Titel
J'ai vu naître l'Europe.


Autor(en)
Collowald, Paul
Erschienen
Strasbourg 2014: La Nuée Bleue
Anzahl Seiten
156 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Knipping, Bergische Universität Wuppertal

Paul Collowald, Jahrgang 1923, gehört zu den Europäern der ersten Stunde, die die Gründung des integrierten Europas und die deutsch-französische Aussöhnung seit den späten 1940er-Jahren bewusst begleitet und aktiv mitgestaltet haben. Seine hier vorgelegten Erinnerungen öffnen einen frischen Blick auf die europäische Integrationsgeschichte, gestaltet als Interview mit der französischen Journalistin Sophie Allaux-Izoard. Für Jacques Delors, der ein Vorwort verfasst hat, ist die Lektüre des privilegierten Zeitzeugen ein Muss.

Das Werk behandelt drei thematische Aspekte: Autobiographisches, Forschungsfragen und Bewertungen der aktuellen Lage Europas. Collowald verbrachte Kindheit und Jugend im seit 1918 vom deutschen in den französischen Staatsverband zurückgekehrten Elsass-Lothringen. An der Universität Strasbourg absolvierte er nach Kriegsende ein Studium der Philosophie und der Geisteswissenschaften. In dieser Zeit kam er in Kontakt mit Persönlichkeiten des französischen Widerstands wie Joseph Rovan und Pere du Rivau, die für eine europäische und insbesondere deutsch-französische Aussöhnung eintraten. Prägend wurde für ihn die Mitwirkung, auch in führender Funktion, in der katholischen Studentenvereinigung FEC (Foyer de l´Etudiant Catholique), die bis heute andauert. Bei einer Veranstaltung des FEC, am Rande der ersten Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strasbourg, begegnete er im August 1949 dem damaligen Außenminister Robert Schuman, über den er wenig zuvor ein Kurzportrait veröffentlicht hatte. Es war der Beginn einer persönlichen wechselseitigen Sympathie. Der junge Collowald verfolgte fortan die Tätigkeit Schumans, naturgemäß vor allem dessen Erklärung vom 9. Mai 1950 mit ihren bekannten Folgen, mit zunehmender Bewunderung und Engagement. Heute, und seit vielen Jahren, ist er Präsident der Association Robert Schuman, die sich, zusammen mit einigen weiteren Initiativen, dem Werk und der Erinnerung des visionären Lothringers widmet.

Beruflich war Collowald in den ersten Nachkriegsjahren (seit 1946) als Journalist der Zeitung Nouvel Alsacien tätig, von 1952 bis 1958 dann als Korrespondent von Le Monde. Mit der Ausweitung der europäischen Gemeinschaften durch die Römischen Verträge von 1957 eröffnete sich ihm eine Karriere in den neuen supranationalen Institutionen. Jacques-René Rabier holte ihn 1958 in den Presse- und Informationsdienst der Montanunion nach Luxembourg, schon nach einem Jahr wechselte er nach Brüssel in die neu geschaffene Presse- und Informationsabteilung der EWG-Kommission, als Vertrauter des französischen Vizepräsidenten Robert Marjolin. Im Zuge der Fusion der Exekutiven 1967 wurde er Stellvertretender Sprecher der nunmehr einzigen Europäischen Kommission, zugeordnet dem neuen französischen Vizepräsidenten Raymond Barre. Seit der ersten EG-Erweiterung 1973 war er für alle Pressebüros der Gemeinschaft verantwortlich. 1980 war er kurzzeitig Generaldirektor der Kommission ad interim. 1984 holte ihn der französische Präsident des Europäischen Parlaments, Pierre Pflimlin, zu sich als Pressesprecher, und bis zu seiner Pensionierung 1988 bekleidete er dann das Amt des Generaldirektors für Information und Öffentlichkeitsarbeit des Europäischen Parlaments. Zwischenzeitlich lehrte Collowald mehrfach an verschiedenen europäischen Hochschulen.

