Vor genau 30 Jahren erschien Donna Haraways Buch Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science1, in dem sie minutiös die Geschichte der Primatologie im 20. Jahrhundert und die wissenschaftliche Konstruktion von menschlichen und tierischen Naturen analysiert. Anlass zur erneuten Lektüre dieses Klassikers der Wissenschaftsgeschichte bietet nun ein zwar zeitlich enger gefasstes, aber ebenfalls sehr lesenswertes Buch zum Thema, das die in Princeton lehrende und forschende Wissenschaftshistorikerin Erika Lorraine Milam vorgelegt hat. In Creatures of Cain. The Hunt for Human Nature in Cold War America erzählt Milam die bisher ungeschriebene Geschichte der sogenannten „killer ape theory“, die das Kainsmal der Gewalttätigkeit und Aggression als wesentliche Eigenschaft und treibende Kraft der menschlichen Evolution postulierte. Die Killeraffen-Theorie, die während der 1960er-Jahre in der amerikanischen Öffentlichkeit an Popularität gewann, blieb keine Kapriole der Wissenschaftsgeschichte, sondern schrieb sich in die zahlreichen sozialen und politischen Konflikte der 1960er- und 1970er-Jahre ein und wurde spätestens mit der Eröffnungsszene in Stanley Kubricks Space Odyssey (USA/GB 1968) zur popkulturellen Referenz. Sie bot schließlich, wie Milam zeigt, ein ordnendes Vokabular und Erklärungsmuster, um an der „American home front“ des Kalten Krieges der „bewildering violence of the world“ (S. 15) intellektuell Herr zu werden.
Wer Primate Visions kennt, wird bei Milam immer wieder auf „alte Bekannte“ wie den US-amerikanischen Anthropologen Sherwood Washburn oder die berühmte Primatologin Jane Goodall stoßen. Creatures of Cain ergänzt, vertieft und erweitert dabei jedoch nicht nur entscheidend unsere Kenntnis über die vielfältigen Diskurse und Kontroversen über menschliche Naturen auch jenseits der primatologischen Forschung. Milams „history of ideas about human nature“ (S. 5) entwickelt, indem sie medien- und buchgeschichtliche Überlegungen einbezieht, eine distinkte Perspektive und leistet dadurch einen methodologischen Beitrag zur aktuellen wissenschaftsgeschichtlichen Forschung: Während sich Haraway stärker auf wissenschaftsinterne Diskussionen konzentriert, stellt Milam die amerikanische „‚colloquial science‘ literature“ (S. 4) der 1950er- bis 1970er-Jahre in den Mittelpunkt ihrer Analyse – populäre Wissenschaftsbücher, die sich über das akademische Publikum hinaus an eine breite Öffentlichkeit richteten. Sie vermeidet dabei jedoch eine allzu scharfe Grenzziehung zwischen inner- und außerwissenschaftlichen Kommunikationsräumen. Der weite Blick, den Milam dadurch auf die Quellen sowie ihre politischen und kulturellen Kontexte wirft, führt zu den beiden zentralen Befunden ihrer Arbeit: Erstens verbreitete sich die Killeraffentheorie über weitverzweigte Netzwerke, zu denen Wissenschaftler/innen, Sachbuchautor/innen und Unternehmer mit ihren philanthropischen Stiftungen ebenso gehörten wie gefeierte Hollywood-Regisseure und illustre Medienfiguren wie beispielsweise den Herausgeber des Playboys, Hugh Heffner. Zweitens weist Milam nach, dass der “colloquial science“ auch innerhalb der Wissenschaften eine Transmitterfunktion zukam: Vertreter/innen der unterschiedlichen Disziplinen der Natur- und Humanwissenschaften rezipierten die populären Bücher biologischer Forscher/innen und griffen biologische Deutungsmuster und Theorien für ihre eigene Forschung auf. Milams Studie lädt somit auch zu einer Neubewertung des populären Wissenschaftsbuchs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein.
Milam hat ihre Untersuchung als eine Reihe sich chronologisch überlappender Einzelepisoden angelegt. Sie analysieren aus thematisch je unterschiedlicher Perspektive die „racialized, gendered, and political landscapes“ (S. 11), in denen zwischen 1955 und 1975 in den USA über die menschliche Natur diskutiert wurde. Die insgesamt 15 Kapitel sind dabei in fünf größere Blöcke gruppiert: Der erste Teil The Ascent of Man setzt in den frühen 1950er-Jahren mit der Vorgeschichte der „killer ape theory“ ein. Milam legt dar, wie liberale Anthropolog/innen und Biolog/innen in Ablehnung der nationalsozialistischen Rassentheorie und des auch in den USA weit verbreiteten Rassismus eine optimistische Menschheitsgeschichte und antirassistische Zukunftsvision zu entwerfen und popularisieren versuchten. Sie betonten die biologische Einheit der Menschheit und wandten sich gegen eine rassistische Vereinnahmung der biologischen Anthropologie.2
Gleichwohl stellte die augenscheinliche Allgegenwart menschlicher Gewalttätigkeit in den 1950er- und 1960er-Jahren ein evolutionstheoretisch schwer zu erklärendes Problem dar. Dies änderte sich Mitte der 1960er-Jahre, wie Milam im zweiten Teil Naturalizing Violence anhand ihrer drei Hauptprotagonisten aufzeigt: Robert Ardrey, der 1966 mit The Territorial Imperative einen Bestseller landete, der im deutschsprachigen Raum weitaus bekanntere Konrad Lorenz und sein populäres Buch On Aggression sowie Desmond Morris, der sich 1967 mit The Naked Ape einen Namen als medienwirksamer Skandalautor machte.3 Ihre Ideen erreichten – auch dank der finanziellen Unterstützung durch die Stiftung des Multimillionärs Harry Frank Guggenheim – in den 1960er-Jahren im Medium des Sachbuchs eine breite Leserschaft innerhalb und außerhalb der Wissenschaften und popularisierten so ein Bild einer animalischen Menschennatur, das mit dem progressiv-liberalen Nachkriegskonsens brach. Sie stellten ein Vokabular zur Verfügung, das es erlaubte, männliches Dominanzverhalten, Aggression und Gewalt als natürliche Triebfedern der Geschichte und Gegenwart der Menschheit zu deuten.
