A. Geisthövel u.a. (Hrsg.): Auf der Suche nach einer anderen Medizin

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Titel
Auf der Suche nach einer anderen Medizin. Psychosomatik im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Geisthövel, Alexa; Hitzer, Bettina
Erschienen
Anzahl Seiten
549 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sophie Witt, Deutsches Seminar, Universität Zürich

Historische Hinwendungen zur Psychosomatik beginnen oft mit der Feststellung, dass eine umfassende, theoretisch versierte Untersuchung bislang fehle. Der von Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer herausgegebene und äußerst sorgfältig edierte Suhrkamp-Band zur Geschichte der Psychosomatik im 20. Jahrhundert geht von diesem Desiderat aus und versteht sich als „erste[r] Schritt, um diese Leerstelle auszufüllen“ (S. 9). Er tut dies auf solide Weise: historisch informiert und theoretisch präzise in den Einzeldarstellungen sowie entschieden in der Gesamtkonzeption. Dass die Texte „in intensiver [...] Diskussion aller Autorinnen und Autoren entstanden“ (S. 17) sind, merkt man schon allein an den vielen Querverweisen zwischen den einzelnen Aufsätzen. Entschieden ist der Band in den Einschränkungen, die er vornimmt: Zum einen geht es ihm nicht allgemein um Ganzheitsmedizin, sondern um eine Medizin, „die die Einheit von Körper und Psyche ausdrücklich systematisch und reflexiv einholen wollte und der sehr daran gelegen war, die Verbindung zum medizinischen und psychologisch-psychoanalytischen State of the Art zu halten, um auf diesen einzuwirken“ (S. 12). Daraus ergibt sich eine – schwergewichtige – These: Psychosomatik im 20. Jahrhundert gehe, entgegen ihrer Selbsterzählungen, weniger auf das Ganzheitsdenken und die naturphilosophischen Vorläufer seit der Antike sowie vermehrt des 18. Jahrhunderts zurück. Sie sei vielmehr ein „modernes Phänomen“, das eigentlich erst um 1900 entstehe und sich dann vor allem von der wahlweise als „mechanistisch“, „lokalistisch“ oder „bürokratisch“ verschrienen „naturwissenschaftlichen Medizin“ des 19. Jahrhunderts abgrenze.

Untergliedert ist der Band in drei Zeitabschnitte: 1890–1945, 1945–1970 und schließlich 1970–2000. Der Schwerpunkt liegt auf den ärztlichen und therapeutischen Protagonistinnen und Protagonisten, die jeweils für ein paradigmatisches Problem stehen: Anthony D. Kauders etwa beschäftigt sich mit Felix Deutschs „Versuch, eine systematische Psychosomatik aller Organkrankheiten zu entwerfen“; Alexa Geisthövel rekonstruiert Viktor von Weizsäckers Suche nach einer nicht nur den Patienten, sondern auch das Arztsubjekt neudefinierenden „subjektiven Medizin“; Thure von Uexküll wird von Volker Roelcke vor dem Hintergrund der Frage porträtiert, „wie man einen Paradigmenwechsel in der Medizin herbei[führt]“ und Psychosomatik von einer Spezialwissenschaft zu einer Betrachtungsweise jeder Medizin macht; und Jens Eberfelds Beitrags zu Horst-Eberhard Richter fragt nach der „Entdeckung der Familie als psychosoziale[m] Krankheitsfaktor“ sowie der Etablierung der Familientherapie – um nur vier der insgesamt 16 Protagonistinnen und Protagonisten zu nennen, denen je ein einzelnes Kapitel gewidmet ist.

Erzählt wird dabei nicht nur von den Akteuren, sondern auch vom Aufstieg und zu Teilen dem Fall eines „großen Projekts“: Von der Vor- und Frühgeschichte, geprägt von Entdeckerlust und Suchbewegungen, über eine Phase der Anerkennung und Verwissenschaftlichung, bis hin zur letztendlichen Etablierung von Psychosomatik seit den 1970er-Jahren, die mit dem Verschwinden der großen wissenschaftlichen und politischen Fragen einherging. Ergänzend werden einzelne Methoden vorgestellt: Psychoanalyse, Persönlichkeitstest und Ratgeberliteratur. Andere Kapitel sind Nachbardisziplinen oder Wissensformationen gewidmet, denen Psychosomatik ihre Denkfiguren und Erklärungsschemata verdankten (Kybernetik, Physiologie, Emotionsbegriff, unterschiedliche Körperkonzepte, etwa im Zuge des „Soma“-Booms der späten 1960er-Jahre und andere).

