„Attacking your unconscious is like walking with a ghost, you can’t get to grips with it at all!“, stellte die Psychoanalytikerin Karin Stephen, die Frau von Virgina Woolfs Bruder Adrian – auch er ein Psychoanalytiker – 1922 mit leichter Verzweiflung fest (S. 553). Auch der Versuch, die Geschichte der Psychoanalyse zu schreiben, kann sich schnell in eine ähnlich schwierige Exkursion verwandeln. John Forrester und Laura Cameron wenden daher in ihrer überzeugenden Studie „Freud in Cambridge“ auch einen ähnlichen Kniff wie die Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen an: „Thinking in Cases“.1 Ihre Untersuchung hat daher etwas von einer opulenten Sammlung exemplarischer „Krankenakten“. Forrester und Cameron stellen ihr „klinisches“ Material zusammen, um die Geschichte der psychoanalytischen „Infektion“ der Studierenden zu beschreiben, die sich in den Jahren nach 1910 in Cambridge einschrieben und eine besondere Form der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse zu pflegen begannen. Im Gegensatz nämlich zu London, wo vor allem eine therapeutisch-medizinische Rezeption Blüten trieb, nahm man in Cambridge Psychoanalyse hauptsächlich als eine neue psychologische Wissenschaft wahr, die kulturell und künstlerisch bedeutsam sei. So liefert „Freud in Cambridge“ das faszinierende Portrait einer avantgardistischen psychoanalytischen „Generation“, die nach ihrem Studium in der Zwischenkriegszeit besonders einflussreich wurde. Wie Forrester und Cameron akribisch nachweisen, bedeutete die neue psychoanalytische Seelenlehre für viele der damaligen Studierenden einen fundamentalen wissenschaftlichen Durchbruch, gleichgültig ob sie Botanik, Ethnologie oder Volkswirtschaftslehre studierten. Indem Forrester und Cameron „the fluidity of interchange and surprising cross-influences“ (S. 5) zwischen den verschiedenen Psychoanalyse-Adepten untersuchen, gelingt es ihnen, wie in einem Kaleidoskop die erstaunlichen, ineinander übergehenden Formen vorzuführen, welche die Psychoanalyse-Rezeption in Cambridge im Verlauf der Zeit annahm.
Den Auftakt der äußerst materialreichen Untersuchung macht der berühmte Botaniker Arthur George Tansley, der 1922 eine Analyse bei Freud in Wien begann. Um sie fortführen zu können, kündigte er sogar seine Stelle an der Universität Cambridge und zog mit seiner Familie 1923 nach Wien. Während fünf Jahren wendete sich Tansley fast ausschließlich der Psychoanalyse zu, 1927 kehrte er dann wieder zur Botanik zurück und übernahm einen Lehrstuhl in Oxford. Danach scheint Tansley sich kaum noch für Psychoanalyse interessiert zu haben. Forrester und Cameron erachten Tansleys analytische Wanderjahre nun gerade nicht als einen obskuren Zwischenfall, sondern als eine Art Symptom für eine ebenso große wie ambivalente interdisziplinäre Begeisterung für die neue Wissenschaft: „It is the very implausbility of Tansley’s involvement in psychoanalysis that, oddly enough, makes him so representative“ (S. 9).
Welchen Stellenwert Psychoanalyse als eine neue psychologische Wissenschaft für fast alle Fachgebiete erlangte, lässt sich auch gut an dem damals bekannten Psychologen und Anthropologen W. H. R. Rivers – ein ausgebildeter Mediziner – studieren, dem das zweite Kapitel von „Freud in Cambridge“ gewidmet ist und der zu Beginn des 20. Jahrhunderts an mehreren anthropologischen Forschungsreisen teilnahm.2 Forrester und Cameron gelingt es, durch eine sorgfältige Lektüre der Werke Rivers und der Aufzeichnungen seiner Träume zu zeigen, wie stark sich Rivers mit Freud auseinandersetzte; dass er zwar „explicitly and persistently critical“ (S. 69) war, gleichzeitig aber ein viel größerer Freudianer, als er selbst meinte, weil er sowohl viele der grundlegenden Annahmen Freuds als auch seine Interpretationstechnik teilte.
Die selektive, produktive und ambivalente Auseinandersetzung mit Psychoanalyse in Cambridge nehmen dann auch die weiteren Kapitel des Buches in den Blick. Sie behandeln so unterschiedliche Themen wie „Becoming Freudian in Cambridge: Undergraduates and Psychoanalysis“, die psychoanalytische „The Malting House Garden School“ für die Kinder der von Psychoanalyse begeisterten Eltern, die „Bloomsbury Analysts“, von denen sehr viele in Cambridge studiert hatten, oder die Entstehung der englischen Standard Edition von Freuds Werken, die ebenfalls von zwei ehemaligen Absolventen von Cambridge vorangetrieben wurde: James und Alix Strachey, die den 1920-Jahren, als verheiratetes Paar, sie sich bei Freud in Wien auch einer Analyse unterzogen hatten. Natürlich fehlen in der Untersuchung auch so bekannte Gelehrte wie Bertrand Russell, John Maynard Keynes oder Ludwig Wittgenstein nicht, Vladimir Nabokov kommt ebenfalls vor. Für dessen lebenslange tiefe Abneigung gegen Psychoanalyse könnte just sein Studium – wie Forrester und Cameron mutmaßen – an der nach Psychoanalyse verrückten Universität Cambridge verantwortlich gewesen sein (S. 141–142).
