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Titel
Gewalt und Unmaking in Lucans Bellum Civile. Textanalysen aus narratologischer, wirkungsästhetischer und gewaltsoziologischer Perspektive


Autor(en)
Nill, Hans-Peter
Reihe
Amsterdam Studies in Classical Philology 27
Erschienen
Anzahl Seiten
VII, 403 S.
Preis
€ 138,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Brockkötter, International Graduate Centre for the Study of Culture, Alte Geschichte, Justus Liebig Universität Gießen

Gewalt − kaum ein Autor der Antike steht paradigmatischer für diesen Begriff als Lucan, kaum jemand stellt sie so explizit, differenziert und brutal dar wie er. Schon immer haben die Gewaltdarstellungen bei Lucan daher ein erhöhtes Interesse von Seiten der Forschung gefunden. Die Antworten auf die zumeist gestellte Frage nach dem „Warum“ fielen jedoch ebenso disparat aus, wie die Gewaltdarstellungen bei Lucan selbst, weshalb ein immer stärkerer Fokus auf das narratologische „Wie“ der Erzählung rückt.1 Diese Frage nimmt auch die Dissertation von Hans-Peter Nill auf, die einen innovativen narratologisch/theoretischen Zugang zur Gewalt bei Lucan entwickelt und mittels eines eigens erdachten Analyserasters umsetzt. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf die statische Analyse von Strukturen, sondern spürt mittels des Begriffs des unmaking explizit den dynamischen und offenen Prozessen von Gewalt und deren Wirkungsästhetik nach. Ziel ist dabei nicht die Erstellung eines „golden key“, sondern vielmehr eine Art „Probebohrung“, insbesondere auch hinsichtlich der Anwendbarkeit kultursoziologischer Forschungen auf narratologische Analysen.

Das gut strukturierte Buch gliedert sich wie folgt: In der Einleitung erläutert Nill Voraussetzungen und Ziele sowie Vorgehensweise und Methodik in jeweils drei Unterkapiteln. Darauf folgt im Hauptteil die Analyse von fünf exempla spezifischer Gewaltdarstellungen bei Lucan, die jeweils unter einem Leitgedanken von besonderer Bedeutung für den Bereich des unmaking stehen. Am Schluss werden die Ergebnisse in einem gut strukturierten Fazit zusammengeführt.

In der Einleitung (S. 1–86) stellt Nill zunächst einige generelle Gedanken zur Themenfindung an und ordnet dann sein Werk in die kenntnisreich dargestellte jüngere Lucanforschung ein. Nach einer anschaulichen Erläuterung des Aufbaus seiner Studie geht er zur Darstellung seiner Vorgehensweisen und Methoden über, die er in die aufeinander aufbauenden Teilbereiche „Gewalt und Soziologie“, „Gewalt und Literatur“ sowie „Gewalt und unmaking“ unterteilt. Im ersten Teilbereich beschäftigt sich der Autor mit der soziologischen Forschung um die „Gewaltinnovateure“, wobei die Umorientierung von der Ursachenforschung hin zur Frage nach den Prozessen und Modalitäten von Gewalt mit den Schlaglichtern Körperlichkeit, Selbstreflexivität der Gewalt und Figurationsanalyse im Fokus steht. Die Ergebnisse werden dann im zweiten Abschnitt mittels der Linse der philologischen und erzähltheoretischen Beschreibungsmechanismen in Analysekategorien überführt. Ausgehend von einem dreigliedrigen Erzähltextmodell aus fabula (fiktive Erzählwelt), story (narrative Gestaltung) und Text (Akt des Erzählens) konstituiert Nill zunächst die eher strukturalistisch geprägten Analysekriterien der Gewaltaktanten (agens; patiens; particeps), des Erzählraumes, der Zeit und der Fokalisierung. Diese ergänzt er dann um die mehr systemoffenen und dynamischen Punkte der Illusionsbildung/-durchbrechung, der Ästhetik (sinnliche Wahrnehmung, Selbstreferentialität, Leserwirkung) und des Poststrukturalismus (Denkansätze mit deren Hilfe dynamische Strukturen erfasst und strukturelle Grenzen überwunden werden können). Im letzten Teil der Einleitung wird basierend auf den zuvor gewonnenen Erkenntnissen der Begriff des unmaking definiert, der sich in Bezug auf die Gewalt als Pendel zwischen Dekonstruktion und Konstruktion zeigt: auf Ebene der fabula als Auflösung der sprachlichen und narrativen Strukturen, darauf beruhend aber auch als Anregung zur kreativen Tätigkeit im ästhetischen Prozess der Lektüre, weshalb hier auch ein Blick auf das Wirkungspotential des Textes eröffnet wird.

