Der Publizist und Historiker Götz Aly hat immer wieder die historische Fachwelt mit Forschungen zu den nationalsozialistischen Massenverbrechen bereichert. Seine Beiträge zu seinem ‚Urthema‘, der NS-„Euthanasie“, hat er nun in einem Buch zusammengefasst. Götz Aly hatte Anfang der 1980er-Jahre wichtige neue Quellen zu Planung und Ablauf der NS-„Euthanasie“ erschlossen, die über die im Kern auf den Ermittlungsunterlagen der Frankfurter Staatsanwaltschaft unter Fritz Bauer zusammengetragenen Faktenrekonstruktionen, wie sie im wichtigen Buch des Publizisten Ernst Klee1 präsentiert wurden, hinausreichten.
Götz Aly steigt mit einer Reflexion über die aufgrund der deutschen Archiv- und Datenschutzgesetzgebung öffentlich nicht frei verfügbaren Namen der Opfer der NS-„Euthanasie“-Aktion „T4“ ein. Hierin sieht er – und viele ausländische Kollegen – einen Beleg für die weitergeltende Tabuisierung des Massenmordes an psychisch Kranken und Behinderten in Deutschland, die nicht wie andere NS-Opfer behandelt würden. Er spricht sich dafür aus, die Veröffentlichung der Namen von T4-Opfern durch Hagai Aviel, der damit die bundesdeutsche Legalität souverän missachtete, zu würdigen, weil diese Handlung das Potential habe, zu einem legitimen Denkmal für die Ermordeten zu werden. Götz Aly geht es um die Aktualität eines historischen Themas, die er durch eine Modellrechnung unterstreicht, wonach die von ihm angenommenen 200.000 Opfer der NS-„Euthanasie“ mit rund zehn Millionen heute lebenden Deutschen (und Österreichern) verwandt seien.
Aly konstruiert die NS-„Euthanasie“ über die Vorgeschichte der „Idee einer säkularisierten Welt“ (S. 21) und kommt schnell zu Stimmen auch sozialistischer Ärzte, die sich für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aussprachen. Er springt dann zur Denkschrift von Hitlers Leibarzt Theo Morell vom Sommer 1939 über ein mögliches Gesetz zur „aktiven Sterbehilfe“, in dem wesentliche Kriterien für den Mord an kranken und behinderten Menschen festgelegt wie auch eine ökonomische Begründung gegeben wurde. Nicht die Eugenik und nationalsozialistische „Erbhygiene“ waren nach Aly für die NS-„Euthanasie“ verantwortlich sondern blanker Materialismus (S. 60–62).
Hier nähert er sich Erkenntnissen der Forschung der letzten zwanzig Jahre, die insbesondere das ökonomistische und utilitaristische Motiv zum Kranken- und Behindertenmord in der Kriegszeit verstärkt in den Vordergrund geschoben haben.2 Allerdings sieht er seine Forschungen am Anfang dieser Auffassung und legt nahe, dass spätere Forschende, die nach der Ablehnung seines DFG-Forschungsprojekts 1983 über die NS-„Euthanasie“ forschten, von ihm abgeschrieben haben. Dass es auch diskursgeschichtliche Verbindungen zwischen der Eugenik- und der Euthanasiedebatte gegeben hat, lässt er unberücksichtigt.
Eines seiner zentralen und titelgebenden Erkenntnisse ist die unausgesprochene Zustimmung eines Großteils der Handelnden, der Bevölkerung und der Angehörigen der Opfer zu den Morden. „Die Geheime Reichssache Euthanasie, die doch öffentlich war, bestand in einer Offerte an jeden einzelnen Volksgenossen, an die Verwandten der Opfer und an die mittelbar beteiligten Ärzte, Pfleger, Schwestern und Verwaltungsangestellten, sich individuell aus der Verantwortung zu stehlen.“ (S. 34) Als Belege für solches „das Gewissen erleichterndes Komplizentum (S. 34)“ führt er eine Umfrage des sächsischen Anstaltsleiters Ewald Meltzer aus den 1920er-Jahren an, die auch von den Tätern zur Legitimation ihres Tuns propagandistisch im Krieg benutzt wurde. Demnach hätten sich über 70 Prozent der Angehörigen mit der Beseitigung ihrer Verwandten bereit erklärt, wenn sie denn nicht direkt damit konfrontiert würden. Einzelne von ihm zitierte Briefe von Angehörigen aus den 1940er-Jahren bestärken seine Sicht.
