Gabriele Metzler hat ein Buch geschrieben, das knapp und kundig den langsamen Weg nachverfolgt, den die deutsche Historiographie nach 1945 gegangen ist, um bei Vorstellungen von Staat und Verfassungsordnung anzukommen, die mit dem Mainstream liberaler Demokratievorstellungen westlicher Prägung kompatibel sind. Im Mittelpunkt stehen dabei diejenigen Historiker, die sich vor allem mit der Geschichte der deutschen Staaten seit 1870 beschäftigt haben, also all jene, die man landläufig als Zeithistoriker etikettiert. Mit in ihre Analyse bezieht Metzler aber auch Politikwissenschaftler, Rechtswissenschaftler und Sozialtheoretiker ein, sobald sie das Nachdenken der Historiker beeinflusst haben. Das war häufig der Fall, wie Metzler immer wieder zeigt, denn nur selten haben sich die deutschen Historiker zu weiterreichenden theoretischen Reflexionen oder systematischer historisch-vergleichender Modellbildung hinreißen lassen, wenn sie über Glück und Unglück der deutschen Staatsformen und Regierungssysteme im langen 20. Jahrhundert schrieben.
Metzler hat aus dieser Not einer eher unterentwickelten theoretischen Reflexion die Tugend einer breit angelegten Beschreibung historiographischer Positionen zur deutschen Politik- und Staatsgeschichte des 20. Jahrhunderts gemacht. Mit Recht geht sie dabei auf das staatszentrierte, nationalkonservative Meinungswissen ein, das es den meisten Historikern erlaubte, über 1933 und 1945 hinweg an den Grundlagen eines staatszentrierten, konkret auf außenpolitisch-militärische Macht und exekutive Autorität Wert legenden Staatsverständnisses festzuhalten. Der Weg zu einer staatsferneren Demokratiebejahung war lang, dazu bedurfte es erheblicher Unterstützung durch Politikwissenschaftler wie Karl Dietrich Bracher, Kurt Sontheimer oder Wilhelm Hennis. Seit den 1970er-Jahren verschoben sich die Koordinaten des innerfachlichen Konsenses über die politische Grundordnung Deutschlands deutlich in Richtung liberaler Demokratieverteidigung mit entsprechend kritischen Sichtweisen auf Kaiserreich, NS-Regime und DDR. Seit 1990 verloren sich auch die Irritationen, die das komplexe Verhältnis zwischen Nation und Staat in Deutschland aus demokratisch-liberaler Lesart seit 1870 hinterlassen hatte.
Angesichts des geringen Interesses der untersuchten Historiker an staatstheoretischen Modellen und Reflexionen analysiert die Autorin in acht chronologisch angeordneten Kapiteln die Art und Weise, in der sich deutsche Historiker im 20. Jahrhundert mit den politischen Regimen ihres Landes seit der Reichsgründung beschäftigt haben. Ein Dauerthema sind dabei ab Kapitel 2, das mit der Befreiung 1945 beginnt, die Auseinandersetzungen um die historische Interpretation des NS-Regimes. Daran haben sich die unterschiedlichen Generationen von Zeithistorikern abgearbeitet und Metzler fasst diese Deutungen und Kontroversen sachkundig zusammen. Sie legt besonderes Augenmerk darauf, diese Deutungskämpfe in die sich ändernden politischen und kulturellen Rahmenbedingungen einzuordnen, sodass die Spuren der Zeitbezüge und Zeitabhängigkeiten erkennbar werden, man denke nur an das Ende des Deutschen Reiches, die Teilung Deutschlands, den Kalten Krieg, dann die Liberalisierung und Westernisierung der Bundesrepublik sowie schließlich die Wiedervereinigung.
