P. Stachel u.a. (Hrsg.): Zwischen Exotik und Vertrautem

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Titel
Zwischen Exotik und Vertrautem. Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten


Herausgeber
Stachel, Peter; Thomsen, Martina
Reihe
Histoire 35
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
€ 38,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tomasz Przerwa, Instytut Historyczny, Uniwersytet Wrocławski

Die schnelle und multidimensionale Entwicklung des Tourismus beschäftigt immer häufiger die historische Forschung wenn es um den sozialen und kulturellen Wandel im 19. und 20. Jahrhundert geht. Der massenhafte Fremdenverkehr fand zunächst in städtischen und industriellen Zentren Verbreitung, von wo aus die mit Freizeit, Geld und Ideen ausgestatteten Bürger ihre „Fluchten” aus dem Alltagstrott von Urbanisierung, Industrialisierung und Mechanisierung suchten. Dem Tourismus wohnt der Gegensatz von Zentrum und Peripherie inne, der sich zum Teil mit der Konstellation von „Eigen” und „Fremd” deckt, was sich auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Anordnungen definieren lässt. Dieser Zugang ermöglicht vielfältige Forschungsansätze für die Untersuchung sozialer Einstellungen und Verhaltensweisen. In der Vergangenheit wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte von Reisen und Tourismus oft gering geschätzt und auf wenige ausgewählte Aspekte verengt. Der hier anzuzeigende Band stellt nun eine wertvolle Erweiterung dar. Darin werden Ergebnisse einer internationalen Konferenz von 2011 in Prag vorgestellt, die der Problematik kultureller Begegnungen im Kontext touristischer Erfahrungen und mithin einem in der Forschung bisher unterrepräsentierten Thema gewidmet war.

Die Suche nach dem Eigenen und dem Fremden war dabei auf jene Gebiete begrenzt, die vor 1918 zum Territorialbestand Österreich-Ungarns gehörten. Von einer tatsächlichen Eingrenzung kann allerdings aufgrund der geografischen Dimension und der Heterogenität der Länder der früheren Habsburgermonarchie kaum gesprochen werden, worauf Peter Stachel und Martina Thomsen völlig zurecht hinweisen. Die einzelnen Provinzen und Regionen Österreich-Ungarns waren in unterschiedlichem Tempo und Grad von der „touristischen Revolution” an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betroffen, was eine horizontale Betrachtung der stattfindenden Veränderungen erlaubt. Eine vertikale Betrachtung wird erreicht, indem die Zwischenkriegszeit und teilweise spätere Epochen einbezogen werden. Das erlaubt eine Auseinandersetzung mit den „touristischen” Folgen des Zerfalls der Habsburgermonarchie. Auch wenn die Autoren keine Monografie der touristischen Entwicklung in diesem Gebiet zum Ziel hatten, wird das vorgestellte Buch vielen Lesern als Ersatz einer solchen bislang fehlenden Synthese dienen. Die Herausgeber haben einen solchen Anspruch nicht formuliert und den Bedarf an weiterer Vertiefung und Erweiterung diesbezüglicher Forschungen hervorgehoben. Gleichwohl sind sie überzeugt, dass ihre Publikation zur genaueren Erforschung touristischer Entwicklungen in Österreich-Ungarn und den Nachfolgestaaten beitragen wird (S. 10).

