Cover
Titel
The Crisis Paradigm. Description and Prescription in Social and Political Theory


Autor(en)
Gilbert, Andrew Simon
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 247 S.
Preis
$ 84.99; € 64,19
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isette Schuhmacher, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

So wie der Begriff „Krise“ im öffentlich-politischen Diskurs derzeit wieder Konjunktur hat, hat auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Krisen neuen Aufwind erfahren. Seit der globalen Finanzkrise von 2007/08 sind unzählige Publikationen zum Thema aus Disziplinen wie der Soziologie, den Politik- und Wirtschaftswissenschaften, aber auch der Philosophie, Geschichtswissenschaft, Ethnologie oder den Kommunikationswissenschaften erschienen.1 Das Spektrum an wissenschaftlichen Krisenbetrachtungen reicht dabei von der Analyse spezifischer Einzelkrisen über allgemeintheoretische Auseinandersetzungen mit dem Konzept Krise bis hin zu Untersuchungen des Krisendiskurses und -sprachgebrauchs. Andrew Simon Gilberts Buch „The Crisis Paradigm. Description and Prescription in Social and Political Theory“ ordnet sich in das letztgenannte Forschungsfeld ein. Bewusst nimmt Gilbert Abstand davon, eine eigene Krisentheorie oder -definition vorzulegen. Im Fokus steht vielmehr, „how crisis operates as a conceptual mode for observing and describing our world“ (S. ix). Damit geht es dem Autor vor allem darum, wie bestimmte Theoretiker:innen der Geistes- und Sozialwissenschaften das Konzept „Krise“ verwenden: „In particular, I am interested in the way crisis theories burden social agents with calls for action, decisions, or the need to come to understandings. In other words, the way these theories use ‚crisis‘ as a conceptual pivot between descriptive and prescriptive modes of theorizing.“ (S. 24)

Gilbert behandelt in vier Kapiteln von jeweils 30–50 Seiten Länge nacheinander die Krisentheorien von Georg Lukács, Reinhart Koselleck, Hannah Arendt und Jürgen Habermas. Seine Argumentation ist als eine Kritik des Krisenparadigmas der modernen politischen und philosophischen Theorie angelegt. Die Ausgangshypothese lautet, die Ansätze von Lukács, Koselleck, Arendt und Habermas seien als „example[s] of a conceptual paradigm“ (S. 6), dem „crisis paradigm“ zu betrachten. Der Autor räumt dabei der Erläuterung des titelgebenden Begriffs erstaunlich wenig Raum ein. Auf gerade einmal drei Seiten in der Einleitung führt Gilbert aus, was er unter Krise als „conceptual paradigm“ versteht: eine symbolische Verallgemeinerung, die eine Reihe von Problemen und Annahmen unter sich fasse und es den Beobachter:innen erlaube, eine komplexe Situation durch eine allgemeine Logik zu interpretieren. Mit Konzepten wie „Krise“ einigen sich die Theorien also auf einen gemeinsamen „point of reference (crisis)“ (S. 7), der den Ausgangspunkt für konkurrierende Deutungen der Krisenursachen und -lösungen bildet.

Das Krisenparadigma offenbart nach Gilbert einen blinden Fleck. Die verschiedenen Krisentheorien nehmen die Existenz einer Krise als „ontological starting point“ (S. 3) an, sodass die Krisenwahrnehmung und anfängliche Setzung von „Krise“ als Beschreibungskategorie selbst nicht hinterfragt werden. Gilbert referiert näher auf Janet Roitmans Kritik2, der zufolge Krisentheorien aus der Existenz einer Krise ein objektives Scheitern der sozialen Welt und Ansprüche auf Wahrheit ableiten, ohne auf den Akt der normativen Unterscheidung von „richtig/falsch“ oder „rational/irrational“ zu reflektieren. Er greift damit eine klassische Kritik an objektiven Krisenansätzen auf, die aus dem Auftreten von Krisen normative Standards für die Kritik und mögliche Lösung krisenhafter Verhältnisse gewinnen. Der Autor spricht deshalb wiederholt von „a crisis ontology“ (S. 9).

