Am Anfang jeder Beschäftigung mit der Geschichte der Waffen-SS muss die Auseinandersetzung mit den prägenden Erzähltraditionen stehen. Das Bewusstsein für die Wirkmacht von Apologien, von Erinnerungen und Erzählungen darf gerade nicht an der deutschen Grenze enden. Denn die Geschichte der Waffen-SS ist vor allem im postsowjetischen Raum untrennbar in nationale Narrative und konkurrierende Diskurse verwoben.
Einem so vielschichtigen Phänomen wie der Waffen-SS aus wissenschaftlicher Perspektive gerecht zu werden, ist also keine leichte Aufgabe. Der von Jan Erik Schulte, Peter Lieb und Bernd Wegner herausgegebene Sammelband ist das gedruckte Ergebnis gleich zweier Tagungen, die im Dezember 2010 vom Dresdner Hannah-Arendt-Institut sowie im Mai 2011 vom Deutschen Komitee für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ausgerichtet wurden.1 Er ist damit sogar „der erste wissenschaftliche Sammelband zur Geschichte der Waffen-SS überhaupt“ (S. 15). 27 Autorinnen und Autoren decken in 24 Beiträgen nahezu die gesamte Breite der aktuellen Forschungen über dieses nationalsozialistische Herrschaftsinstrument ab. Die vier ordnenden Kapitel „Strukturen und Akteure“, „Vergemeinschaftung und Selbstverständnis“, „Krieg und Verbrechen“ sowie „Inszenierung und Erbe“ gehen über eine militärgeschichtliche Betrachtungsweise entschieden hinaus und lassen vor allem eine Rezeption kulturgeschichtlicher Forschungsansätze erwarten.
Die Gründung der Waffen-SS kurz nach Kriegsbeginn, dies macht Jean-Luc Leleu im ersten Beitrag deutlich, war in erster Linie ein politischer Akt. Die neue Armee bot eine ernsthafte „Alternative zum traditionellen militärischen Modell“ (S. 25); gleichzeitig wusste sie sich angesichts der Entwicklungen an der Ostfront und der innenpolitischen Verwerfungen als „Volksgemeinschaft in Waffen“ (S. 31) zu präsentieren. Als zeitgenössischer Indikator für den Erfolg der Waffen-SS als neues Modell galten ohne Zweifel vor allem die militärischen ‚Leistungen’. Hier sind die Ergebnisse allerdings nicht ganz eindeutig. Roman Töppel sowie in abgeschwächter Form auch Peter Lieb widerlegen in ihren operationsgeschichtlichen Vergleichsstudien von Wehrmacht und Waffen-SS in der Schlacht bei Kursk 1943 bzw. in der Normandie 1944 die Behauptung, dass hierfür ein unverhältnismäßig „hoher Blutzoll“ (Erich von Manstein) gezahlt worden sei.2 Ob vergleichbare Verlustzahlen, wie sie die Wehrmacht beklagte, allerdings den seit jeher erhobenen Vorwurf schwacher militärischer Führung in der Waffen-SS entkräften, wie vor allem Töppel meint, muss gerade angesichts anders lautender Ergebnisse im Band offen bleiben. Überraschend ist die militärische Wirksamkeit der Waffen-SS auch angesichts der Personalrochade, bei der Männer aus den KZ-Wachmannschaften und den Einheiten der Waffen-SS immer wieder die Rollen tauschten. Wie Stefan Hördelers Beitrag belegt, müssen Waffen-SS und KZ-System personell bis 1942 unbedingt als „organische Einheit“ (S. 89) verstanden werden.
Die Befunde des Bandes sprechen in jedem Fall dafür, dass sowohl bei militärischen Erfolgen als auch bei Kriegsverbrechen der Waffen-SS ideologische Dispositionen eine nicht unbedeutende Rolle spielten. So konstatiert unter anderem René Rohrkamp in seiner quantitativen Untersuchung zur Rekrutierungspraxis eine stärkere weltanschauliche Vorprägung durch die Zugehörigkeit zu NS-Organisationen sowie auch eine größere Jugendlichkeit des Waffen-SS-Personals gegenüber jenem der regulären Truppe. Ideologische Prägungen entschieden im Krieg allerdings weniger über das ‚Ob’ als über das ‚Wie’ der Gewalt, wie Carlo Gentile für den Partisanenkrieg in Italien feststellt, wo die deutsche Reaktion auf die asymmetrische Bedrohung bisweilen unterschiedlich ausfiel, wobei in der Waffen-SS zunehmend „‚östliche’ Kampfmethoden“ zum Einsatz gekommen sind (S. 315). Die Verbrechen, die sich in der Schlussphase des Krieges schließlich auch gegen die eigene Zivilbevölkerung im ‚Heimatkriegsgebiet’ richteten, waren Sven Keller zufolge auch Ausdruck einer weiteren Amalgamierung von Wehrmacht, Waffen-SS und Polizei unter der Ägide der SS zu einem „radikalisierten Disziplinarregime“ (S. 363). Wo eine Unterscheidbarkeit dieser Verbände kaum noch möglich war, identifizierte die Bevölkerung in den letzten Kriegswochen umso eindeutiger die SS als die radikalen und die Wehrmacht als die gemäßigten Kräfte der Abwehrkämpfe, was Keller bereits als eine Externalisierungsstrategie mit Blick auf die Nachkriegszeit deutet.