Die einzelnen Fallstudien im Hauptteil der Arbeit beginnen stets mit der Textstelle in Original und Übersetzung, an die sich zwei kurze Kapitel zu Kontext/Inhalt/Aufbau und Forschungsstand anschließen. Die anschließende Interpretation beginnt jeweils mit der Analyse der Gewaltkonstellation, auf die dann weitere dynamisch angewandte Analysekriterien und ein kurzes Zwischenfazit folgen.

Die erste Fallstudie „Ästhetik und Zerstückelung“ (S. 87–122) hat die Folterung des Marius Gratidianus (Lucan. 2.173–193a) zum Inhalt. Das Bedingungsverhältnis von Gewalt und Ästhetik wird dabei zunächst in Unterkapiteln zur Gewaltkonstellation (Entzug der Legitimation durch dynamischen Wechsel bei der Funktion der participes), Körper (Fokus der Folter auf Sinnesorgane, Entzug der aísthesis des Marius) und Dehumanisierung (z.B. Vergegenständlichung als Objekt der Vernichtung) konstituiert und dann im vierten Unterkapitel in Bezug zur story gesetzt. Hier korreliert z.B. die Sprachlosigkeit bzw. das Abschneiden der Zunge mit einer narrativen Unschärfe des Textes, die zugleich die Imagination des Lesers und damit den ästhetischen Prozess anregt. Insgesamt zeigt sich unmaking dabei vor allem im „Ineinandergreifen von Sinnzerstörung und Sinnkonstitution“ (S. 122), die Folter wird nicht Sinnbild der Gewalt im Bürgerkrieg, sondern der Gewalt um der Gewalt willen.

Die zweite Fallstudie „Verdichtung“ (S. 123–153) hat die Erzählung der Massenhinrichtung und daraus folgenden Tiberflut unter Sulla zum Inhalt (Lucan. 2.193b–220). Die Unterkapitel zur Gewaltkonstellation, Erzählmodus, Zeit und Erzählraum zeigen hier, dass Verdichtung auf der Ebene der fabula (z.B. das dichte Gedränge der Toten) auf der Ebene der story ein Verschmelzen von Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen zur Folge hat. Die Verdichtung führt weiterhin zu einem Verwischen bzw. einem gänzlichen Auflösen von Grenzen (z.B. indem agentes und patientes ineinander übergehen), sodass Verdichtung und Auflösung beide Teil des unmaking sind.

Die dritte Fallstudie „tension“ (S. 154–256) befasst sich mit der Seeschlacht vor Massilia, innerhalb derer die ersten fünf individuellen Gewaltszenen analysiert werden (Lucan. 3.583–646). Nill wählt hier sowie im nächsten Kapitel die englischen Termini tension (statische Spannung, die auf Gegensätzen beruht) und suspense (eine dynamische, auf den Verlauf der Handlung bezogene Spannung), da das Wort „Spannung“ beide umfasst, ohne zu differenzieren. Zur Analyse der tension nutzt Nill dann die Einzelkategorien Gewaltkonstellation, Erzählraum/Grenze, Köper/Verwundung, Zeit und Illusionsdurchbrechung, die dynamisch an die einzelnen Szenen angepasst werden. Körper und Zeit weisen dabei prinzipiell statische Oppositionspaare auf, die jedoch in einem dynamischen Spannungsverhältnis zueinanderstehen. Es offenbart sich eine hohe Erzählgeschwindigkeit mittels zooming und Snapshottechnik, die jedoch durch Momente der Gewaltzeit unterbrochen wird. Auch hier zeigen sich Instanzen narrativer Unschärfe, die zusammen mit der beständigen narrativen Durchbrechung illusionsbildender Prinzipien den Rezipienten zur „steten Aktualisierung der fiktionalen künstlichen Beschaffenheit des Textes“ (S. 256) anregen. Die Szenen weisen dabei untereinander sowohl Berührungspunkte als auch Kontraste auf, sodass sich im interszenischen Spannungsverhältnis die Selbstreferentialität der Gewalt festmachen lässt.

