J. Demers: The American Politics of French Theory

Cover
Titel
The American Politics of French Theory. Derrida, Deleuze, Guattari, and Foucault in Translation


Autor(en)
Demers, Jason
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 218 S.
Preis
$ 44.25
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Gloor, Historisches Seminar, Universität Zürich

Der kanadische Kultur- und Literaturwissenschaftler Jason Demers hat ein Buch geschrieben über die Rezeption französischer Theorie in den Bewegungen der „langen 1960er-Jahre“ in den USA, das zugleich auch die Politik der französischen Theorie und den Aktivismus seiner Vertreter:innen thematisiert. The American Politics of French Theory ist eine Kulturanalyse der Theorieproduktion der 1960er- und 1970er-Jahre mit einem Fokus auf die transatlantischen und außeruniversitären Rezeptionszusammenhänge, Übersetzungsvorgänge und Rekontextualisierungen. Demers liefert eine Darstellung der französischen Theoriefundamente amerikanischer Gegenkultur und kurze Geschichten von Revolten dies- und jenseits des Atlantiks. Er verortet seine Arbeit im Feld der Translation Studies. Seine Darstellung der geopolitischen und kulturellen Grenzüberschreitungen, Übersetzungen und Mischungen von Theorie, Literatur und Kunst profitiert heuristisch auch von dem reichhaltigen Begriffsfundus der Postcolonial Studies.

Der Text verbindet drei Erzählebenen, die in einem reflexiven Verhältnis zueinander stehen. Zum einen erzählt der Autor die Ereignisgeschichte der transatlantischen Kontakte zwischen Theoretiker:innen, Aktivist:innen und Künstler:innen. Dabei legt er einen Fokus auf die Medien der Interaktion: die theoriegeschichtsträchtigen Konferenzen in Baltimore und New York, das „Underground Press Syndicat“, die „Groupe d’Information sur les Prisons“ und das „Semiotext(e)“-Projekt. Zum anderen untersucht Demers die Bild- und Textgestaltung und die Erzählstrategie von Publikationen der Gegenkultur und unterzieht die Theorietexte seiner Protagonisten einem close reading. Er folgt den Referenzen und entdeckt dabei ein Beziehungsnetz von Ideen, Themen, Assoziationen und Strategien, das wiederum auf die Ereignisebene verweist, indem es die Kontaktstellen, Transitzonen und Sender der Bewegung verknüpft: Berkeley – Paris – New York – Jacques Derrida – Mark Rudd – Antonin Artaud – William S. Burroughs – Jean-Jacques Lebel – Gilles Deleuze – Jean Genet – Félix Guattari – Sylvère Lotringer – George Jackson – Michel Foucault sind Schaltstellen, die senden, empfangen, lesen, schreiben und übersetzen. Wenig überraschend, bezeichnet der Autor dieses Beziehungsnetz in Anlehnung an Gilles Deleuze als „Rhizom“.1 Als dritte Erzählung kommt eine Reflexion über die Genese der Untersuchung ins Spiel, die mit der Ereignisgeschichte und dem close reading der einschlägigen Literatur vorwärtsschreitet. Die Metaerzählung über Methode und Recherche schafft Transparenz hinsichtlich der Produktionsbedingungen des Buchs. Sie führt zu den Fundorten der Quellen und zu den Orten des Geschehens. Die Spiegelung von Ereignis, Text und Analyse ist ein konstitutives Prinzip der Arbeit.