Das Buch enthält manche aufschlussreiche Details über Robert Schuman. Ein besonderes forscherisches Interesse des Autors gilt der Entstehung des Schuman-Plans und den begleitenden Umständen, insbesondere einer Frage der Chronologie in jener Geburtsstunde des vereinigten Europa. Wann wurde Konrad Adenauer in die Absicht Schumans, den Plan anzukündigen, eingeweiht? Erreichte der geheime Sonderemissär Schumans, Robert Mischlich, das Bundeskanzleramt schon am 8. oder erst am Morgen des 9. Mai? Die Aktenüberlieferung ist nicht ganz klar und hat eine zeithistorische Kontroverse ausgelöst, an der Collowald sich selbst beteiligt hat. In minutiöser Argumentation entwickelt er hier das – für ihn abschließende – Forschungsergebnis, dass – entgegen den Memoiren Herbert Blankenhorns und einem offenbar falsch datierten Brief Adenauers an Schuman – die Information Adenauers erst am Morgen des 9. Mai erfolgte. Mischlich habe dann die emotional zustimmende Reaktion des Bundeskanzlers unverzüglich telefonisch nach Paris übermittelt, so dass Schuman dort gerade noch rechtzeitig den Beschluss des französischen Kabinetts herbeiführen konnte, dass die vorbereitete Erklärung über den Plan eines Zusammenschlusses der deutschen und französischen Schwerindustrien am Nachmittag veröffentlicht werden sollte.

Aufgrund seiner langjährigen beruflichen Erfahrung ist Collowald berufen für Auskünfte über die Informationsarbeit der europäischen Institutionen. Aus erster Hand berichtet er über die Anfänge und den Aufbau des Presse- und Informationsdienstes der Europäischen Kommission, dem die Aufgabe zufiel – und weiter zufällt –, die Rolle der EU gegenüber den Mitgliedstaaten stärken zu helfen, vor allem die Bürger in den Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung des großen Europa-Projekts durch einen regelmäßigen Informationsfluss „mitzunehmen“, durch Sichtbarmachung und Erklärung in der europäischen Öffentlichkeit Verständnis, Akzeptanz und Mitwirkung zu befördern. Er zeigt durchaus die Erfolge, beleuchtet aber auch die Grenzen der Vermittlung, verursacht durch fehlende Ausstattung des Dienstes, die Komplexität des Europa-Projekts, intra-institutionelle Reibungen, die Resistenz der Mitgliedstaaten, die unbefriedigende Rolle der Medien. Eine Überbrückung der informellen Distanz zwischen den europäischen Akteuren in Brüssel und den einfachen Bürgern in den Mitgliedstaaten, deren Leben gleichwohl durch „Europa“ weithin und zunehmend geprägt wird, bleibt auch weiterhin eine grundlegende Aufgabe des Integrationsprozesses, mit dem Ziel der Herstellung einer europäischen Identität und Öffentlichkeit.

Collowald war nah an manchen wichtigen Weichenstellungen der europäischen Integrationsgeschichte. Aus intimer Kenntnis berichtet er über die Haager Konferenz von 1969 mit ihren Folgen, die Projekte der Wirtschafts- und Währungsunion und des Binnenmarktes, die Entstehung der Europa-Flagge, frühe Initativen zu europäischer Jugend- und Bildungspolitik. Und vieles andere. Sein Fazit fällt ernüchternd aus, auch ohne Kenntnis des aktuellen Flüchtlingsdramas. Das System ist nach und nach von der supranationalen zur intergouvernementalen Struktur abgeglitten. Vertiefung wurde zu oft hinter Erweiterung zurückgestellt. Der konstruktive Elan der Gründerjahre der Gemeinschaft ist verflogen, Intransparenz, Vielstimmigkeit, Orientierungslosigkeit, Frustration und Skepsis sind an seine Stelle getreten. Der politische Wille zu mutigen europäischen Entscheidungen nach Art des Schuman-Plans ist weithin abhandengekommen, die Wiederkehr der Dominanz nationaler Interessen ist mit Händen zu greifen.

Was kann man tun, wenn man überzeugt ist, dass die europäische Integration eine historische Notwendigkeit ist und bleibt? Dass es ohne europäische Friedens- und Wertegemeinschaft nicht geht? Collowald sieht im Wesentlichen zwei Ansatzpunkte. Zum einen ist es wichtig, der nachwachsenden Generation die Bedeutung des Europa-Projekts zu vermitteln, die Faszination der europäischen Idee an die Jugend weiterzugeben, Europa zu einem zentralen Bildungsthema zu machen. Zum anderen müssen auf der Ebene der politischen Führung die integrationsbereiteren Mitgliedsregierungen entschlossen voranschreiten und die anderen nach sich ziehen. In Anlehnung an Pflimlin und Delors hält Collowald das Konzept der „avant-garde“ eines „noyau solide“ für besonders geeignet, das europäische Projekt wieder voranzubringen. Entscheidend ist, dass die Glut lebendig erhalten wird und man keinesfalls verzweifelt. Vielmehr muss man leidenschaftlich für neuen Aufbruch und föderale Vision kämpfen. Ein „qualitativer Sprung“ ist nicht unmöglich. In diesem Sinne sieht Collowald sich selbst als „Européen impatient, inquiet certes, mais pas résigné“ (S. 90).

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