Spiel ohne Grenzen? Fußball als „Brandbeschleuniger“ der Globalisierung

: Gerd Müller oder Wie das große Geld in den Fußball kam. Eine Biografie. München 2019 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-74151-7 352 S., 29 SW-Abb. € 22,95

: Fußball in England und Deutschland von 1961 bis 2000. Vom Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Vorreiter der Globalisierung. Göttingen 2019 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-37086-5 314 S., 13 SW-Abb. € 60,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Braun, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Erst auf dem Deutschen Historikertag im Jahr 2000 nahm sich die Zunft in einer Sektion der Geschichte des Fußballsports als Teil der bundesdeutschen Zeitgeschichte an.1 Nach zunächst überwiegend kulturhistorischen Betrachtungen gelang es 2013 dem Stuttgarter Historiker Nils Havemann, das erkenntnisreiche Tor zu einer längst überfälligen wirtschaftshistorischen Betrachtung der Bundesliga aufzustoßen.2 Havemann skizzierte erstmals das Gespinst aus Gemeinnützigkeitsanspruch, halblegalen Steuersparmodellen, Schwarzgeldzahlungen und Vetternwirtschaft mit der Lokalpolitik, das den Fußball im Zuge seiner Professionalisierung von Beginn an begleitete. Hans Woller hat diese Verflechtungen, die den Sport als markanten politischen und gesellschaftlichen Machtfaktor insbesondere der Regionalpolitik sichtbar machen, nun in die Tiefe gehend am Beispiel des FC Bayern München erforscht. Protagonist seiner rasanten Geschichte, „wie das große Geld in den Fußball kam“, ist der aus Nördlingen stammende Gerd Müller, der als „Bomber der Nation“ sämtliche Höhen und Tiefen erlebte, die ein Fußballheld seiner Generation erfahren konnte: Weltmeister von 1974, Werbestar, Jugendidol – aber auch Opfer der Medien, die gegen Ende seiner Karriere seine privaten Probleme ebenso scheinheilig wie gierig ausweideten. Wollers eingehende Presseanalyse zeigt hierbei, wie die „Gezeitenwende“3 im Sportjournalismus der 1990er-Jahre, die eine Aufbereitung des Fußballs als Unterhaltungsshow nach sich zog, bereits in den 1970er-Jahren durch eine Hinwendung zum Boulevard vorbereitet wurde: Homestories und „Spielerfrauen“ hatten schon damals einen festen Platz im Blätterwald.

Zugleich wird in Wollers Untersuchung deutlich, welche Belastung der Profisport in doppelter Hinsicht darstellte: Neben ständigen Anfeindungen und Machtspielen in der hart umkämpften Branche trat ein wie selbstverständlich hingenommener physischer Verschleiß bis hin zur Invalidität ein, den „echte Männer“ eben zu ertragen hatten. Der Autor wirft hier auch einen beeindruckenden Blick in das korrespondierende Milieu aus fahrlässigen Medizinern und Doping-freundlichen Praktiken, in dem die Spieler sich ebenso bedenkenlos wie leichtfertig bewegten (S. 162–173). Der brisanteste Part des Buches sind jedoch die Einblicke in das „Amigo-System“ der CSU-geführten Landesregierung, auf das sich der Verein während der 1960er- bis 1980er-Jahre, die in der Studie primär betrachtet werden, meist zuverlässig stützen konnte. So wäre es den Verantwortlichen im bayerischen Finanzministerium offenbar „nicht im Traum eingefallen, das fußballerische Aushängeschild und dessen wichtigste Repräsentanten an den Pranger zu stellen“ (S. 117). Wollers Aktenfunde sowie die unveröffentlichten Memoiren des Vereinspräsidenten Wilhelm Neudecker (Amtszeit 1962–1979) legen vielmehr das Gegenteil nahe: Die CSU-Politiker „stifteten die Bayern-Führung zu illegalen Praktiken an“ und erteilten ihr „die Lizenz zum doppelten Steuerbetrug bei Einnahmen im Ausland – durch den Verein und den begünstigten Spieler, denn das Verfahren funktionierte nur, wenn beide Seiten mitmachten und wenn die Spitze des Finanzministeriums die Augen verschloss“ (S. 117). Es ist das große Verdienst Wollers, diese verdeckte Maschinerie nachvollziehbar rekonstruiert zu haben, etwa anhand des Nachlasses des ehemaligen Finanzministers Ludwig Huber (Amtszeit 1972–1977). Hingegen wurde ein Antrag auf Schutzfristverkürzung für wesentliche staatliche Akten vom Bayerischen Staatsministerium der Finanzen und für Heimat wegen des Steuergeheimnisses abschlägig beschieden (S. 15). Überraschend ist, wie haarscharf der Verein immer wieder am Bankrott vorbeischlitterte – paradoxerweise, gerade weil er so erfolgreich war: Denn insbesondere die hohen Spielergehälter (und die informellen Handgelder) sowie die Prämien für erfolgreich bestrittene Turniere bedeuteten bereits in jenen Jahren eine immense Belastung für die offiziell noch „gemeinnützigen“ Vereine, die ihren langen Weg der Transformation in ein Wirtschaftsunternehmen, im Fall des FC Bayern München sogar in eine Aktiengesellschaft (seit 2001), noch vor sich hatten.