Im ersten Kapitel werden zwei Texte von Derrida besprochen, die beide Teil des 1972 erschienenen Sammelbandes Marges de la Philosophie sind.2 Im ersten Text „Tympan“ beschreibt Derrida den „philosophischen Diskurs“ als Unternehmen, das mit Erfolg das Andere außerhalb seiner Grenzen übersetzt und unter die eigenen universellen Begriffe zwingt. In einer Vorbemerkung in seinem zweiten Text „The Ends of Man“ den Derrida 1968 im Rahmen eines Kolloquiums in New York präsentierte, stellt er eine Verbindung her zwischen seiner Philosophiekritik (Dekonstruktion) und den Protesten gegen den politischen und kulturellen Imperialismus des Westens sowie den Gegendiskursen, die sich der Vereinnahmung durch hegemoniale Diskurse erwehren. Während Derrida und seine Gefährten Louis Althusser (Das Bewusstsein als Ideologie), Roland Barthes (Der Tod des Autors), Foucault (Der Mensch als Erfindung der Humanwissenschaften), Jacques Lacan (Das Unbewusste als linguistische Struktur) die ahistorischen Begriffe des Humanismus (Mensch, Vernunft, Wahrheit) obsolet machten, wurden auch die Stimmen, die sich als Gegendiskurs formierten, inner- und außerhalb des Elfenbeinturms lauter. Demers zeigt anhand von zwei Beispielen der Université de Nanterre und der Columbia University, wie sich die Opposition der Studierenden gegen weltfremde Lehrpläne vereinte mit den Protesten der „Unassimilierbaren“ jenseits der Grenzen des Campus im Widerstand gegen die „Disziplinargesellschaft“, gegen die Polizeigewalt auf den Straßen und gegen das Napalm in Vietnam.

Das zweite Kapitel beginnt mit den USA-Reisen von Deleuze und Guattari. Im Mittelpunkt steht ihr Tourguide Jean-Jacques Lebel, der in den 1960er- und 1970er-Jahren als Übersetzer Beatliteratur im Pariser Untergrund bekannt machte. Er brachte Burroughs zu Deleuze und im Gegenzug Antonin Artaud und Deleuze zu seinen amerikanischen Freunden. Nach der „Schizo-Culture“-Konferenz 1975 nahm Lebel die Franzosen mit auf einen Roadtrip von New York nach San Francisco. Auf ihrer Reise machten sie weitere Bekanntschaft mit dem Personal der Gegenkultur jenseits des Atlantiks (Bob Dylan, Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti, Patti Smith). Auch in den Publikationen des „Underground Press Syndicate“ kreuzten sich die Wege: Französische Theorietexte standen Seite an Seite mit literarischen Texten der amerikanischen Gegenkultur. Deleuzes und Guattaris Texte tauchten im New Yorker Untergrund auf und auch Lebel schrieb sich in die Bewegung ein: In der Untergrundzeitung „RAT Subterranean“, Schrittmacherin der Proteste an der Columbia University, erschien bereits 1968 sein Bericht „French Diary“ über die Unruhen in Paris: „A Parisian word virus emptied into a New York underground, spreading through the city via RAT.“ (S. 64)

Im dritten Kapitel erzählt Demers die Geschichte der „Groupe d’information sur les prisons“ (GIP), einer Initiative von Intellektuellen, Aktivist:innen und Fachleuten um Foucault, die vor dem Hintergrund der Massenverhaftungen im Nachgang vom Mai ’68 entstand. Die GIP versuchte, mithilfe von geschmuggelten Fragebögen und Briefen die Sichtweise der Insassen auf ihren Alltag in den Disziplinaranstalten aufzunehmen, ihre Stimmen in den öffentlichen Raum zu übertragen und in einen Gegendiskurs zu überführen. In der GIP-Publikation Intolérable3 wurden Bezüge zu den Gefängnisaufständen in den Vereinigten Staaten hergestellt. Eine Ausgabe, eingeleitet von Jean Genet, ist dem Black-Panther-Aktivisten Jackson gewidmet, der in Isolationshaft war und während einer Gefängnisrevolte erschossen wurde.