Götz Aly beschreibt die unterschiedlichen NS-„Euthanasie“-Aktionen wie die sogenannte „Kindereuthanasie“, die Erstickung von Anstaltspatienten im Kohlenmonoxidgas zwischen Januar 1940 und August 1941, die Morde zu Kriegsbeginn im Zusammenhang mit der Umsiedlung von Baltendeutschen und Südtirolern oder auch die zweite Phase der Kranken- und Behindertenmorde nach dem August 1941 als eine zusammenhängende „Aktion T4“, die 1941 nur eine „jähe Unterbrechung“ (S. 174) erfahren habe. Er hat eine im Kern intentionalistische Sicht auf die NS-„Euthanasie“, die er bereits im Frühsommer 1939 als beschlossen betrachtet und deren Durchführung es nur noch im weiteren Verlauf zu verfolgen gelte. Materialistische Motive der Ersparnis, Forschung an den Opfern und die Beseitigung ihrer sterblichen Überreste, wie auch der von ihm bereits 1985 herausgestellte Zusammenhang zwischen Massenmord und Reform der Psychiatrie werden von ihm akribisch nachgezeichnet. Er benennt zwar die begleitenden und beschleunigenden Umstände wie die „Umsiedlung“ der Baltendeutschen und Südtiroler, doch bleibt für ihn jede Mordaktion auf die NS-„Euthanasie“ bezogen, ob sie zur Freimachung von Anstalten für SS-Kasernen, für die Schaffung von Hilfs- oder Ausweichkrankenhäusern oder zur Beseitigung jüdischer Patienten oder KZ-Häftlingen diente. Dies trifft allerdings nicht mehr den Stand der Forschung, die die NS-„Euthanasie“ mittlerweile als vielschichtigeres Geschehen wahrnimmt. So lässt Aly neuere Erkenntnisse über die Opfer der „Aktion T4“, die anhand eines Forschungsprojektes über die rund 30.000 überlieferten Akten gewonnen worden sind, unberücksichtigt.3 Einen unkalkulierten Tod hat es für ihn im Krieg nicht gegeben, nur niederträchtigen Mord, den es aufzuklären bzw. entsprechend zu rekonstruieren gilt als „Vernichtung asozialen Lebens“ (S. 213), „Aussonderung der Unbrauchbaren“ et cetera. Die komplexe Dynamik des Mordgeschehens wird damit nicht erfasst.
Götz Aly beschreibt die neu einsetzenden Krankenmorde der zweiten Phase nach dem August 1941 als aktive Fortsetzung einer Mordpolitik, die über den 1941 zum „Reichsbeauftragten für Heil- und Pflegeanstalten“ bestellten Herbert Linden organisiert wurde, dem er die selbstgeschöpfte Bezeichnung eines „Generalbevollmächtigten für Euthanasieangelegenheiten“ (S. 243) zuschreibt. Dabei bleibt die Ämterkonkurrenz zu dem seit Juli 1942 als „Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen“ auftretenden Karl Brandt unterbelichtet, genauso wie man den Eindruck gewinnt, dass Hilfs- und Ausweichkrankenhäuser oder Sonderanlagen der „Aktion Brandt“ nur der Legitimation des fortgesetzten Kranken- und Behindertenmords gedient hätten. Die Ausblendung der insbesondere regionalen Erforschung der NS-„Euthanasie“, die in den letzten dreißig Jahren geleistet worden ist und die Dynamik des Geschehens zwischen Katastrophenschutzpolitik, Verlegung und Mord erhellt hat, führt offenkundig zu einer solchen Fehleinschätzung.4
Götz Aly folgt in seiner Darstellung der bereits im Rahmen der Forschung stärker akzentuierten Präsentationsform von Einzelschicksalen, die den ansonsten entindividualisierten Opfern ihre Individualität zurückgeben soll. Viele der Einzelgeschichten unterstreichen seine anschauliche Präsentation der Vorgänge. Der Anspruch einer „Gesellschaftsgeschichte“ der NS-„Euthanasie“ wird damit jedoch nicht eingelöst. Aly hat in vielen seiner Arbeiten ausgezeichnete historische Recherche mit gewagten Thesen kombiniert – auch „Die Belasteten“ machen es in diesem Sinn schwer, sich seinen beachtenswerten Erkenntnissen zu öffnen.
Anmerkungen:
1 Ernst Klee, "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt am Main 1983 [Neuauflage 2010].
2 Siehe Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003.
3 Zusammengefasst in: Maike Rotzoll u.a. (Hrsg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010.
4 Vgl. hierzu die Beiträge von Forschenden des "Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation“. Eine Übersicht auf <http://www.gedenkort-t4.eu/de/gegenwart/arbeitskreis> (Stand 28.05.2015).