Mit genau dieser turbokapitalistischen Fortschreibung befasst sich Hannah Jonas in ihrer fundierten Geschichte des Fußballs in England und Deutschland, die bis in das Jahr 2000 reicht und sich neben Verbandsakten auf eine breite Analyse der Presseberichterstattung und der sporthistorischen wie sportökonomischen Forschung stützt. Bereits zu Gerd Müllers Zeiten stellten internationale Transfers die finanziell wie personell heikelste Angelegenheit des Fußballgeschäfts dar. So beschwerte sich der Stürmer 1973 über einen vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) untersagten Wechsel nach Barcelona mit dem durchaus sachgerechten Einwand, dass dieses Verbot nicht im Einklang mit dem Recht auf freie Berufswahl stehe (S. 133f.). Mit einer ähnlichen Argumentation brachte der belgische Erstliga-Spieler Jean-Marc Bosman im Jahr 1995 die Architektur des gesamten europäischen Transfermarktes zum Einsturz.4 Das sogenannte Bosman-Urteil des Europäischen Gerichtshofes besagte, dass die bisherigen Praktiken dem Prinzip der Freizügigkeit der europäischen Arbeitnehmer widersprächen. Hiermit fiel vor allem die bisherige Obergrenze für die Anzahl ausländischer Spieler in einer Klubmannschaft.5

Wie sich in der Folge dieses Gerichtsurteils die Profiligen in Windeseile internationalisierten und „revolutionierten“, untersucht Jonas eindrucksvoll in vergleichender deutsch-englischer Perspektive. So charakterisiert sie die Geschichte des professionellen Vereinsfußballs in England und Deutschland seit den 1990er-Jahren als „Geschichte der zweiten Globalisierung in nuce“. Der Fußball entwickelte hier eine eigene Dynamik und wurde „selbst zur Triebkraft“ der Globalisierung, da sein liberalisierter Arbeitsmarkt für Profispieler im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbranchen kaum noch Migrationsbarrieren kannte (S. 209). Als weiterer effektiver „Brandbeschleuniger“ der Kommerzialisierung wirkten die aufkommenden Privatsender, die für TV-Übertragungsrechte im wechselseitigen Bieterkampf nun Summen an Vereine entrichteten, die ins Astronomische stiegen (S. 220). Dadurch konnte sich auch der Durchschnittsverdienst der Profispieler in beiden Ländern allein zwischen 1995 und 2000 mindestens verdreifachen, mit Ausreißern nach oben wie 100.000 Pfund pro Woche für David Beckham (S. 236).

