Cover
Title
Visitors to the House of Memory. Identity and Political Education at the Jewish Museum Berlin


Author(s)
Bishop Kendzia, Victoria
Series
Museums and Collections 9
Published
Oxford 2017: Berghahn Books
Extent
XI, 161 S., 8 Abb.
Price
€ 116,10; $ 110.00; £ 78.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Matthias Haß, Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, Berlin

Gedenkstätten und historischen Museen wird aus Politik und Öffentlichkeit gemeinhin ein besonderer Status hinsichtlich der Bedeutung und Aufgaben für die Herausbildung eines historischen Bewusstseins zugewiesen. Die Bedeutung der Erinnerung an den Nationalsozialismus und hier insbesondere an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden wird oft als Gradmesser für den Zustand der demokratischen Verfasstheit der deutschen Gesellschaft genommen. Daher wird die Evaluierung von Besuchen historischer Museen und Gedenkstätten seit Jahren intensiv diskutiert. Allerdings ist es bislang nicht gelungen, einheitliche Standards für eine solche Evaluierung festzulegen. Was sind Kriterien für einen „erfolgreichen“ Museumsbesuch? Die zeitliche Länge des Besuchs? Die Einträge in Besucherbücher? Wer wird für eine solche Erhebung befragt? Einzelbesucher/innen? Schulklassen, deren Besuch in der Regel nicht freiwillig ist? Welche Bedeutung haben Museumsbesuche generell für die Entwicklung der Erinnerungskultur und die Entwicklung einer Identität, die auf der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte basiert? Die methodischen und inhaltlichen Fragen hinsichtlich solcher Evaluierungen sind komplex.

Die in Berlin lebende und arbeitende Kanadierin Victoria Bishop Kendzia nähert sich vielen dieser Fragen in ihrer Publikation. Die Disziplin, aus der Bishop Kendzia heraus ihre Studie anlegt, ist die Europäische Ethnologie. Dies ist bei der Beurteilung ihres Ansatzes unbedingt zu berücksichtigen, da sie sich selbst in diesem Ansatz als Forschende immer wieder kritisch befragt und ihre eigene subjektive Wahrnehmung von Interaktionen im Museum zwischen Museumsbesucher/innen und -mitarbeiter/innen transparent macht (S. 4). Ein knappes Fünftel ihrer Darstellung besteht aus Auszügen ihres „field diary“. Bishop Kendzia nutzt das theoretische Konzept der „grounded theory“ für ihren Analyseansatz und legt dieses in einem einführenden methodischen Abschnitt dar. Teil ihres Ansatzes ist es, der Studie kein festes Frage- und Forschungsraster aufzusetzen und ihr Forschungsmaterial dadurch zu beschneiden, sondern ihre Analysen flexibel an das Material anzupassen. Dieser methodische Zugriff wird immer wieder in den einzelnen Kapiteln der Studie aufgegriffen und durch Zitate unterlegt, wirkt jedoch teilweise willkürlich und bruchstückhaft und kann nicht vollständig überzeugen.

