Philipp Lenhards Biographie über Friedrich Pollock verfolgt zwei Motive: die Rekonstruktion der wunderlichen Freundschaft zwischen Pollock und Max Horkheimer sowie die Neubewertung seiner wissenschaftlichen Leistungen. Beides steht für Lenhard in einem Zusammenhang, denn das theoretische Understatement Pollocks findet seine Entsprechung im Zwischenmenschlichen. So kommt Lenhard beständig auf die von außen undurchsichtige, skurril wirkende Beziehung zwischen Pollock und Horkheimer zu sprechen, die ihr zwischenmenschliches „intérieur“ – eine Chiffre für wechselseitige Liebe, Einfühlungsvermögen und spirituelle Stärkung – durch beständig erneuerte förmliche Verträge mit entsprechenden Geboten und Verboten verteidigt. Für den Biographen, so das zentrale Argument, wird die Utopie des Besseren in der Intimität des Kleinen vorgelebt. Das Elysium muss aber nicht nur durch Kontrakte mit entsprechenden Pflichten und Verboten verbürgt, sondern auch gegenüber den Anderen (den Geliebten, den Ehefrauen, den Freunden, den Kollegen und Angestellten allemal) mit Vehemenz bis hin zur Brutalität verteidigt werden. Doch, so mag sich der Leser nach der Lektüre fragen, was ist das für eine Freundschaft, wenn sich Pollock selbst in privatesten Momenten immer wieder klaglos Horkheimers Willen fast schon devot unterordnet?
Lenhard will nicht nur Privates preisgeben, sondern einen Gelehrten würdigen, der zu Unrecht in der Wissenschaftsgeschichte des Instituts für Sozialforschung sonst nur als dessen „Hausmeier“ präsentiert werde. Die biographischen Begebenheiten sind eben mehr als bloßes Ornament, sie dienen als Erklärung und Rechtfertigung; insbesondere beantworten sie die Frage, weshalb Pollock kein großes Hauptwerk verfasst habe. Dieses verstecke sich, so Lenhard, hinter den zahlreichen kleinen und größeren Texten, die der Biograph zurzeit im Freiburger Ça ira Verlag herausgibt. Zugleich dürfte die so motivierte parallele Erzählung von Freundschaft und wissenschaftlicher Leistung einem Drahtseilakt gleichen, denn der „originäre Denker“ (S. 11) Pollock müsse zwar vom Schatten Horkheimers befreit werden, zugleich bleibt Letzterer beständig präsent, um die mangelnde Sichtbarkeit Pollocks zu entschuldigen. Vielleicht hätte ein nüchterner Ansatz, der die wissenschaftlichen Leistungen von Pollock schlicht benennt, statt die Geschichte des Menschen „mit all seinen Konflikten, Stärken und Schwächen“ (S. 9) zu präsentieren, einer Neubewertung Pollocks mehr gedient.
So erzählt Lenhard die Geschichte der Rebellion des Stuttgarter Unternehmersohns im Fin de Siècle, die mit dem Ausbruch aus der elterlichen antiintellektualistischen Krämerwelt und der „Flucht“ ins weltmännisch-mondäne Brüssel und London beginnt. Gegen die „ekle Kleinigkeit“ leben die beiden Freunde mit Horkheimers Geliebter Suzanne Neumeier in einer Ménage-à-trois den „Traum, der unsre kühnste Sehnsucht einschloß […] – immerwährendes ungestörtes Beisammensein“.1 Dieser ursprüngliche Impuls der „île heureuse“ kann als ein Moment individualistischer Abgrenzung gegen den Philistergeist gedeutet werden. Der kurze Traum immerwährenden Glücks ist jedoch schnell aus, Neumeier bricht mit Horkheimer. Was Pollock und Horkheimer bleibt, ist die Erinnerung an die einst seligen Tage.
1914 zunächst kriegsbegeistert, holt den im Hinterland stationierten Pollock dann schnell die Langeweile ein. Erst durch Münchner Künstlerkreise (insbesondere durch die Fotografin Germaine Krull) kommen er und Horkheimer in Kontakt mit linksradikalen Intellektuellen, Schriftstellern und Politikern. Die Unterstützung, die beide einigen Sozialisten entgegenbringen, führt sie zum unorthodoxen Marxismus und später zur Zusammenarbeit mit dem Moskauer Marx-Engels-Institut. Zugleich trägt sie beiden den Vorwurf ein, Mitglied einer kommunistischen Tarnorganisation zu sein. Souverän ordnet Lenhard sowohl die Promotions- als auch die Habilitationsschrift in die damaligen Diskussionen der „Marxistischen Arbeitswoche“ ein. Auch wenn der politische Fluchtpunkt der Habilitation nicht restlos ausbuchstabiert wird, zeigt Lenhard überzeugend, dass Pollocks Interesse an gemeinwirtschaftlichen Versuchen bei aller Faszination keine Verteidigung des sowjetischen Staates ist. Mehr als bedenkenswert dürfte die Frage sein, ob der Verlust der ursprünglichen politischen Sympathie für die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion nicht der Grundstein für Pollocks Rückzug „in den Schatten Horkheimers“ (S. 105) legt.