Abgesehen vom wertvollen und zusammenfassenden, gewissermaßen programmatischen Beitrag von Rudolf Jaworski „Einführung in Fragestellungen und Themenfelder“, orientieren sich die übrigen Autoren am lokalen bzw. regionalen Rahmen. Übergreifende Schlussfolgerungen und Vergleiche bleiben daher den Lesern überlassen. Die in der tourismushistorischen Forschung dominierende, räumlich begrenzte Perspektive prägt auch den vorliegenden Band da hier – ganz im Stile eines Konferenzbands – die Patchwork-artig angeordneten Beiträge zwar wichtige Problemstellungen signalisieren, sich jedoch nicht in ein kohärentes und komplettes Bild fügen. Leser, die nach Inspiration oder einer Vergleichsebene suchen, werden sicherlich nicht enttäuscht, diejenigen aber, die nach kohärenten Darstellungen Ausschau halten, könnten weniger Genugtuung empfinden. Ein Teil der Gebiete der Habsburgermonarchie wurde recht ausführlich dargestellt, so Dalmatien im Beitrag von Peter Stachel „Halb-kolonial und halb-orientalisch? Dalmatien als Reiseziel im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, andere Regionen werden wiederum nur gestreift, etwa die Alpenregionen bei Konrad Köstlin „Die Hoferei und 200 Jahre Tourismusgeschichte in Tiroler Museen“, oder gar ganz ausgelassen, wie die Hauptstadt Wien. Ein etwas unpräzises Bild der Tourismusentwicklung in einzelnen Regionen dieses Teils Europas ist die Folge.

Ein Großteil der Autoren bezieht die Untersuchung von Exotik und Vertrautem auf nationale Fragen, was sich im Falle des multiethnischen Österreich-Ungarn gewissermaßen selbst aufdrängt. Die hier dominierenden nationalen Aspekte wie die Rivalität benachbarter Nationalitäten (z.B. Martin Pelc: „Orte der Selbstpositionierung. Deutsche und tschechische Wandervereine in den böhmischen Ländern vor 1945“), die Nationalisierung peripherer ethnischer Gruppen (z.B. Pieter M. Judson: „Reisebeschreibung in der ‚Südmark‘ und die Idee der deutschen Diaspora nach 1918“), oder die nationale Inszenierung (z.B. Alexander Vari: „Die Nation im Schaukasten. Binnentourismus und Nationswerdung auf der Budapester Milleniums-Ausstellung 1896“) bestätigen die starke politische Instrumentalisierung des Fremdenverkehrs. Die Übertragung der sich Ende des 19. Jahrhunderts steigernden nationalen Spannungen (in kleinerem Ausmaß auch Spannungen zwischen den Religionen oder Ethnien) auf die scheinbar neutrale touristische Aktivität trägt dazu bei, dass der Buchtitel „Zwischen Exotik und Vertrautem“ eine spezifische Bedeutung annimmt. Die Narration von Konflikt und Misstrauen verdrängt die wohlwollende Erwartung des (Un)Bekannten. Christoph Mick erinnert an die negative Wahrnehmung slawischer und jüdischer Bewohner Galiziens in den Darstellungen Karl Emil Franzos' („Reisen nach ‚Halb-Asien‘. Galizien als binnenexotisches Reiseziel“), was kaum von intellektueller Offenheit oder Entdeckerfreude eines reisenden Schriftstellers zeugt. Im Gegenteil – diese Einstellungen resultieren aus früheren Vorurteilen. Die titelgebende Exotik, und seltenere Vertrautheit, rekonstruiert die Mehrheit der Autoren übrigens aus der Perspektive deutschsprachiger Eliten (z. B. Dieter K. Hecht: „Bosnische Impresionen. k. k. Soldaten als Tourismuspioniere vor dem Ersten Weltkrieg“), was den Befund einschränkt und auch verformt.

