Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten die europäischen Gemeinwesen, aus denen moderne Staaten wurden, imposante Behörden entwickelt, die, genauer besehen, aber nur auf zentraler Ebene einigermaßen zur Disposition der Herrschenden standen. Auf regionaler und erst recht auf lokaler Ebene verfügten diese nur über rudimentäre Regierungsapparate und blieben daher nach wie vor auf Kooperation mit den lokalen Machthabern angewiesen. Dass stattdessen die Zentrale mittels einer nur von ihr abhängigen Bürokratie bis zum letzten Untertan durchgreifen kann, war eine Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts und zwar die wichtigste überhaupt auf dem Weg zum modernen Machtstaat.
Mit einer Tagung 2013 und dem mit zusätzlichen Beiträgen angereicherten vorliegenden Band haben sich Osteuropahistoriker/innen dieses Problems für das 19. Jahrhundert angenommen. Obwohl die 12 Beiträge wie üblich höchst unterschiedliche Fälle betreffen, gelingt es den Herausgebern, in einem sorgfältig gearbeiteten Vorwort den Ertrag für das Problem halbwegs auf den Punkt zu bringen, was bei solchen Bänden weniger üblich ist. Das heißt, sie erörtern Varianten des administrativen Ausbaus und der immer noch unvermeidlichen Arrangements mit maßgebenden Untertanen. Allerdings orientieren sie sich dabei anachronistisch an politikwissenschaftlicher Terminologie unserer Zeit, was meines Erachtens zu Verzerrungen der Perspektive führt, etwa wenn es zusammenfassend heißt, „dass diese Staaten ihren Bürgern sukzessive sich entwickelnde Güter wie Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheit, Frieden, Sicherheit, infrastrukturelle Erschließung und soziale Wohlfahrt zur Verfügung stellten“ (S. 31). Das ist nicht die Sprache des expandierenden Policey-Ordnungs-Staates, um den es sich immer noch handelte, sondern teleologisch diejenige der demokratischen Staatslegitimation unserer Gegenwart, ganz davon abgesehen, dass von Freiheit und Frieden im heutigen Verständnis selten die Rede sein konnte und der Sozialstaat erst Ende des Jahrhunderts ansatzweise auftauchte.
Jeweils fünf Aufsätze konzentrieren sich auf die Expansion der Verwaltung bzw. auf Infrastruktur- und Stadtentwicklung, zwei auf kulturelle Legitimation. Malte Rolfs Beitrag ist Versuchen russischer Generalgouverneure gewidmet, nach dem Aufstand von 1863/64 trotz der Repression im Interesse effektiver Verwaltung mit polnischen Eliten zu interagieren. Werner Benecke schildert die Musterung im Russland der allgemeinen Wehrpflicht 1874–1914 als Vordringen des Staates, aber auch die damit verbundenen lokalen Aushandlungsprozesse. Die von Nicole Immig untersuchten Anläufe Griechenlands, die wirtschaftlich wichtige muslimische Minderheit im 1881 erworbenen Thessalien durch Entgegenkommen zu integrieren, blieben langfristig zum Scheitern verurteilt. Nobert Franz stellt die sogenannte „Durchstaatlichung“ und „das Wachstum der Staatsgewalt“ für drei Dörfer in Frankreich bzw. Luxemburg dar, am Vergleich der Budgets sowie an Fallstudien zur Feldpolizei und zum Bau einer Moselbrücke. Verkehrswege waren neben dem Schulwesen die Wachstumsspitzen. Spaniens Provinzgouverneure und Gemeindesekretäre spielten laut Hedwig Herold-Schmidt Schlüsselrollen bei der Durchsetzung der Staatsautorität an der von Klientelsystemen kontrollierten Peripherie. Leider bleibt unklar, ob das dort immer noch selbstverständliche vormoderne Klientelwesen dabei nur hinderlich oder vielleicht als Zwischenstufe von Nutzen gewesen ist.
Dirk Mellies betrachtet den Chausseebau im rückständigen Pommern als Ergebnis wechselnder Interaktion staatlicher Amtsträger und lokaler Interessen. Auch Jana Osterkamps Politikgeschichte der Meliorationen im Habsburgerreich bietet ein ähnliches Bild. Allerdings stand hier den verschiedenen lokalen Akteuren ein politisches Mehrebenensystem gegenüber, das im Modus imperialer Dezentralisation funktionierte. Wachstum der englischen Staatsgewalt als Funktion der Verbreitung des Wasserklosetts: Christopher Hamlins meisterhafter Beitrag, der eine Sonderklasse in diesem Band darstellt, benutzt die Bewältigung von Entsorgungsproblemen, um die komplizierte Rechts- und Politikgeschichte der Lokalverwaltung zwischen gewohnheitsrechtlicher Parish- und County-Autonomie einerseits, zentraler Legislative und Jurisdiktion andererseits zu schildern, und zwar einschließlich der Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung zum Thema und seiner politischen Interpretation! Trotz ihrer Nano-Perspektive schildert die hochgelehrte Abhandlung von Felix Heinert über Schlachthof und Schlachtzwang in Riga um 1900 einen durchaus entsprechenden Vorgang. Auch die geplante, aber nicht verwirklichte Stadtbilderneuerung der polnischen Kleinstadt Sandomierz wird von Christoph Augustynowicz zwischen lokal und zentral verortet.
Doch was sollen „kulturelle Legitimationsangebote“ im Zusammenhang des Themas? Ist das von Gabriele B. Clemens ausführlich geschilderte, kulturelle Engagement des italienischen Adels als Selbstbehauptungsstrategie gegen den expandierenden Staat zu begreifen, wie sie mehr andeutet als behauptet? War das 1828–1859 von Maria Pavlovna nicht nur kulturpolitisch beherrschte Großherzogtum Sachsen-Weimar überhaupt ein in die Fläche expandierender Staat, zumal die Politik der Protagonistin dynastisch blieb und sie laut Raphael Utz das Wort „Staat“ nie programmatisch verwendete?
Die Beiträge von Rolfs, Immig, Franz, Mellies und Heinert sind weitgehend aus Archivalien erarbeitet. Doch auch die übrigen machen überwiegend einen forschungsnahen Eindruck und zitieren die üblichen Autoritäten wie z.B. Dirk van Laak zu Infrastrukturpolitik. Aber trotz aller Anstrengungen der Herausgeber diffundieren sie wie üblich thematisch viel zu stark für eindeutige Ergebnisse. Die ausschlaggebende Frage nach der Finanzierung wird nur von Franz angesprochen, ansonsten ebenso wie das Problem der Triebkräfte aber kaum einmal gestreift. Das Wachstum des Staatsapparats musste nämlich finanziert werden. Zu diesem Zweck mussten die Steuereinnahmen gesteigert werden, was wiederum weiteres Wachstum der Staatsgewalt notwendig machte. Oder es mussten Kriege finanziert werden – das 19. Jahrhundert war gar nicht besonders friedlich –, was Steuererhöhung und Ausbau des Zwangsapparats generierte. Die Varianten dieses Coercion-Extraction-Cycle hätten ein überzeugenderes Organisationsprinzip für einen Band abgeben können, aber das hätte eine deutlichere Koordination der Fragestellung verlangt, als sie Historiker/innen zugemutet werden kann.