R. Matuszewski: Räume der Reputation

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Titel
Räume der Reputation. Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr.


Autor(en)
Matuszewski, Rafał
Reihe
Historia Einzelschriften 257
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Degelmann, Humboldt-Universität zu Berlin

Die anzuzeigende Untersuchung stellt die leicht überarbeitete Version einer Heidelberger Dissertation dar. Darin widmet sich der Autor Rafał Matuszewski der politischen Kommunikation im spätklassischen Athen. „[D]arunter ist das prozesshafte Herstellen und Übertragen von Sinn durch soziale Akteure und damit die Beeinflussung von Handlungen, Erwartungen und Einstellungen von Individuen zu verstehen“ (S. 17). Eine räumliche Perspektive fügt Matuszewski seinem Interesse hinzu, indem er auf Kostas Vlassopoulos‘ free spaces Bezug nimmt1, um den „Zusammenhang von Raum und Kommunikation“ zu ergründen. Daher ist der Titel des Buches auch eher als Understatement zu verstehen, denn es sind nicht nur die Politen, die hier eine Rolle spielen, sondern auch Metöken, Frauen, Fremde und Unfreie. Den Hintergrund der Studie bildet die programmatische Annahme, dass sich die sozialen Aushandlungsprozesse des 4. grundsätzlich von denen des 5. Jahrhunderts v. Chr. unterschieden. Folglich legt jedes Kapitel Wert auf Erscheinungen des Wandels.

Nach einer prägnanten und – trotz ihres kulturalistisch aufgeklärten Fundaments – unprätentiösen Einleitung (Kapitel 1) eröffnet Matuszewski den ersten Teil seiner Arbeit (Kapitel 2) mit Vorüberlegungen zur sozialen Bedeutung des „Raums“. Vor dem Hintergrund eines gemäßigten Konstruktivismus, wonach man den Raum „lesen“ kann, folgen mehrere Teilkapitel zu den Interaktionsräumen der Stadt (asty) und des Piräus. Dabei werden insbesondere die Arbeiten der Alten und Mittleren Komödie sowie der attischen Redner herangezogen. Das attische Umland klammert Matuszewski aus, weil sich die Quellenlage zur chora weitgehend auf Inschriften beschränkt, die ein einseitiges Bild von Kommunikation vermitteln.

Bei der Besprechung der Straße, der Agora, der Barbierstuben und zahlreicher weiterer Geschäfte und Handwerkstätten (ergasteria) weiß Matuszewski durch eine geschickte Verbindung des literarischen mit dem archäologischen Material zu überzeugen. Stets folgt der begrifflichen Bestimmung eine Diskussion der baulichen Überreste. Insgesamt kommt er dabei zu einem differenzierten Befund. Während die Straßen stets von hoher gesellschaftlicher Bedeutung waren, weil man gar nicht anders konnte, als sie zu passieren, sich dabei zu zeigen und zu interagieren (S. 47), kommt die Agora im Laufe des 4. Jahrhunderts als zentraler Ort des Austauschs von Waren und Informationen zusehends in Verruf (S. 61). Ähnliches gilt für die zahlreichen ergasteria. Die Barbierstuben seien erst in der nachklassischen Zeit als Hort der Unwahrheit und des Pöbels diffamiert worden. Bis in die Zeit Menanders jedoch könne man beobachten, dass die Salons als wertvolle Quelle für Neuigkeiten und Nachrichten angesehen wurden. Dagegen luden viele andere Gewerbe wie Parfümeure, Schuster, Geldwechsler und Walker aus verschiedenen Gründen nicht dazu ein, länger zu verweilen und sich über bürgerliche Belange auszutauschen. Entweder galt eine Lokalität als zu abgehoben, um dem Bürgerideal der isonomia zu entsprechen, oder es mangelte an Würde, sodass man für regelmäßige Besuche – etwa in einer Walkerei – gescholten werden konnte, war man nicht aus geschäftlichen Gründen zugegen; man denke auch an den Spott über Kleons Gerbergewerbe, das hier keine Besprechung findet, weil es nicht dem Zeitraum der Studie angehört.

Orten der Geselligkeit räumt Matuszewski ebenfalls Platz ein und behandelt Wirtshäuser, Spielhallen, Freuden- und Badehäuser sowie Gymnasien und Palästren. Auch in deren Fall argumentiert er, dass sie nicht grundsätzlich gut oder schlecht beleumundet waren. Zum einen gab es große Unterschiede im Ansehen einzelner Etablissements innerhalb eines Zweiges. War ein Haus nahe der Agora oder weitentfernt, womöglich in einem heruntergekommenen Stadtteil? Wer war der Inhaber? Ein ehrbarer Mann oder eine zwielichtige Gestalt? Wer verkehrte dort noch? Ebenso galt es dabei den Ruf der übrigen Besucher im Auge zu halten, um sich nicht selbst zu schaden. Daneben vertritt der Autor aber auch mitunter kontroverse, zuweilen leicht polemisch vorgetragene Positionen; so etwa bei der Besprechung der kapeleia und balaneia. Erstere seien nicht so dubios bewertet worden, wie häufig argumentiert wurde (S. 98f.); letztere hätten nicht die bedeutende Funktion für die bürgerliche Vergemeinschaftung besessen wie lange Zeit behauptet (S. 152).