Das mit Höherwertigkeitsbewusstsein untersetzte Verhältnis der damaligen Eliten zu den „asiatischen“ oder „kolonialen“, wie es damals hieß, Realitäten peripherer Regionen Österreich-Ungarns stellt zweifellos ein attraktives Untersuchungsthema dar, und es ist ein Verdienst der Publikation, dass sie diesen Aspekt aufgreift. Es bleibt eine offene Frage, ob die „Exotik“ orthodoxer Juden, das Mosaik slawischer oder rumänischer Volksgruppen an den östlichen und südlichen Rändern der Habsburgermonarchie ausschließlich auf dieser Ebene betrachtet wurde. Die überwiegende deutsche Narration könnte etwa ergänzt werden um die Beschreibung von „Exotik“ und „Vertrautheit“ der deutschsprachigen Teile Österreichs aus der Feder slawischer Reisender-Autoren, oder die stärkere Betonung der Vielfalt innerhalb einer ethnischen Gruppe, etwa der Wiener Eliten und Tiroler Schäfer bzw. der Krakauer Bürger und der Goralen in der Tatra. Die Bedeutung nationaler Perspektiven wird im vorliegenden Band in den Beiträgen von Jozefa Tancera „Die Geburt Bratislavas auf den Seiten der lokalen Stadtführer 1918–1945“ und Martina Thomsen „Die Fremde beschreiben. Prag in deutsche und tschechischen Reiseführern 1850–1945“ unter Beweis gestellt, in denen nationale Codes städtischer Reiseführer analysiert werden. Eine ähnliche Herangehensweise tritt auch in Christoph Micks Studie über die Darstellung Galiziens zu Tage; jedoch wird seine Problemanalyse durch das Weglassen polnischer Sekundärliteratur und gar polnischer Quellen nicht eben befördert.

Das rezensierte Band ermöglicht eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Einstellungen und Wahrnehmungen, und gleichzeitig mit den funktionalen und strukturellen Veränderungen von Gebieten, in denen sich der Tourismus entwickelte. Diesen zweiten Aspekt behandeln einige wenige Artikel. Hanna Kozińska-Witt zeigt am Beispiel Krakaus, wie in der Stadtverwaltung langsam das Bekenntnis zur aktiven tourismusfreundlichen Politik reifte („Das edle Bedürfnis sich zu bereichern. Der Werdegang der Krakauer Kommune zum Tourismuszentrum 1870–1939“), Sándor Bősze analysiert den Einfluss lokaler Vereine auf die touristische Erschließung des Balaton („Die Badekultur und die Badevereine als Träger des Tourismus am Süd-Balaton 1890–1944“), und Peter Jordan schildert die Transformation kroatischer Seeorte („‘Unsere Adria‘. Kroatische Seekurorte vor und nach 1918“). In diesen profunden Studien wurden wichtige touristische Destinationen berücksichtigt, jedoch nicht alle. Man könnte bemängeln, dass die Entwicklung in „angesagten” Bergregionen (bspw. Alpen), Kurorten (z.B. das berühmte Karlsbad) nicht untersucht wurde. Die vielschichtige Darstellung von Andrea Corbea-Hoisie „Die Bukowina und Czernowitz – hybrider Kulturraum und Faszinosum“ kann diese gravierende Lücke nicht schließen. Man könnte weitere Defizite aufzählen. Die rapide „Beschleunigung“ des Fremdenverkehrs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand nicht nur unter dem Eindruck der Faszination für Autos statt (Jan Štemberk: „Schneller und weiter. Mit dem Automobil durch die Erste Tschechoslowakische Republik“), sondern auch dank der „Entdeckung“ des Wintersports, der im besprochenen Band nicht vorkommt. Werner Teleskos Beitrag „Visualisierungsstrategien im Tourismus in der Spätphase der Habsburgermonarchie. Postkarten, Plakate und andere Bildmedien“ verdeutlicht wiederum den Bedarf an stärkerer Berücksichtigung ikonografischer Quellen.

Die Herausgeber und Autoren des Bandes zeigen auf, was ihr prinzipielles Ziel war: neue Perspektiven und Facetten für die tourismushistorischen Forschungen. Die hier genannten potentiellen Untersuchungsfelder mögen daher als Ansporn zur Fortführung und Erweiterung angesehen werden. Auch so kommt dem Buch Pioniercharakter zu. Es verdient eine breite Rezeption, und das nicht allein aufgrund des hohen wissenschaftlichen Niveaus, sondern auch wegen der sorgfältigen Redaktion des Bandes, dessen Bebilderung aber eher bescheiden ausfiel, darunter mit Landkarten, die leider kaum lesbar sind.

(Übersetzung: Mateusz Hartwich)

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