M. Petersen: Geopolitische Imaginarien

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Titel
Geopolitische Imaginarien. Diskursive Konstruktionen der Sowjetunion im peronistischen Argentinien (1943-1955)


Autor(en)
Petersen, Mirko
Reihe
Histoire
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Victor Lafuente, Universität zu Köln

Juan Domingo Perón, so wird gemeinhin postuliert, konnte seine Vormachtstellung in Argentinien vor allem aufgrund seiner umfassenden Sozialreformen ausbauen. Sein Sieg bei der Präsidentschaftswahl 1946 wird überwiegend mit innenpolitischen Faktoren erklärt. Der innenpolitische Diskurs des Peronismus war indes auch von der internationalen Politik und somit von außenpolitischen Faktoren geprägt.

Mirko Petersen untersucht in seiner Dissertation die Rolle der UdSSR im peronistischen Diskurs im Zeitraum zwischen 1943 und 1955. Dabei untersucht er Perón in erster Linie als führendes Mitglied der Grupo de Oficiales Unidos (GOU) ab 1943 sowie als Präsident in den ersten beiden Amtsperioden bis zum Putsch 1955. Die Studie zielt darauf ab, Bedeutung und Funktion der Vorstellungen über die UdSSR im peronistischen Diskurs darzustellen, deren Einfluss auf die argentinische Politik nachzuzeichnen und dabei Kontinuitäten und Brüche beim Übergang vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg festzustellen. Die Studie ist den Globalen Cold War Studies zuzuordnen und knüpft theoretisch an die Schriften Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes sowie an den Critical Geopolitics an (Kapitel 2.3).

Das Verhältnis zwischen Innen- und Außenpolitik war in Argentinien komplex und zum Teil paradox. Im peronistischen Diskurs wurde ein Dritter Weg als Alternative zu den beiden Lagern im Kalten Krieg proklamiert, da Kapitalismus und Kommunismus gleichermaßen an der Sicherung des Wohlergehens breiter Bevölkerungsschichten gescheitert seien (S. 178). Die Kritik am Kapitalismus nahm zwar mit der Intensivierung des Kalten Krieges und der steigenden Abhängigkeit Argentiniens von den USA ab (S. 260), die Kritik am Kommunismus hingegen spiegelte sich nur bedingt in den Beziehungen zur UdSSR wider: So war Argentinien der erste lateinamerikanische Staat, der diplomatische Beziehungen zu Moskau aufnahm (S. 337). Dennoch fand die Kommunismuskritik in Argentinien ihren Ausdruck im politischen Diskurs und in der Verfolgung von „Kommunisten“ (S. 259f.).

Die Arbeit umfasst acht Kapitel. Die ersten beiden Kapitel dienen der methodischen und theoretischen Einführung, das letzte den Schlussfolgerungen. In den mittleren Kapiteln wird dargestellt, wie sich die Rolle des Kommunismus bzw. der UdSSR in der argentinischen Innen- und Außenpolitik im Laufe der Zeit entwickelte. Die Quellenbasis für die Analyse setzt sich aus Reden und Schriften Juan Peróns, argentinischen Zeitungsartikeln (sowohl aus pro-peronistischen Blättern als auch aus oppositionellen Publikationen) sowie aus zahlreichen Archivquellen des argentinischen Außenministeriums, des argentinischen Nationalarchivs und im Internet verfügbaren US-amerikanischen Dokumenten zusammen.

Schon vor seiner Machtübernahme sah Juan Perón die Sowjetunion als Verbreiterin gewaltsamer Revolutionen. Die Entstehung einer Volksfront in Argentinien galt es seiner Meinung nach zu verhindern (S. 72f.). Er erachtete soziale Reformen als die einzige Möglichkeit, den Klassenkampf zu vermeiden (S. 87). Die sowjetische Vormachtstellung jenseits des Eisernen Vorhangs war eine Tatsache, derer sich Perón auf pragmatische Weise annahm, indem er „zwischen dem, was Russland ist, und dem, was der Kommunismus bedeutet“ (S. 313) unterschied. Dies erklärt die rasche Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Moskau. Wie Petersen darstellt, fungierte die Sowjetunion indes in der peronistischen Kapitalismuskritik als Negativbeispiel: Durch die Exzesse des kapitalistischen Systems entstehe der Kommunismus und dem könne nur durch eine deutliche Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung entgegengewirkt werden. Das sowjetische Modell wurde im peronistischen Diskurs als gescheitert dargestellt und gleichzeitig der argentinische Staat als ein für die Arbeiterschaft vorteilhafteres Modell stilisiert (S. 173). Eine eingehendere Untersuchung der sogenannten „Dritten Position“ als Diskurs einer stark zentralisierten, aber weiterhin kapitalistischen Wirtschaftsweise wäre hier hilfreich gewesen.

In der bipolaren Welt des Kalten Krieges bemühten sich die USA und die UdSSR gleichermaßen, ihre Hegemonie auf andere Länder auszuweiten (S. 265). Die These von den beiden Imperialismen und die Abgrenzung gegenüber beiden Fronten basierten diskursiv auf der Darstellung der Sowjetunion als Feind der westlichen und zivilisierten Welt. Der Kapitalismus und die liberalen Demokratien böten keine Sicherheit gegen den Kommunismus (S. 170). Die Dritte Position ging also als eine diskursive Positionierung Argentiniens gegen den Weltkommunismus mit den Leitideen der nationalistischen und katholischen Gesellschaftsgruppen konform, die den ersten Peronismus unterstützten (S. 199f.). Diese Kampfansage war jedoch rein rhetorisch. De facto bemühte sich die Regierung Perón meist, harmonische Beziehungen zu beiden Supermächten zu unterhalten (6. Kapitel).