Seit den frühen 1930er-Jahren betreibt Pollock nicht nur beizeiten und tatkräftig die Emigration des Instituts und rettet so zahllose Mitarbeiter, ebenso organisiert er Projekte zum Fortbestand des Instituts im Exil. Doch diese Wertschätzung genügt Lenhard nicht: Er möchte den Theoretiker und Wissenschaftler präsentieren. Auch nimmt die Beschreibung des Instituts mitunter etwas zu idyllische Züge an. Die Charakterisierung des Instituts als Heimstätte verfolgter Intellektueller, „die an eigener Haut hatten erfahren müssen, wie ihre sozialistischen oder liberalen Illusionen an der Blindheit und Schwäche der Massen zerplatzen“ (S. 151), impliziert neben starken normativen Prämissen einen Geist der Kollegialität, der zweifellos überzeichnet ist. Nicht alle Institutsmitarbeiter lassen sich als von der Arbeiterbewegung enttäuschte Linksliberale charakterisieren. Zumindest hätten nicht alle den seltsam kulturkritischen Begriff der „Massen“ zur Beschreibung proletarischer und bürgerlicher Schichten verwendet. Vor allem aber degradiert eine zu weichzeichnerische Sicht des Instituts mit einer vermuteten Corporate Identity unweigerlich die anderen Institutsmitarbeiter zur bloßen Staffage und lädt so förmlich zur Kritik ein.2 Um ein Beispiel zu nennen: Die Entlassung des auf Lebenszeit angestellten Erich Fromm kommt nur aus Sicht von Horkheimer und Pollock zur Sprache, die Darstellung bekommt dadurch etwas Parteiisches.
Ausführlich schildert Lenhard die am Institut verhandelte Frage, ob der Nationalsozialismus nicht nur ein neuartiges politisches Regime, sondern auch eine neue Gesellschaftsordnung sei. Der Autor erzählt die Geschichte eines nicht ganz unproblematischen Lehrstücks: Der Einsicht in den „fehlenden proletarischen Widerstand“ gegen den Nationalsozialismus folgt Pollocks Erkenntnis, dass die wirtschaftliche Konsolidierung Deutschlands in den 1930er-Jahren zu keiner europäischen Friedensordnung führen werde. Schließlich habe der Schrecken über die antisemitische und rassistische Entrechtungs- und Vernichtungspolitik zu einer grundlegenden Revision des Programms der Kritischen Theorie geführt, wie Horkheimer sie im Aufsatz „Die Juden und Europa“ (1939/40) formuliert.3 Im Staatskapitalismus, so Pollock, sei das Gewinn- durch das Machtmotiv ersetzt, weshalb die Herrschenden jegliches politische Ziel (konkret: die Vernichtungspolitik) vollziehen können, welches in einer marxistischen Analyse nur als irrationale Begleiterscheinung missverstanden werden würde. Lenhard rügt Franz L. Neumann, Pollocks schärfsten Kritiker am Institut, weil dieser, vom revolutionären Charakter der Arbeiterklasse noch immer überzeugt, das fehlende, später nachgeholte Eingeständnis in die Fragilität der eigenen Theorie nur mit „emotionale[r] Aufwallung und Wut“ (S. 206) hätte kompensieren können. Eine solche, unangenehm ins Persönliche gehende Charakterisierung von Neumanns politiktheoretischer Position unterschlägt allerdings dessen detaillierte empirische und methodische Kritik.4 Neumann geht es, anders als Lenhard behauptet, mitnichten um eine Lobeshymne auf die Arbeiterklasse, vielmehr will er zeigen, dass hinter der Fassade der propagierten „Volksgemeinschaft“ unterdrückte Gruppen existieren, die für eine kommende politische Neuordnung eine Schlüsselfunktion übernehmen könnten.