Das hohe Maß an Ideologisierung und Gewaltbereitschaft, aber auch die militärische ‚Effizienz’ führen viele Autoren nicht zuletzt auch auf das elitäre Selbstbild der Waffen-SS zurück. Angesichts der sich ganz allmählich verschlechternden Kriegslage bedurfte man vielleicht sogar eines ‚Elitemythos‘, der es ermöglichte, Sinn in einer Fortsetzung des Krieges zu sehen. Nach Jochen Lehnhardt bereitete die massive Einflussnahme auf die öffentliche Meinung durch die seit 1940 rapide ausgebauten SS-Propagandakompanien Himmlers Soldaten den Weg zur einer – wiederum im Vergleich zur Wehrmacht – überproportional starken Präsenz in den deutschen Medien. Hier wurde das Bild von der Elitetruppe geschaffen und verankert, das in vielerlei Hinsicht bis heute nachwirkt.
Rund 200.000 Ausländer sowie ungezählte ‚Volksdeutsche’ taten in der Waffen-SS Dienst, wobei, wie Paul Milata und Thomas Casagrande zeigen, der Einsatz von ‚Siebenbürger Sachsen’ und ‚Banater Schwaben’ trotz der ideologisch erwünschten Integration keineswegs immer reibungslos verlief. Noch offensichtlicher werden die Probleme beim Blick auf andere Gruppen. Die Beiträge von Sigurd Sørlie sowie Christensen/Poulsen/Smith behandeln Himmlers ‚germanisches Projekt’, das jämmerlich scheiterte. Zwar hatten viele norwegische und dänische Freiwillige die NS-Weltanschauung schnell verinnerlicht, jedoch konnte man in beiden Fällen nicht einmal 6 000 Mann mobilisieren. Wenig feinfühlige deutsche Vorgesetzte, ungehaltene Versprechen und die Ablehnung einer deutschen Vorherrschaft sorgten zudem dafür – und die Zeitverträge machten es möglich –, dass die Skandinavier die Waffen-SS bald wieder verließen.
Lohnenswert ist es in diesem Zusammenhang auch, künftig stärker die Begegnungen, Beziehungen und Projektionen zwischen Deutschen und ausländischen ‚Freiwilligen’ in den Blick zu nehmen. Franziska Zaugg untersucht in ihrem Beitrag zur deutschen Wahrnehmung muslimischer Albaner die eigentümlichen Zuschreibungen, in denen Rassismus und Karl-May-Romantik in einem NS-spezifischen ‚Orientalismus’ einmündeten. Dass die machthungrige Führung der Waffen-SS deutlich planmäßiger als die Wehrmacht die Mobilisierung der Muslime betrieb und hierbei mitunter sogar auf ehemalige Wehrmachtsoffiziere zurückgriff, die wegen ‚Fraternisierung’ mit den Freiwilligen entlassen worden waren, zeigt Stefan Petke am Beispiel zweier Verbände.
Für die Angehörigen der Waffen-SS nahm der Krieg oft ganz unterschiedliche Ausgänge. Gerade Ausländer, insbesondere ehemalige sowjetische Kriegsgefangene trafen dabei mit Repatriierung und Lagerhaft oft härtere Schicksale als die deutschen Angehörigen, die sich im Westdeutschland der Nachkriegszeit nicht selten auf alte und neue Netzwerke stützten, wie Kerstin von Lingen am Beispiel von Himmlers langjährigen Stabschef Karl Wolff oder auch Franz Josef Merkl für die Prozesse gegen den General der Waffen-SS Max Simon nachweisen. Eine der wichtigsten Hilfs- und Lobbyorganisation ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS ist die von Karsten Wilke untersuchte ‚Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit’ (HIAG), die sich Anfang der 1960er-Jahre angesichts der Professionalisierung des Suchdienstes des DRK sowie unter dem Eindruck der beginnenden juristischen Aufklärung von Kriegsverbrechen formierte. Durch Praktiken der Vergemeinschaftung gelang es der HIAG bis zu ihrer Selbstauflösung Ende 1992, die politisch oft noch dem Nationalsozialismus verhafteten ‚Truppenkameradschaften’ an sich binden.
Wenn viele Erkenntnisse auch nicht ganz neu sind, bilden die Ergebnisse doch gerade in ihrer Zusammenschau einen instruktiven Überblick über das Feld und liefern die Marker für weiterführende Forschungen. Gerade die Breite der hier vertretenen Themen, die Vielfalt der Perspektiven, Methoden und einbezogenen Materialien ist besonders anzuerkennen. Von kleineren inhaltlichen Fehlern ist der Band dabei trotz langer Vorbereitung nicht verschont geblieben. Wenn zum Beispiel mehrfach Nordwestrussland mit „Nordostrussland“ (S. 147) verwechselt oder der ‚Reichsdeutsche’ Bernhard Dietsche an entscheidender Stelle zum „volksdeutschen SS-Obersturmbannführer“ (S. 176) gemacht wird, ist das zwar ärgerlich, tut der Qualität insgesamt jedoch kaum einen Abbruch. Inwiefern die Waffen-SS auch in Zukunft ein lohnenswerter Forschungsgegenstand bleibt, hängt allerdings nicht nur von neuen Quellen und innovativen Methoden, sondern auch davon ab, ob Leitfragen gefunden werden, die die plurale Forschungslandschaft miteinander in Beziehungen zu setzen vermögen.
Anmerkungen:
1 Tagungsbericht: Vergemeinschaftung und Ausgrenzung. Neue Forschungen zur Geschichte der Waffen-SS. 02.12.2010–04.12.2011, Dresden, in: H-Soz-Kult, 11.03.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3573> (26.01.2015); Tagungsbericht: Kolloquium zur Geschichte der Waffen-SS. 06.05.2011–07.05.2011, Würzburg, in: H-Soz-Kult, 31.08.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3790> (26.01.2015).
2 Vgl. hierzu auch den Versuch einer Gesamtstatistik bei Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 1998, S. 257 u. 293ff.