Ein besonders drastisches Beispiel für das krisenontologische Denken finde sich, so Gilbert, in Lukács‘ Werk „Geschichte und Klassenbewusstsein“.3 Gilbert arbeitet heraus, dass Lukács ein totalisierendes Krisennarrativ vertritt. Lukács nehme an, in modernen kapitalistischen Gesellschaften dominiere die Kommodifizierung und Warenlogik jeden Aspekt des sozialen Lebens. Er leitet damit die Krisen der sozialen Welt aus einer einzigen ökonomisch-systemischen Problematik ab und begreift sie als Ausdruck einer die ganze Gesellschaft erfassenden „Verdinglichung“. Dabei verwendet Lukács die Konzepte Verdinglichung und Krise im Zusammenhang einer marxistischen Klassentheorie, die zu erklären beansprucht, warum vorrangig das Proletariat zu einem Revolutionsbewusstsein befähigt sein soll. Gilbert kritisiert an Lukács‘ Gebrauch des Krisenparadigmas vor allem dessen teleologische Geschichtsauffassung. Seine Theorie konstruiere eine nicht-verdinglichte Zukunft und bürde dem Proletariat Handlungsrezepte für die ausstehende emanzipative Praxis auf.

Ist mit Lukács das Negativbeispiel einer Krisenontologie vorgestellt, bespricht Gilbert in den darauffolgenden Kapiteln drei Positionen, die seines Erachtens kritischer gegenüber dem Krisenparadigma sind, auch wenn sie ebenfalls Mängel aufweisen. Koselleck kommt dabei eine besondere Rolle zu. Gilbert referiert auf Kosellecks „konstruktivistischen Ansatz“ (S. 62) einer Begriffsgeschichte von Krise in seinem Buch „Kritik und Krise“.4 Koselleck untersucht darin, wie Krisensemantiken bei der Konstruktion von Zeit, Zukunftserwartungen und geschichtlichen Handlungsalternativen wirksam sind. Er spürt die geschichtsphilosophischen Konnotationen des Krisenbegriffs auf, die er als Ursache für die pathologisch-destruktiven Tendenzen der modernen Ideologien und ihr Gerieren als Universalmacht ausmacht. Kosellecks konstruktivistische Betrachtung überzeugt nach Gilbert insofern, als sie das universalistische Verständnis von Krise als Schauplatz semantischer Kämpfe zwischen partikularen Kräften offenlegt. Gilbert mahnt jedoch zur Vorsicht gegenüber Kosellecks kulturpessimistischem Geschichtsbild „einer permanenten Krise“ (S. 73) der Moderne, welches Anleihen bei geschichtsphilosophisch-totalisierenden Ideen wie „Regress“ und „Pathologie“ mache und Konnotationen von „autoritärer Expertise“ (S. 97) aufweise.

Im anschließenden Kapitel rekonstruiert der Autor Arendts (implizite) Definition von Krise und bezieht sich dafür vor allem auf ihren Aufsatzband „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“.5 Gilbert identifiziert abermals eine sowohl kritische als auch unreflektierte Verwendung des Krisenparadigmas. Er führt aus, dass sich nach Arendt die allgemeine Krise der modernen Zeit darin zeigt, in Reaktion auf den Zusammenbruch traditioneller Bindungen Zuflucht in totalisierenden Narrativen von Geschichte und Gesellschaft zu suchen. Der Totalitarismus sei ein extremes Beispiel dafür. Arendt kritisiert geschichtsphilosophische Krisennarrative, die die menschliche Handlungsfähigkeit zugunsten einer Idee von universeller Wahrheit und Notwendigkeit herabsetzen. Demgegenüber will sie die Idee der Krise rehabilitieren und sie als Möglichkeit zur Urteilsbildung und kollektiver Handlungsfähigkeit verstehen. Genau dabei jedoch, so Gilberts Einwand, verwendet Arendt Krise im präskriptiven Sinne als Hinwendung zur Politik. Krise „becomes the vehicle for [her] normative claims, and as such functions as a ‘blind-spot‘ of [her] observation“ (S. 21).