Die Studie beruht auf der Begleitung von sieben Schulklassen aus Berlin im Jüdischen Museum Berlin (JMB) im Jahr 2007. Die Klassen kommen sowohl aus dem ehemaligen West- als auch Ost-Berlin und sind alle auf dem Weg zum Abitur. Eine Klasse mit einem großen Anteil von Schüler/innen mit Migrationshintergrund wird besonders hervorgehoben. Alle Klassen wurden von der Autorin im Vorfeld befragt, beim Museumsbesuch begleitet und erhielten im Anschluss einen weiteren Fragebogen zur Bewertung des Besuchs. Der Einfluss der Herkunft (Ost-West-Migrationshintergrund) und der Zugang zur Bildung sind nur zwei von vielen Fragen, die gestellt werden. Die Analyse der Antworten kratzt leider nur an der Oberfläche. Beispielsweise werden auffällig unterschiedliche Bewertungen des Museumsbesuchs zwischen zwei Klassen aus Ost- und West-Berlin festgestellt (S. 47–62). Bei der West-Berliner Klasse ist die Bewertung anschlussfähig an den Mehrheitsdiskurs in der Öffentlichkeit, den Bishop Kendzia entlang der Begrifflichkeiten Betroffenheit und Schuld festmacht. Bei der Ost-Berliner Klasse hingegen spielten diese Begriffe kaum eine Rolle. Bishop Kendzias Erklärungsansatz zielt auf die Unterschiede aufgrund religiöser Zugehörigkeit in den Elternhäusern (S. 60). Sie geht jedoch nicht auf weitere Aspekte bezüglich der Ost-West-Herkunft der Schüler/innen ein. In der DDR gab es neben der ideologisierten Indienstnahme der Mahn- und Gedenkstätten durch das Regime auch immer ein ernsthaftes Interesse an der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Häufig geschah dies mit einem gesellschaftlich dominanten Fokus auf die Verfolgung der politischen Linken und weniger mit Blick auf die Verfolgung der europäischen Juden. Gleichzeitig war die persönliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte in der DDR, die neben der offiziell verordneten Beschäftigung existierte, oft weniger moralisch und moralisierend als die im Westen, wohl aber politisch aufgeladen. In den Antworten der Teilnehmer/innen der Studie tauchen diese Ost-West-Unterschiede durchaus wieder auf, die Autorin nimmt dies jedoch nicht in den Blick und so bleibt ihre Analyse leider unterkomplex.

Ähnliches gilt für ihre Annahme, dass die deutsche Gesellschaft – dominiert von westdeutschen Eliten, wobei leider unscharf bleibt, wer das genau ist – sich rein als Tätergesellschaft sieht und daher Menschen, die sich nicht in diese Tradition stellen können, etwa Menschen mit Migrationshintergrund, aus identitätsstiftenden Erinnerungsdiskursen herausgehalten werden (S. 28). Dies offenbart einen Mangel an Kenntnis über die erbitterten Auseinandersetzungen darüber, die deutsche Gesellschaft überhaupt als Gesellschaft der Täter anzuerkennen. Die hochpolitischen Debatten über den Stellenwert der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, die erst in den 1980er- und 1990er-Jahren in der deutschen Gesellschaft intensiv geführt wurden, haben in der Gegenwart zu einer Etablierung und Institutionalisierung von Gedenkstätten und historischen Museen geführt, von denen das JMB eines ist. Dass an diesen Orten, wie auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, die historische Täterschaft großer Teile der deutschen Gesellschaft und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für das Zulassen der Verbrechen klar benannt werden und Grundlage vieler Museumsnarrative sind, darf durchaus als Fortschritt benannt werden, bevor diese Perspektive auf die „Tätergesellschaft“ allzu wohlfeil und vorschnell kritisiert wird. Die Diversität der deutschen Gesellschaft benötigt selbstverständlich diverse Ansätze, um Zugänge zu Museumsnarrativen zu schaffen. Diese können jedoch nur in Kenntnis der Entwicklung der gegenwärtigen Situation entstehen.

Ähnlich oberflächlich bleiben Bishop Kendzias Überlegungen zu den Begrifflichkeiten des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses sowie Erinnerung versus Gedenken (S. 26, S. 30). Dass sie den Begriff „collective remembrance“ auf den deutschen Kontext angewendet sehen möchte (S. 30), ist ärgerlich, wohnt diesem doch auch immer die Bedeutung des kollektiven Gedenkens inne, was im Umgang mit Tätergeschichte schwierig ist.