Wie auch immer diese Debatte heute bewertet werden mag, letztlich bleiben Pollocks Überlegungen unvollendet. Eine systematisierende Monografie zum Staatskapitalismus legt er nicht vor und auch sein Biograph entwickelt keine fortführenden Überlegungen. Vielleicht ist es verräterisch, dass Lenhard weder wissenschaftliche noch politische Tätigkeiten (Pollocks unbekannte Arbeiten für das Board of Economic Warfare werden nur kurz erwähnt) präsentiert, sondern sich stattdessen etwa der von ihm besuchten Dinner Party bei Eleanor Roosevelt widmet. Auch die nur kurz umrissenen geschichtsphilosophischen Symposien mit Adolph Löwe und Paul Tillich werden nahezu lakonisch als „wenig befriedigend“ (S. 242) umrissen, um schließlich eine unbekannte intellektuelle Verehrerin zu zitieren, die in dem „Seelsorger Pollock“ (S. 243) einen Theologen zu erkennen glaubt, dem die Ehre zuteilwerden solle, an der Riverside Church mit einer Statue neben Einstein verewigt zu werden. Solche ironisch wirkenden Textstellen konterkarieren den stets betonten bedeutsamen Beitrag Pollocks für die theoretische Fortentwicklung der Frankfurter Schule. Konkret betrifft dies die von ihm und Horkheimer entworfene, aber von anderen Kritischen Theoretikern kaum aufgegriffene Racket-Theorie. Sie wird aber ohnehin nur kurz behandelt.
Vielmehr bringt Lenhard das schwierige Verhältnis zu seiner Familie, aber auch ein gewisses Kriseln zwischen ihm und Horkheimer zur Sprache. Pollocks neue Liebe, Carlota Weil, die er 1946 heiratet und damit finanziell völlig unabhängig wird, führt zu Spannungen mit Horkheimer, den er in seinen Entscheidungen in letzter Konsequenz seiner am Institut nur geduldeten Ehefrau „vorzieht“. Trotz aller Zweifel fügt sich Pollock und folgt Horkheimer „in die nur verhüllte“ (S. 274) Volksgemeinschaft des nachfaschistischen Deutschlands, um schließlich ins malerische Tessin zu übersiedeln. Auch hier kommen die Grenzen des Verhältnisses beider zur Sprache: Weil sich Pollock mit dem Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsgesellschaft abfindet, attestiert ihm Horkheimer schlicht psychotischen Konformismus.
Insgesamt tritt das in der ersten Hälfte des Buches betonte wissenschaftliche Gewicht Pollocks zunehmend zurück; nur kurz blitzt das von ihm edierte „Gruppenexperiment“5 hervor, dessen wissenschaftliche Würdigung schnell von der Darstellung der politischen Kontroverse zwischen Peter Hofstätter und Theodor W. Adorno abgelöst wird. Die methodisch-theoretische Konzeption dieser Pionierstudie und ihre Rezeption werden damit ebenso wenig diskutiert, wie Pollocks Arbeiten zur Automation in den sozialwissenschaftlichen Diskurs zwischen Kybernetik und Kulturkritik eingeordnet werden. Lenhard widmet sich stattdessen Pollocks Beitrag zum Fortgang der marxistischen Theorie, seinem (Nicht-)Verhältnis zur eigenen jüdischen Herkunft, seiner Einschätzung des Holocaust sowie seiner Absage an die Studentenbewegung. Inwiefern dies zur Charakterisierung des Wissenschaftlers im engeren Sinne beiträgt, kann Lenhard nur begrenzt beantworten. Dennoch bleibt die Lektüre erhellend und schließt nicht wenige Lücken in der Geschichte der Kritischen Theorie. Schließlich zeigt sie ganz unabhängig vom konkreten Sujet, dass Wissenschaft und Freundschaft auf unterschiedliche Werte zielen und sich zwangsläufig in divergierenden Medien bewegen sollten.
Anmerkungen:
1 Brief von Horkheimer an Suzanne Neumeier, 7.9.1913, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 15, Frankfurt am Main 1995, S. 12.
2 Hierzu die Kontroverse zwischen Ulrich Fries und Philipp Lenhard in „Sinn und Form“: Philipp Lenhard, Adornos letzte Postkarte, in: Sinn und Form 71 (2019) Heft 4, S. 567–570; Ulrich Fries, Letzte Postkarte von einer anderen Reise, in: Sinn und Form 71 (2019) Heft 6, S. 846–850; Philipp Lenhard, Die Legendenbildungslegende, in: Sinn und Form 72 (2020) Heft 2, S. 266-270.
3 Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8 (1939), S. 115–137.
4 Die ins Persönliche gehende Auseinandersetzung hat Thomas Wheatland anders erzählt: Bei ihm erscheint die Schließung der New Yorker Abteilung die Rache von Horkheimer und Pollock an Neumann, dem nicht nur mit dem „Behemoth“ ein im Vergleich zu den anderen Kritischen Theoretikern unvergleichlicher akademischer Erfolg beschieden ist, sondern der auch über bessere Verbindungen zur Columbia University verfügt. Siehe Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile, London 2009, S. 231f.
5 Theodor W. Adorno / Walter Dirks (Hrsg.), Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, bearbeitet von Friedrich Pollock, Frankfurt am Main 1955.