Neben den Parallelen in der Entwicklung beider Fußballnationen sind jedoch vor allem die von Jonas herausgearbeiteten strukturellen Unterschiede aufschlussreich: Während in England die Fußballklubs schon Ende des 19. Jahrhunderts als Wirtschaftsbetriebe arbeiteten, vollzog der DFB-Bundestag erst „100 Jahre später“, im Oktober 1998, diesen Schritt mit der Erlaubnis, die Lizenzabteilungen der Bundesligisten in Kapitalgesellschaften umzuwandeln. Doch suchte sich der bundesdeutsche Fußball trotz dieser nachholenden Entwicklung auch vor Auswüchsen des englischen Modells zu schützen: Verhindert werden sollte einerseits eine „Murdochization“, also der Aufkauf einzelner Vereine durch Massenmedien, andererseits eine Invasion „superreicher“ Eigentümer aus dem Ausland, wie im Fall der Übernahme des FC Chelsea durch den russischen Oligarchen Abramowitsch (2003). Bis 2015 gehörten bereits mehr als die Hälfte der Klubs in der Premier League ausländischen Investoren. Als Sperre gegen derartige Entwicklungen hatte der DFB 1998 die sogenannte 50+1-Regel festgelegt, nach der für die Bundesliga zugelassene Vereine mindestens 50 Prozent zuzüglich eines weiteren Stimmanteils in der Versammlung der Anteilseigner ausgegliederter Kapitalgesellschaften halten müssen. Dennoch ist auch in Deutschland der Weg vom „Idealverein“ zum Wirtschaftsunternehmen unübersehbar (S. 241–243).

Ein zweites Leitmotiv neben dem „großen Geld“, das die Studien von Hans Woller und Hannah Jonas durchzieht, ist die Frage nach dem immateriellen Wert des Fußballs. Hier steht sogleich die Frage der „Authentizität“ im Raum – ein Begriff, der nicht nur bei Historikern eine hohe Konjunktur hat.6 So wird im öffentlichen Diskurs, vor allem unter den Fußballanhängern, immer häufiger eine „Dichotomie zwischen ‚authentischen‘ und ‚nicht-authentischen Formen‘ der Fußballverbundenheit“ (Jonas, S. 267) behauptet; der „Kommerz“ wird gegen die aufrichtige „Sympathie für den Verein“ und die „Seele des Fußballs“ ausgespielt. Dieses Deutungsmuster wird auch in den beiden vorliegenden Studien aufgegriffen und diskutiert, aber mit unterschiedlichen Akzenten: So findet bei Woller die berufliche Laufbahn Gerd Müllers, der an seiner kommerziellen Verwertung nahezu zerbrach, doch noch ein versöhnliches Ende, als sich der Verein seines verlorenen Sohnes schließlich annimmt und ihn vor dem finalen Absturz bewahrt. Mehr als zehn Jahre arbeitete der Rekordtorschütze nach einer durch Uli Hoeneß geebneten Rückkehr zum FC Bayern als Jugend-Trainer an der Säbener Straße, abseits des Scheinwerferlichts. Es sind ebensolche Sinnhorizonte – wie derjenige des Vereins als Orientierung stiftende Gemeinschaft mit „Familiensinn“ (Woller, S. 289) –, an die allerorts eine „Memorialkultur im Fußballsport“7 anknüpft und die der FC Bayern im Fall Müller offenbar beispielhaft einzulösen imstande war.

Jonas wiederum weist mit Recht darauf hin, dass eine scharfe Trennlinie zwischen Vermarktung und „wahrem Wert“ des Fußballs nicht so leicht zu ziehen, ja nicht einmal sinnvoll sei: Denn die Traditionalisten tragen ihrer Ansicht nach dazu bei, den Markenkern des Fußballs zu festigen, der an vermarktbarem Wert gerade dadurch gewinnt, dass man ihm eine den schnöden Kommerz transzendierende Dimension zuschreibt (S. 270). In gewisser Hinsicht brachte der gewiefte Manager Uli Hoeneß, dessen Bedeutung als neuer Typus eines strategisch denkenden Spielers und Managers beide Studien hervorheben, ebendieses Spannungs- und Abhängigkeitsverhältnis sehr offen in seiner prominenten „Wutrede“ aus dem Jahr 2007 auf den Punkt. Hier machte er sich nicht nur über die „schöne, alte Welt“ des Fußballs als vermeintlich unzeitgemäße Sehnsucht der Basis lustig, sondern konstatierte auch, dass der Verein den Leuten in der VIP-Loge „das Geld aus der Tasche ziehen“ müsse, damit die Fans für sieben Euro das Spiel in der Südkurve genießen könnten.8