Theoretisch am ergiebigsten sind die Kapitel zu einzelnen Krankheiten: Dargelegt werden solche, die als exemplarisch für bestimmte konzeptuelle Problemlagen innerhalb einer Wissensgeschichte von Psychosomatik gelten können: Geisthövel zeigt in ihrem Beitrag, wie die Neurose (besonders in der Frühphase) für die Suche nach einem leib-seelischen Zusammenhang und für deren Bewegungen der Psychologisierung oder Somatisierung steht. Krebs wird von Hitzer hinsichtlich der ethischen Dilemmata diskutiert, die mit der Zuschreibung einer psychischen oder sozialen Gemachtheit von Krankheiten einhergehen können; sie beschreibt zudem die sukzessive Abkehr von psychosomatischer Krankheitsursachenforschung hin zu Fragen des Umgangs mit Krankheit (coping) und Gesundheitserhaltung. Cornelius Borck untersucht die Diagnose Alexithymie (die Unfähigkeit, Gefühle angemessen auszudrücken) als ambivalenten Austragungsort der Arzt-Patient-Beziehung und – im Anschluss an Monica Greco1 – als „Einspruch der Organe“ gegenüber den „Selbstverwirklichungsimperativen in neoliberalen Gesellschaften“ (S. 422 bzw. 432). Diese Diskussionen von Krankheitskonzepten bewegen sich auf der Höhe des Kritik- und Reflexionsanspruchs, den Psychosomatik durchs 20. Jahrhundert für sich reklamiert hat.

Die zweite und noch gewichtigere Einschränkung ist räumlicher Natur: Die Darstellung beschränkt sich auf Deutschland. Es werden zwar, wo nötig, transnationale Linien gezogen, vor allem in die USA. Diese Beschränkung hätte vielleicht im Titel deutlich gemacht werden können, denn „Psychosomatik im 20. Jahrhundert“ klingt nach einem umfassenderen Programm. Sichtbar wird so, dass das vielschichtige sowie divergierende Wissen vom Wechselspiel zwischen Körper, Psyche und sozialer Umwelt selbst stark kontextgebunden entsteht: Situiert ist Psychosomatik innerhalb ‚großer‘ diskursiver Vorentscheide. Ist der Ansatz holistisch oder psychogenetisch? Werden das Unbewusste oder eher die Physiologie, Körper oder Psyche an den Ursprung der Theoriebildung gestellt? Werden Persönlichkeits- oder Konflikttypen, Umweltmodelle oder anderes zur Systematisierung bemüht? Beeinflusst wird sie aber auch durch die Biografien der Akteure, die Situation an Kliniken und Universitäten, durch Finanzierungsfragen, staatliche Steuerung, Förderungspolitiken, Versicherungs- und Rentengesetze, Approbationsordnungen. Und nicht zuletzt gibt es eine individuelle wie gesellschaftliche Affinität für bestimmte Symptome und Krankheitsbilder, was wiederum die Theoriebildung beeinflusst und auf Krankheitskonzepte zurückwirkt.