Die vierte Fallstudie „suspense“ (S. 257–303) hat die Erzählung um Hercules und Antaeus (Lucan. 4.593–653) zum Inhalt. Gewalt äußert sich hier nicht in blutiger Weise, sondern im Entzug von Kraft. Zwischen dem Gegensatzpaar Herkules und Antaeus ist dabei auf Ebene der Gewaltkonstellation zunächst tension festzustellen, die jedoch durch das Eingreifen der Tellus, die die Obstruktion des Antaeus erst ermöglicht, bereits durchbrochen wird. Die Verbindung zwischen Antaeus und der Erde wird auch bei der Betrachtung des Erzählraumes deutlich, eine Korrelation zwischen Handlungs- und Raumstrukturen wird somit greifbar. Eine besondere Bedeutung spielen dabei auch die Körper, deren enger Kontakt während des Kampfes sich auf der Ebene der story in semantischen und lexikalischen Ambivalenzen und mithin einer Verwischung der Körpergrenzen wiederspiegelt. Im Unterkapitel der suspense zeichnet Nill schließlich mithilfe der suspense discourse structure den sorgfältigen Spannungsaufbau während des Kampfes nach, die jedoch durch das abrupte Ende und das Ausbleiben der last minute crisis plötzlich gebrochen wird, sodass unmaking zum Vorschein kommt.

Die letzte Fallstudie „Exzess“ (S.304–336) beschäftigt sich schließlich mit einem Erzählerkommentar zur Schlacht von Pharsalos (Lucan. 7.617–631). Exzess ist dabei gefasst als Steigerung, Eskalation und Entgrenzung. Auf Ebene der Gewaltkonstellation korreliert hier die Eskalation der Gewalt mit der dynamischen Wechselwirkung zwischen den Gewaltaktanten. Die Beschreibung von Körper und Verwundung ist erneut geprägt von einer Überwindung der Körpergrenzen, aber auch von einer „kontrafaktischen Steigerung homerischer Gewaltmotive“ (S. 335). Im letzten Unterkapitel wird abschließend die Rolle des Exzesses besonders hervorgehoben: Er zeigt sich zunächst auf einer rhetorischen Ebene in der Ausweitung der praeteritio durch percursio und evidentia. Raffungen und Ellipsen zeigen, dass die Schrecken der Gewalt nicht mit Worten wiedergegeben werden können. Mit der Dramatisierung des Kampfes wird ferner die Grenze zwischen Epos und Tragödie verunklart. Zuletzt erläutert Nill die Schlüsselfunktion der Scham, die in der fabula erst die besondere Eskalation der Gewalt bewirkt, dort aber auch vom Erzähler verspürt wird und in einer Eskalation der Erzählung mündet.

Am Ende der Arbeit zieht Nill ein gut strukturiertes Fazit (S. 337–349), dass die drei Teile des deskriptiven „Wie?“ der Gewalt, des unmaking im Entsprechungsverhältnis von fabula und story sowie des Illusionsdurchbrechenden unmaking mit Auswirkung auf die ästhetische Auseinandersetzung des Lesers erläutert.

Abschließend ist festzustellen, dass das Buch seine selbstgestellten Ziele in vollem Umfang erreicht. Es wird ein gelungenes Analysesystem entwickelt, das eine präzise Erfassung der narrativen Bandbreite der Gewalt bei Lucan ermöglicht und Anregungen aus der kultursoziologischen Forschung gewinnbringend verarbeitet. Darüber hinaus gelingt es Nill auf überzeugende Weise, dynamische Prozesse der Gewalt und des unmaking nachzuweisen und deren Auswirkung auf den Prozess der ästhetischen Textrezeption sichtbar zu machen. Somit bereichert er die Forschung zur Gewalt in Lucan um einige neue Akzente, die auch interessante weitergehende Forschungen anregen dürften.

Anmerkungen:
1 siehe hier z.B. John Henderson, Lucan, the Word at War, in: Ramus 16 (1987), S. 122–164, der sich, jedoch rein assoziativ, auf unmaking bezieht (so auch Nill, 84, n.328); Jamie Masters, Poetry and Civil War in Lucan`s Bellum Civile, Cambridge 1992; Nadja Kimmerle, Lucan und der Prinzipat. Inkonsistenz und unzuverlässiges Erzählen im Bellum Civile, Berlin u.a. 2015. (allesamt auch von Nill beachtet).

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