Im letzten Kapitel beschreibt Demers die Zeitschrift Semiotext(e), heraugegeben von Lotringer und Student:innen der Columbia University, als einen weiteren Distributionskanal französischer Theorie in den USA. Er folgt den ersten Ausgaben, die zur „Schizo-Culture“-Konferenz 1975 in New York führten. Ein Treffen, bei dem sich französische Theoretiker:innen, amerikanische Schriftsteller:innen, Musiker:innen und Vertreter:innen der Antipsychiatriebewegung und des Prison Abolition Movement die Bühne teilten. Lotringer bewertet die chaotische Konferenz als Misserfolg. Die Simultanübersetzer:innen hatten Mühe, sich über den Wortsinn der Vorträge zu einigen. Der enervierte Foucault, der von einem Provokateur als CIA-Agent beschimpft und vom Publikum ausgebuht wurde, bezeichnete den Anlass als „the last countercultural event of the sixties“. (S. 156) Demers untersucht die Ausgaben von „Semiotext(e)“, die auf das Ereignis folgten, bis in die 1980er-Jahre hinein und kommt zum Schluss, dass die Konferenz weder als Misserfolg noch als Endpunkt der „langen 1960er-Jahre“ zu werten sei, sondern Anstoß war für einen fortdauernden transatlantischen Konversations- und Übersetzungsvorgang von französischer Theorie und amerikanischer Kunst und Gegenkultur.

Wie bereits erwähnt, spiegeln sich in der Erzählung von Demers Ereignis, Text und Analyse. Auf der deskriptiven, auf der analytischen wie auch auf der selbstreflexiven methodologischen Ebene verwendet der Autor Quellensprache mit dem Effekt, dass nicht immer klar ist, wer spricht. Das Verschwimmen von Gegenstand und Analyse mag ein Effekt der Textnähe literaturwissenschaftlicher Methodik sein. Das Durcheinanderreden von Autor und Quellenautor:innen mindert stellenweise jedoch die Nachvollziehbarkeit der Argumentation. Dazu kommt, dass eine unübersichtliche Fülle an Personen, Orten, Ereignissen, Theoremen, Begriffen aufgerufen wird. Es sind Teile in Bewegung und Teile der Bewegungen, die sich gegenseitig auf eine kausal nicht deutlich bestimmbare Weise perpetuieren. An manchen Stellen wären eine einfache, klare Sprache und eine erkennbare Stimme des Autors für die Ordnung von Gegenstand und Gedanke hilfreich gewesen. Es fehlt auch eine Haltung gegenüber der mächtigen und idiosynkratischen Rede der Protagonisten, die Reibung erzeugt hätte.

Am stärksten ist der Text dort, wo er konkret wird, wo die großen Namen und Theorieformationen weniger dominant sind und die Stimme des Autors mehr Raum bekommt. Zum Beispiel in Kapitel zwei: Hier führt Demers den Feedbackeffekt von Text und politischem Ereignis auf der Grundlage einer sorgfältigen Bild- und Textanalyse der New Yorker Untergrundzeitung „RAT“ vor. Er zeigt schlüssig, wie die Publikation als Relais und Motor die Proteste an der Columbia Universität perpetuierte und in eine politische Bewegung überführte, wie die „RAT“ den lokalen Kampf in einen internationalen Kontext stellte und die Erfahrungen der Student:innen in einen transatlantischen Gegendiskurs übersetzte. Auch das dritte Kapitel, in dem Demers gut informiert die Geschichte der „Groupe d`Information sur les prisons“ als weiteres Bewegungsrelais erzählt, habe ich gerne gelesen. Das dritte Kapitel sticht heraus, da es einen nüchternen Ton anschlägt und über weite Strecken ohne Theorieballast auskommt.

„Perhaps the truth of the GIP is in the future.“ (S. 142) Demers bringt den Einsatz seines Buchs auf den Punkt, wenn er das dritte Kapitel angesichts der herrschenden Verhältnisse in den Vereinigten Staaten der Gegenwart mit diesem hoffnungsvollen Ausblick schließt. Trotz der Kritik habe ich das gut recherchierte, mit Verve geschriebene Buch mit Gewinn gelesen, nicht zuletzt aufgrund seiner Aktualitätsbezüge.

Anmerkungen:
1 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977.
2 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1988.
3 Philippe Artières (Hrsg.), Intolérable. Groupe d`information sur les prisons, Paris 2013.