Jedes Kapitel wird mit einem thesenhaft verdichtenden Zwischenfazit abgeschlossen, die dem untersuchten Zeitabschnitt eine prägnante Signatur geben. „Zeitgeschichte“ wandelt sich in Metzlers Darstellung so chamäleonartig von einer „defensive(n) Wissenschaft“ nach 1945 zu einer „Stabilisierungswissenschaft“, wird in den späten 1960er-Jahren zu einer „Reformwissenschaft“, um sich dann zunächst in den 1970er- und 1980er-Jahren zu polarisieren, zu pluralisieren und endlich nach der Wiedervereinigung in „Konsens“ und „Suche“, unter anderem nach Perspektiven für eine „demokratische Rechts- und Sozialstaatlichkeit in Europa“ (S. 307), zu enden. Über diese griffigen Charakterisierungen lässt sich im Einzelnen trefflich streiten, sie dienen aber zunächst einmal dazu, den dominanten politischen Zeitgeist beim Namen zu nennen.
Das Buch konzentriert sich auf die Hauptlinien der zeithistorischen Debatten zur deutschen Geschichte, hingegen bleiben Einsichten in das, was deutsche Historiker parallel dazu in Auseinandersetzung mit anderen modernen Staaten, aber auch älteren Formen politischer Herrschaft an Ideen entwickelt haben, ausgeklammert. Angesichts der tatsächlich zu beobachtenden intellektuellen Abschottung der bundesrepublikanischen „Zeitgeschichte“ hin zu einer Geschichte des Nationalsozialismus mitsamt Vor- und Nachgeschichte (Weimar, Besatzungszeit, BRD/DDR) gibt es dafür auch gute Gründe.
Metzlers „Staat der Historiker“ fasst eine breite Forschungsliteratur zusammen, die sich mit der politischen Ideengeschichte der deutschen Historiographie vor und nach 1945 beschäftigt hat. Ob die Abendland-Mode, die Brüning-Debatte, die Fischer-Kontroverse, den Goldhagen-Streit und die Historiker-Kontroverse, alle diese Debatten lässt Metzler hier noch einmal Revue passieren und ordnet sie in den größeren Kontext des Rahmenthemas ein.
Das ist alles sehr verdienstvoll und das Buch kann jederzeit als Einführung in die politische Ideenlandschaft der westdeutschen Historiographie empfohlen werden. Wer weitergehende Analysen erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht. So verzichtet die Autorin darauf, systematisch Beiträge und Forschungsthemen der Geschichtswissenschaft einzubeziehen, die nicht direkt zu den zeitgeschichtlichen Generaldebatten und Gesamtdeutungen beigetragen haben. Es fällt auf, dass Erkenntnisfortschritte auf dem Feld einer kritischen Bürokratie- oder Verwaltungsgeschichte kaum notiert werden, die eher aus der Mediävistik und Frühneuzeit herkommende Geschichte moderner Staatlichkeit gar nicht gewürdigt wird und auch die internationalen Koordinaten der Problemfelder Demokratiegeschichte und moderne Staatsentwicklung kaum erkennbar werden. Gerade für die Kapitel, die sich mit den Entwicklungen seit 1989/90 beschäftigen, wäre aber ein solcher weitere intellektuelle Horizont ausgesprochen aufschlussreich und böte zahlreiche Anknüpfungspunkte für kritische Perspektiven. Auch die Verbindung der innerhistorischen Debatten mit den intellektuellen Kontroversen und Deutungsmustern der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit bleibt unbestimmt – dass Jürgen Habermas oder Ralf Dahrendorf eine Rolle spielen beziehungsweise gespielt haben, erfahren die Leserinnen und Leser, aber wie steht es um die Reihe der einflussreichen Juristen von Ernst-Wolfgang Böckenförde über Michael Stolleis, Dieter Grimm bis Christoph Möllers? Die politischen Deutungsmuster der Fachcommunity im Nachkriegsdeutschland beruhten auf besonders engen institutionellen Verbindungen besonderer Art – auch darüber erfahren wir in „Staat der Historiker“ leider gar nichts. Gerade die zeitgeschichtliche Forschung mit ihren großen außeruniversitären Instituten, Kommissionen und Parteistiftungen ist in einer Weise eingebettet in die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik, dass die intellektuellen Effekte dieser staatsbasierten Geschäftsgrundlagen sicherlich der kritischen Reflexion wert sind. Aber damit sind bereits Themen benannt, die nach der Lektüre dieser klassisch historiographiegeschichtlichen Überblicksdarstellung nun viel besser in Angriff genommen werden können.