Der Band zeigt, dass es nicht nur eine spezifisch deutsche Psychosomatik gibt, sondern dass die deutsche Geschichte des 20. Jahrhundert ein Stück weit entlang von Psychosomatik erzählt werden kann: Als eine Verschachtelung von Körper, Wissen und Macht. Wie Anne Harrington einschlägig herausgearbeitet hat2, ist diese Geschichte politische heterogen, diskontinuierlich und nicht-finalistisch. Dies zeigen auch Geisthövel und Hitzer: Die Alternative – Psychosomatik als Kontinuität konservativer Annahmen, die in die NS-Ideologie mündeten einerseits oder aber als linke „Heilung“ von den Gräueln der NS-Medizin – wird nicht aufgestellt. Die Einzeluntersuchungen belegen vielmehr, dass es beides gab: Das Ganzheitsdenken Karlfried Graf Dürckheims weist Kontinuitäten von den 1920er-Jahren über die NS- bis in die BRD-Zeit auf und erlaubte, „Ganzheit in den Dienst des Tötens und des Mordens zu stellen“ (S. 322). Für Alexander Mitscherlich hingegen zeigt Tobias Freimüller, wie Psychosomatik zum Anstoß und Gegenstand wird, eine „andere“ Medizin, Wissenschaft und letztlich Gesellschaft zu fordern, die sich kategorisch unterscheiden von jenen Bedingungen, die für die NS-(Medizin-)verbrechen verantwortlich gemacht werden.

Deutlich wird, dass der Band eine bestimmte Geschichte erzählt und seine lobenswerte Entschiedenheit zugleich dazu führt, dass andere Aspekte aus dem Narrativ herausfallen: Zuvorderst die Frage nach den ideengeschichtlichen Linien, die mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden können, und dann die nach dem Stellenwert des historischen Rückbezugs in den Selbsterzählungen von Psychosomatikern. Außerdem hätten neben Kybernetik als master narrative zum Beispiel auch Semiotik und Hermeneutik ein Kapitel verdient und ebenso der Einfluss bestimmter philosophischer Schulen, etwa der Leibphilosophie oder auch der Frankfurter Schule. Denker wie Alfred Lorenzer und seine zentralen Überlegungen zum Materialismus der Psychoanalyse und zur Rückbindung der Medizin an die Kulturtheorie tauchen in Text und Bibliografie überhaupt nicht auf, vermutlich, weil er sich zu wenig ins Zentrum einer so zu nennenden Medizingeschichte bewegt hat. Aber macht nicht der Band selbst deutlich, dass die Suche nach einer „anderen Medizin“ zwangsläufig über den Bereich der Medizin und auch der Medizin-Geschichte hinausgeht? Das ist nicht unbedingt ein Einwand, hat sich der Band doch vorgenommen, einen ersten Schritt zu tun. Er zeigt aber damit auch, wo weitergedacht und andere Perspektiven ergänzt werden können.

Relevant nicht nur für die wissenschaftliche Lektüre, das lässt sich zusammenfassend sagen, ist der Band in seinem kritischen und gegenwartsbezogenen Anspruch. Er zeigt, dass sich mit der Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen Seele, Körper und Umwelt viele Hoffnungen und Chancen auf ‚Heilung‘ verbinden konnten und können, einschließlich des großangelegten Versuchs, eine „andere Medizin“ zu begründen als Alternative zur „seelenlosen“ Schulmedizin; dass daraus aber auch neue ethische Herausforderungen erwachsen und Körper und Psyche in ihrem wie auch immer gearteten Wechselspiel Gegenstand von Politik, das heißt Biopolitik bleiben. Dass mit der „anderen Medizin“ eigentlich die „bessere“ gemeint war, mag man nach der Lektüre des Bandes für einen eminenten Fortschritt der (deutschen) Medizin des 20. Jahrhunderts halten – hin zu Patientenorientierung und biografischer Medizin, zu einer verbesserten Versorgungs- und Versicherungslage und nicht zuletzt Ausbildungssituation. Man wird aber wohl auch darüber nachdenken, ob und inwiefern das kritische Potential einer „anderen“ Medizin nicht gänzlich quer zum Paradigma des Fortschritts und Erfolgs zu suchen wäre – welches seinerseits wieder in Leistungs- und Konsumzwänge bettet, hin zum immer ganzheitlicheren, immer gesünderen Menschen. Das „Nachdenken über Vergangenheit und Gegenwart von Psychosomatik und Biomedizin anzuregen“ (S. 9), leistet der Band jedenfalls konsequent.

Anmerkungen:
1 Monica Greco, Homo vaccus. Alexithymie und das neoliberale Gebot des Selbstseins, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000, S. 265–285.
2 Anne Harrington, Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler, Princeton, NJ 1996.