Die Untersuchung zeigt nicht nur, wie die ehrwürdige Universitätsstadt zu einer entscheidenden psychoanalytischen Drehscheibe in Großbritannien wurde, sondern auch, wie im besten Sinn dilettantisch die Psychoanalyse in ihren Anfängen war, aus welch widersprüchlichem und eigenwilligem Gebrösel von Ideen und Praktiken sie bestand, dem mit einer klassischen Personen- und Ideengeschichte, einer einheitlichen Vorstellung einer „orthodoxen“ Analyse oder einer simplen Auffassung von Professionalisierung nicht beizukommen wäre. So führt die Studie eindrücklich die Bedeutung von „Forrester’s Axiom“ vor Augen, demzufolge Psychoanalyse nur als Teil der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts richtig zu verstehen sei: Man dürfe Psychoanalyse nicht als eine esoterische Sekte abtun, sondern müsse sie als eine äußerst erfolgreiche neue Psychologie analysieren, die das 20. Jahrhundert geprägt habe.3
Die Studie beruht auf ausgedehnten Archivrecherchen und besticht auch durch liebevoll ausgesuchte Abbildungen wie Photographien – zum Beispiel Russell mit Kinderwagen (S. 322) – sowie einen Stadtplan von Cambridge, auf dem die verschiedenen Colleges, Laboratorien, Museen etc. eingezeichnet sind und der eindrücklich vor Augen führt, wie nah die verschiedenen Arbeits- und Wohnorte zueinander lagen und wie leicht die unterschiedlichen Treffpunkte zu erreichen waren. „Freud in Cambridge“ liefert eine packende Übersicht über einen intellektuellen Taubenschlag – mitsamt Affären, Freundschaften, Feindschaften und Reisen. Nur schon die Bonmots und Hinterhältigkeiten, die aus Briefen und Tagebüchern zitiert werden, lohnen die Lektüre. Als zum Beispiel James Strachey bei Freud in der Analyse ist, schreibt ihm sein Bruder Lytton: „Your account of the Doctor sounds odd – personally I have never been able to believe that I should suffer from any ,resistance‘ – but one never knows. Does he ever make jokes? Or only German ones?“ (S. 529).
Mit „Freud in Cambridge“ kehrte der britische Wissenschaftshistoriker John Forrester nicht nur zu seinen Anfängen zurück, sondern widmet dem Ort, der sein ganzes akademisches Leben geprägt hat, eine umfangreiche Untersuchung: Forrester hatte in Cambridge studiert, promoviert und gelehrt. Der international renommierte Forscher war jedoch alles andere als ein universitärer Stubenhocker: Er hatte Gastprofessuren in aller Welt inne und war ein ebenso ingeniöser Autor wie gefragter Redner und großzügiger Vermittler. Von Anfang an zeichnete ihn eine große Neugierde aus, er studierte in Princeton bei Thomas S. Kuhn, übersetzte Jacques Lacan ins Englische und interessierte sich für Michel Foucault, den er am Collège de France auch hörte. Seine Beschäftigung mit der sogenannten French Theory, die damals en vogue war, zeichnet sich durch ebenso große Akribie wie elegante Nonchalance aus.4 Das Cambridge von „Freud in Cambridge“ ist daher ein Stück weit Forresters eigenes. Er verfasste das Buch zusammen mit der an der Queens University in Kanada lehrenden Laura Cameron, die ebenfalls in Cambridge promoviert wurde. Leider handelt es sich bei der Studie um eine Art Summe von Forresters Werk: Das Manuskript konnte kurz vor seinem Tod 2015 gerade noch abgeschlossen werden.
Anmerkungen:
1 John Forrrester, If p, Then What? Thinking in Cases, in: ders.: Thinking in Cases. Cambridge u.a. 2017, S. 1–24.
2 Zum „Export“ von Psychologie und Psychoanalyse – an dem W. H. R. Rivers beteiligt war – in die Kolonien und zur Frage, wie die lokalen Bedingungen Psychologie und Psychoanalyse veränderten, siehe zum Beispiel Erik Linstrum, Ruling minds. Psychology in the British Empire. Cambridge Mass. 2016.
3 Siehe Andreas Mayer, Why does Psychoanalysis matter to History and Philosophy? On the Ramifications of Forrester’s Axiom, in: Psychoanalysis and History, 19 (2017), 2, S. 151–165.
4 Siehe John Forrester, Language and the Origins of Psychoanalysis, New York 1980; ders., The Seductions of Psychoanalysis. Freud, Lacan and Derrida, Cambridge 1990.