Das sich Angesprochen- und Einbezogenfühlen durch den dominanten Erinnerungsdiskurs im JMB und auch die Verhaltensregeln für Besucher/innen, insbesondere derjenigen, die zu den Nachkommen der Täter gezählt werden, und die daraus entstehenden Reibungen und Konflikte sind der Schwerpunkt in der Analyse von Bishop Kendzia. Für die Analyse wäre allerdings ein nachvollziehbares Kriterienraster hilfreich, anhand dessen die Autorin zu ihren Schlüssen kommt. So bleibt vieles ungenau und vage (S. 94, S. 134). Ein wesentlicher Grund für das herausgearbeitete „sich ausgeschlossen Fühlen“ von Teilnehmer/innen, die sich nicht entlang der Verhaltensmuster von Betroffenheit und Schuldgefühlen verhalten haben, war die Zurechtweisung durch Mitarbeiter/innen des JMB (S. 47f., S. 90, S. 95). Die Schilderungen von unterschiedlichem Verhalten von Angestellten unterschiedlichen Besucher/innen gegenüber – bei internationalen Besucher/innen wurde lautes, wenig empathisches Verhalten geduldet, bei deutschen Schulklassen nicht – sind in der Tat problematisch (S. 97). Sie auf eine besondere Identitäts- und Erinnerungspolitik zurückzuführen, erscheint mir jedoch gewagt. Anscheinend handelt es sich um ein manifestes operatives Problem innerhalb der internen Abläufe und im Management des JMB.

Offensichtlich gibt es eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen an einen Besuch im JMB und den konkreten Erfahrungen während eines solchen Besuchs; dies wird in vielen Antworten von Bishop Kendzias Befragung deutlich. Der konzeptionelle Aufbau des JMB mit dem Beginn des Besuchs im Kellergeschoss entlang der verschiedenen Achsen „Exil“, „Holocaust“ und „Kontinuität“, dem sogenannten „Holocaust-Turm“ und dem „Garten des Exils“ schafft für viele der befragten Schüler/innen eine Atmosphäre der Enge und Einschüchterung, auch der Scham und Schuld, die sich dann auch in der offenen, einladenden Lernatmosphäre über jüdische Geschichte und Kultur in den oberen Stockwerken fortsetzt. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, die genau diese Gestaltung seit Eröffnung des Museums lobend hervorgehoben hat, scheint sich diese Rahmung durch die Negativfolie der Geschichte der Vernichtung kontraproduktiv auf viele jüngere Besucher/innen auszuwirken. Gesellschaftlich findet offenbar ein fundamentaler Wandel statt in der Annäherung sowohl an jüdische Geschichte als auch an die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus. Die bisher für den Blick auf jüdische Geschichte als notwendig und produktiv gesehene Hintergrundfolie der Geschichte des Nationalsozialismus erweist sich für die nach Mauerfall und deutscher Vereinigung Geborenen als den Blick verdeckend und übermächtig. Dabei scheint es nebensächlich, ob das Hervorrufen von Betroffenheit – das Bishop Kendzia als gesellschaftlich gewünscht wahrnimmt – gelingt oder nicht, wie bei Gruppen, die ihrer Ansicht nach aus dominanten Erinnerungsdiskursen ausgeschlossen werden. Der gesamte Besuch des JMB wird dominiert durch die erinnerungspolitischen Vorgaben im Kellergeschoss des Museums. Diese wichtige Erkenntnis arbeitet Bishop Kendzia gut heraus, allerdings würde man genau hier gerne mehr erfahren und eine tiefere Analyse geliefert bekommen.

Hilfreich wäre es gewesen, hätte die Autorin sich auf wenige, präzise Fragestellungen beschränkt und diese anhand der Ergebnisse ihrer Befragungen beantwortet. So bleibt der Eindruck, dass Victoria Bishop Kendzia zwar wichtige Fragen in Hinblick auf die Evaluierung von Museumsbesuchen von Schüler/innen unterschiedlicher sozialer Herkunft im JMB stellt, diese Fragen harren jedoch zu einem großen Teil weiter ihrer Beantwortung, für die präzisere Forschungssettings notwendig wären. Es bleibt zu hoffen, dass die Eröffnung der neuen Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin im August 2020 Forschende unterschiedlicher Disziplinen hierzu einlädt.

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