Deutlich wird dies dadurch, dass Buenos Aires sich auf Seiten der USA positionierte, indem es proklamierte, Argentinien stünde im Falle eines Drittes Weltkrieges auf westlicher Seite, während gleichzeitig der Diskurs der Dritten Position darauf abzielte, linke und rechte Hegemonien sowie eine atomare Katastrophe zu vermeiden. Zudem wurde rhetorisch die Bedrohung durch einen Dritten Weltkrieg besonders betont, weil man sich hieraus einen wirtschaftlichen Nutzen versprach. Argentinien wollte bei der Umsetzung des Marshall-Plans als Lieferant von Lebensmitteln zugelassen werden und von etwaigen US-Entwicklungsplänen für Lateinamerika profitieren. Als Begründung diente, dass man so den sowjetischen Einfluss zurückdrängen würde (S. 85). Zudem wurde insbesondere in den ersten Jahren der Regierung Perón der Handel mit der UdSSR als ein Zeichen politischer Souveränität dargestellt. Diese sollte dem Land dazu verhelfen, die Zahl seiner Geschäftspartner im Ausland deutlich zu erhöhen und so die Abhängigkeit von den USA und von Großbritannien zu verringern (S. 141f.). Der Autor legt im siebten Kapitel überzeugend dar, dass die UdSSR aus diesem Grund als ein politisch neutraler Geschäftspartner dargestellt, gleichzeitig aber als Druckmittel gegenüber der westlichen Welt etabliert wurde: Sollte der Westen ungünstige Bedingungen bieten, konnte Buenos Aires seinen Außenhandel gen Osten ausrichten.

Interessant ist die Darstellung und Einordnung wichtiger außenpolitischer Faktoren, namentlich die Rolle Argentiniens im UN-Sicherheitsrat während der Berlin-Krise 1948 (S. 200f.) sowie der Moskau-Konferenz von 1952 (S. 284–304). Der argentinische Außenminister Juan Bramuglia führte die Verhandlungen, die die Berliner Blockade lösen sollten. Obwohl die UdSSR die Beschlüsse der UN nicht akzeptierte, positionierte sich Argentinien als ein friedenstiftendes Land auf der internationalen Bühne, indem es aus der Dritten Position heraus als Vermittler zwischen Ost und West agierte (S. 208). Der Moskau-Konferenz ist von der historischen Forschung bisher erstaunlich wenig Beachtung gezollt worden. Es ist ein Verdienst der vorliegenden Studie, die wirtschaftlichen und handelspolitischen Positionen der UdSSR, Ost- und Westeuropas sowie Argentiniens auf dieser Konferenz zu analysieren (Kapitel 7.1).

Die Untersuchung des „Erbes der peronistischen Imaginarien über die Sowjetunion“ ist auch für die argentinische Innenpolitik nach dem Sturz Perons 1955 relevant: Obwohl der Gebrauch des Begriffs „Dritte Position“ von späteren Militärregierungen verboten wurde, spielten die Handelsbeziehungen zum Ostblock – vornehmlich mit der Sowjetunion – bis zur letzten Militärdiktatur 1976–1983 eine große Rolle (S. 341–342).

Lateinamerika ist von der Forschung zum Kalten Krieg vernachlässigt worden (S. 22–26). Petersen zeigt, dass die Sowjetunion trotz ihres geringen direkten (handels-)politischen Einflusses den innenpolitischen Diskurs in Lateinamerika prägte. Während bisherige Arbeiten über die Beziehungen Argentiniens zum Ostblock überwiegend die wirtschaftliche Ebene fokussierten, bereichert der vorliegende Band die Forschung um die oben genannten nationalen und internationalen Aspekte und um eine solide Analyse der medial vermittelten geopolitischen Imaginarien in den 1940er- und 1950er-Jahren.

Die theoretischen Darstellungen des zweiten Kapitels hätten verkürzt in die Einleitung integriert werden können. Gleichwohl erlaubt der vom Verfasser gewählte Ansatz eine originelle Analyse des Peronismus mit einem beträchtlichen Erkenntnisgewinn. Der Autor belegt überzeugend seine Hauptthese, dass das Bild der Sowjetunion im peronistischen Diskurs zweierlei Funktionen erfüllte: Erstens untermauerte es die Doktrin des Dritten Weges und zweitens stützte es ein innenpolitisches Reformprogramm mit umfassenden Sozialmaßnahmen. Dabei werden auch die diskursiven Wandel nachvollzogen und kontextualisiert.

Insgesamt ist das Buch ein wichtiger Beitrag nicht nur zur argentinischen Geschichte, sondern auch zur Geschichte des Kalten Krieges in seinen globalen Zusammenhängen. Durch die Übersetzungen aus dem Spanischen werden dem deutschsprachigen Leser wichtige Quellen erstmals zugänglich gemacht.

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