Die Erfolgsgeschichte des FC Bayern als Prototyp der jüngeren Entwicklung lässt sich in beiden Studien chronologisch verfolgen: Während Woller die feste Verankerung des Vereins in der bayerischen Politik und seine Regionalidentität beschreibt, kann Jonas den folgenden Prozess der „Glokalisierung“9 aufzeigen: Im Zuge einer europäischen10 und internationalen Vermarktung des Fußballs wächst der Wert des Traditionalen als „Branding“, das sich wiederum global vorzüglich verkaufen lässt. Dementsprechend besitzt der FC Bayern als mitgliederstärkster Fußballverein der Welt heute Anhänger rund um den Globus.

Was auch immer der wahre, authentische Wert des Spiels sein mag: Hans Woller und Hannah Jonas haben in ihren wichtigen Arbeiten – aus der Warte einer Biografie ebenso wie in der Form eines sporthistorischen Ländervergleichs – vor allem eindrucksvoll nachgewiesen, warum die Kommerzialisierung aus dem Fußball nicht mehr wegzudenken ist. Dass der Fußballsport „das große Geld“ magisch anzuziehen scheint, ist darüber hinaus eine Erkenntnis, die auch für den sich ganz und gar antikapitalistisch gebenden Fußball des ehemaligen Ostblocks zutrifft. Üppige Privilegien, offizielle und informelle Prämien und Handgelder prägten auch das Leben der offiziell als Amateure auflaufenden Kicker in der DDR, die in Jonas' Studie trotz ihres Blicks auf „Deutschland“ ausgespart bleiben.11 Auch König Fußball im Staatssozialismus hatte seine „Amigos“ – selbst wenn diese sich mit „Genosse“ ansprachen.

Anmerkungen:
1 Im Jahr des 100-jährigen DFB-Jubiläums fand auf dem 43. Deutschen Historikertag in Aachen die vom Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta geleitete Sektion „Kinder der Bundesliga“ statt.
2 Nils Havemann, Samstags um halb 4. Die Geschichte der Fußballbundesliga, München 2013.
3 W. Ludwig Tegelbeckers, Spiegel der „Erlebnisgesellschaft“? Der Fußball im Wandel vom Spielprozess zum Marktprodukt, in: ders. / Dietrich Milles (Hrsg.), Quo vadis, Fußball? Vom Spielprozess zum Marktprodukt, Göttingen 2000, S. 9–15, hier S. 14.
4 Bosman hatte Klage gegen den belgischen Fußballverband erhoben, da dieser ihm nicht den ablösefreien Wechsel zu einem französischen Klub gestattet hatte.
5 Zuvor waren höchstens drei ausländische Spieler pro Klub zulässig (plus zwei „assimilierte“ Staatsangehörige anderer Länder, die seit mehr als fünf Jahren für einen Verein antraten).
6 Achim Saupe, Authentizität, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.08.2015, https://docupedia.de/zg/Saupe_authentizitaet_v3_de_2015 (30.10.2020).
7 Markwart Herzog (Hrsg.), Memorialkultur im Fußballsport. Medien, Rituale und Praktiken des Erinnerns, Gedenkens und Vergessens, Stuttgart 2013.
8 Zur Hoeneß-Rede auf der Jahreshauptversammlung des FC Bayern 2007 vgl. Havemann, Samstags, S. 495.
9 Richard Giulianotti / Roland Robertson, Die Globalisierung des Fußballs: ‚Glokalisierung‘, transnationale Konzerne und demokratische Regulierung, in: Peter Lösche (Hrsg.), Fußballwelten. Zum Verhältnis von Sport, Politik, Ökonomie und Gesellschaft, Opladen 2002, S. 219–251.
10 Zur Bedeutung europäischer Wettbewerbe wie der Champions League vgl. Wolfram Pyta / Nils Havemann (Hrsg.), European Football and Collective Memory, Houndmills 2015.
11 Die Westfälische Wilhelms-Universität Münster führte gemeinsam mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und dem Zentrum deutsche Sportgeschichte Berlin-Brandenburg ein dreijähriges Projekt zum Fußball in der DDR durch, das vom DFB gefördert wurde.

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