Abschließend behandelt Gilbert die unterschiedlichen Krisenauffassungen von Jürgen Habermas. In seinem frühen Werk „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“6 entwirft Habermas eine objektive Krisentheorie aus neomarxistischer Perspektive. In seinem späteren Werk vollzieht er dann die Wende zur Diskurstheorie. Habermas geht es nun nicht mehr darum, mithilfe von soziologischer Theoriebildung Krisen vorauszusagen. Seine Diskurstheorie „requires a pragmatist appreciation of ‘crisis‘ as a mode of operation“ (S. 181) im demokratischen Diskurs. Gilbert schließt daher, dass mit Habermas‘ Auffassung von „crisis as a public concept“ (S. 194) im Einklang steht, Krise vorrangig als diskursives Mittel zur Meinungsbildung der Akteure zu behandeln – und weniger als Kandidat für Gesellschafts- und Geschichtstheorie. Der späte Habermas dient Gilbert als ein Beispiel dafür, wie krisenontologisches Denken zugunsten eines Verständnisses von Krise als diskursive Konstruktion verabschiedet werden kann.

Den Abschluss der Untersuchung bildet eine kurze Zusammenfassung der Entwicklung der Krisensemantik und ihrer Verwendung in den modernen Geistes- und Sozialwissenschaften. Dabei überrascht, dass Gilbert auf eine auswertende Betrachtung seiner Deutungen weitgehend verzichtet. Hierin bestätigt sich ein genereller Leseeindruck: Der Autor konzentriert sich auf die detaillierte Rekonstruktion der von ihm besprochenen Theorien, systematische Überlegungen zum Krisenparadigma treten dabei eher in den Hintergrund. Besonders hervorzuheben ist ein weiterer Aspekt: Die zentrale Botschaft des Buches lautet, dass Krisentheorien größtmögliche Enthaltsamkeit gegenüber der Formulierung von normativen Standards und Transformationspotentialen üben sollten. Dies führt Gilbert zu der resoluten – und ebenfalls normativen – Forderung, dass Untersuchungen der Krisensemantik Krisenontologien nicht zu ergänzen, sondern zu suspendieren haben. Zwar behält der Autor recht, wenn er vor zu objektivistischen Krisenbetrachtungen warnt. Dennoch müssen objektive Krisentheorien nicht immer derart unkritisch verfahren, wie es Gilbert zu unterstellen scheint.7 Die objektive Seite von Krisen kann über die Art des Scheiterns sozialer Gebilde und mögliche Lösungen informieren. Aus dem Blick geraten sollte sie aber vor allem auch deshalb nicht, weil sonst die Feststellung und Beschreibung von Krisen Gefahr läuft, bloßer Ausdruck eines semantischen Machtspiels um Deutungshoheit zu sein.

Dieser Einwand soll jedoch nicht die Leistung des Buches insgesamt schmälern. Gilbert legt eine gut leserliche und informative Studie über Krisen und ihre Semantik vor. Das Buch liefert eine gehaltvolle Analyse ausgewählter Krisentheorien und bietet Einblick in eine zentrale Krisenposition der jüngeren Zeit. Allen, die an der aktuellen Krisendebatte interessiert sind, sei die Lektüre dieses Buches empfohlen.

Anmerkungen:
1 Als exemplarisch für eine vielseitige, interdisziplinäre Betrachtung von Krise seien hier zwei Sammelbände genannt: Thomas Mergel (Hrsg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt am Main 2012; Katja Patzel-Mattern / Gerrit Jasper Schenk / Carla Meyer (Hrsg.), Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013.
2 Janet Roitman, Anti-Crisis, Durham 2014.
3 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923.
4 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973.
5 Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 2012.
6 Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973.
7 Ein objektives Verständnis von Krise vertreten in der aktuellen Debatte zum Beispiel: Rodrigo Cordero, Crisis and Critique: On the Fragile Foundations of Social Life, New York 2017; Alex Demirovic u.a. (Hrsg.), Vielfachkrise. Im finanzdominierten Kapitalismus, Hamburg 2011; Nancy Fraser / Rahel Jaeggi, Capitalism: A Conversation, Cambridge (Mass.) 2018.