaration für das Recht auf Entwicklung an einer reinen Ost-West-Auseinandersetzung gescheitert wäre, dass die Betonung der Nord-Süd-Achse also wohl begründet ist. Mein zweiter Kritikpunkt: Leemann thematisiert nicht die modernisierungstheoretischen Ansprüche der westlichen Staaten. Hier wäre etwa die Frage spannend gewesen, warum diese nicht mit den Prämissen von Entwicklung in der „Dritten Welt“ versöhnbar waren bzw. versöhnbar sein durften. Diese Einwände schmälern jedoch nicht den Gesamteindruck, dass das Buch ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der internationalen Debatte um die Menschenrechte seit 1945 ist. Eine weniger kleinteilige und weniger auf die Logik der untersuchten Gremien fixierte Gliederung hätte die Arbeit allerdings deutlich attraktiver machen können.