Zum anderen spielt die Zeitachse für das Prestige einer Lokalität eine wichtige Rolle; was man zunächst despektierlich betrachtete wie die Spielhäuser (S. 113), konnte ein paar Dekaden später hoch im Kurs stehen. Vor allem bei den Gymnasien und Palästren beobachtet Matuszewski im Laufe des 4. Jahrhunderts eine Veränderung der sozialen Funktion; sie entwickelten sich von Sportanlagen zu Zentren der intellektuellen, aber auch militärischen Ausbildung (S. 169).

Ein Zwischenfazit beschließt den ersten Teil der Untersuchung. Matuszewski konstatiert, dass sich die „Dichte der Kommunikation“ in der wachsenden Zahl von Räumen der Soziabilität niederschlage (S. 174ff.); dort würden Würde und Renommee einer Person unentwegt ausgehandelt. Zudem hält er fest, dass sozialer Status, Alter und Geschlecht einen Einfluss darauf hatten, wie man den Stadtraum wahrnahm und sich darin bewegte – immer vor dem Hintergrund, sein Gesicht nicht zu verlieren. Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass die Athener kein moral zoning kannten; fast alle Gewerbe waren über die gesamte Stadt verteilt, auch wenn es zu Ballungen einzelner Geschäfte und Werkstätten kam. Dadurch war keine Gegend besonders verfemt. Zuletzt wird hervorgehoben, wie fast alle der erwähnten Lokalitäten Orte waren, an denen sich Vollbürger mit anderen Teilen der Gesellschaft austauschten – von der betagten Sklavin bis zum neureichen Händler aus der Fremde.

Im kürzeren, zweiten Hauptteil befasst sich Matuszewski mit den „Normen, Modi und Medien der bürgerlichen Kommunikation“ (S. 179). Deren symbolische Dimension bot mannigfaltige Möglichkeiten der Selbstinszenierung, aber auch der Herabsetzung durch andere in einem vom Wettbewerb gekennzeichneten Gemeinwesen. Mit beiden Strategien versuchte man Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Zunächst nimmt er Hexis und Habitus (Pierre Bourdieu) in den Blick, wenn er Gestik und Mimik, den Umgang mit Kopf- und Gesichtshaar, Bewegungs- und Sprechstile sowie sowohl degoutante als auch emotionale Äußerungen bespricht (Kapitel 3). Dabei will er eine Ausweitung von „Körpertechniken“ (Marcel Mauss) und einen damit gestiegenen Anspruch an die Selbstkontrolle der Bürger im 4. Jahrhundert feststellen; das spiegele auch die gewachsene Bedeutung von sophrosyne und verwandter Vorstellungen wider. Diese Annahme wird auch weitgehend für die im Anschluss analysierten Kleidungscodes, die Häuser und Gräber der Athener vertreten (Kapitel 4).

Besonders spannend ist das finale Kapitel (Kapitel 5), das als logische Konsequenz der vorherigen Überlegungen gelten darf. Dabei geht es um den Zusammenhang zwischen den Informationsnetzwerken der Polis, Bürgermentalität und Reputation des Einzelnen, die sich im griechischen Begriff der pheme treffen. Pheme steht sowohl für den Ruf einer Person als auch für die über sie verbreiteten Geschichten; es ist also Gerede, das das Ansehen einer Person konstituiert. Matuszewski argumentiert, die soziale Kontrolle habe im 4. Jahrhundert stetig zugenommen und dafür gesorgt, dass dem Klatsch eine immer bedeutendere politische Funktion zukam. Gerade an dieser These lässt sich auch ein Grundproblem der Arbeit ausmachen. Viele Wertungen werden vor dem Fenster der Zustände des 5. Jahrhunderts vorgenommen, ohne diese Zeit ansatzweise aufzuarbeiten. Dass sich viele Institutionen, Praktiken, Normen und Werte wandeln, ist kaum zu bezweifeln, aber die Vehemenz, mit der Matuszewski für Veränderung eintritt, lässt ihn das Maß dieses Prozesses verlieren. Tatsächlich wissen wir über viele von ihm besprochenen Gegenstände nichts vor dieser Zeit, sodass ein Vergleich spekulativ bleibt: Kann etwa pheme in der Archaik, wie durch Hesiod belegt, scharfes Regulativ sozialen Miteinanders sein, um in der Frühklassik weniger zu wirken als unter Lykurg (S. 295)?

Alle Vorzüge und Zweifel (an) dieser anregenden Studie, die durch ein knappes Fazit, Literaturverzeichnis, diverse Register und fünf klug gewählte Karten abgerundet wird, können hier leider nicht genannt werden. Zu bedauern bleibt lediglich das Fehlen eines Sachindex, der die Untersuchung umso nützlicher für eine Alltags- und Mentalitätsgeschichte machen würde ebenso wie für die Erforschung der politischen Kultur im spätklassischen Athen.

Anmerkung:
1 Kostas Vlassopoulos, Free Spaces. Identity, Experience and Democracy in Classical Athens, in: Classical Quarterly 57 (2007), 1, S. 33–52.