Wie der dritte Teil Unmaking Man jedoch aufzeigt, war die von Ardrey, Lorenz und Morris popularisierte Konzeption der menschlichen Natur sowohl in der akademischen als auch in der nichtakademischen Öffentlichkeit umstritten. Milam zeichnet nach, wie in den 1960er-Jahren „masculinist and feminist theories of human evolution“ (S. 130) um Deutungsmacht stritten, und arbeitet dabei insbesondere die Bedeutung feministischer Netzwerke und Publikationsformate – auch jenseits der biologisch-anthropologischen Wissenschaften – für Anthropologinnen wie Adrienne Zihlmann und Nancy Tanner heraus, um den dominanten androzentrischen Theorien alternative Erzählungen der Evolutionsgeschichte des Menschen entgegenzustellen.
Spätestens in den frühen 1970er-Jahren geriet die „killer ape theory“ schließlich von zwei Seiten unter politischen Druck, wie Milam im vierten Teil Political Animals, eindrücklich anhand den Diskussionen über die naturalisierend-sexualisierende Gewaltdarstellung in Hollywood-Blockbustern wie Sam Peckinpahs Straw Dogs (US 1971) zeigt. Einerseits wandten sich linke und liberale Wissenschaftler/innen und Aktivist/innen der „New Left“ zunehmend gegen die als deterministisch und antiemanzipatorisch kritisierte menschliche Gewaltnatur und hoben soziale Faktoren wie Überbevölkerung als eigentliche Ursache für Gewaltbereitschaft hervor. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums sahen konservative Christen der „New Right“ in Ardreys, Lorenz‘ und Morris‘ Büchern einen Angriff auf die moralische Ordnung der US-amerikanischen Gesellschaft.
Doch die Hochphase der „killer ape theory“ neigte sich auch aufgrund neuer Erkenntnisse innerhalb der Primatologie bereits zu Beginn der 1970er-Jahre ihrem Ende entgegen: Im letzten Teil Death of the Killer Ape verfolgt Milam schließlich, wie insbesondere die Ansätze der Soziobiologie den Blick auf die menschliche Natur nochmals grundlegend verschoben: Hatte zu Beginn der 1960er-Jahre die Frage nach den biologischen Grundlagen der Gewalt im Mittelpunkt gestanden, schien den Soziobiolog/innen um Edward O. Wilson nunmehr die menschliche Fähigkeit zur Kooperation „against our genetic best interests“ (S. 232) erklärungsbedürftig.
Milams 15 Episoden aus der Geschichte der „killer ape theory“ ließen sich durchaus gewinnbringend als Einzelstudien lesen. Insbesondere das Kapitel Building Citizens, das die Produktion und Implementierung des Studienprogramms MACOS (Man: A Course of Study) an zeitweise mehr als 1700 US-amerikanischen „grade schools“ (Schulstufe vom Kindergarten bis maximal zur sechsten Klasse) wissens- und mediengeschichtlich analysiert, sowie The Edge of Responsibility über Elaine Morgans The Descent of Woman4 und die wissenschaftliche Selbstverortung der „feminist science“ verdienen hier abschließend eine besondere Erwähnung. Die schlaglichtartige Struktur von Creatures of Cain muss dabei jedoch notwendigerweise Leerstellen und offenbleibende Fragen in Kauf nehmen. So wäre vor allem eine genauere Untersuchung der wechselseitigen Bezugnahmen, Abgrenzungen und die Konflikte über Deutungshoheit zwischen biologischer Anthropologie und den zeitgleich boomenden Sozialwissenschaften wünschenswert gewesen. Diese Kritik bleibt jedoch der einzige Wermutstropfen. Milam gelingt es mit ihrem Buch, die vielschichtigen Transformationen des evolutionstheoretischen Denkens und Sprechens über die menschliche Natur im Kontext einer sich wandelnden intellektuellen Landschaft in den USA bis in die 1970er-Jahre zu rekonstruieren. Sie eröffnet damit auch eine historisch Perspektive auf die gegenwärtige Konjunktur populärer Sachbücher über die Naturgeschichte des Menschen und sensibilisiert für die Wandelbarkeit solcher Vorstellungen fixer menschlicher Naturen.5
Anmerkungen:
1 Donna Haraway, Primate Visions. Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, New York 1989.
2 Siehe hierzu auch John Jackson / David Depew, Darwinism, Democracy, and Race. American Anthropology and Evolutionary Biology in the Twentieth Century, London 2017.
3 Robert Ardrey, The Territorial Imperative. A Personal Inquiry into the Animal Origins of Property and Nations, New York 1966; Konrad Lorenz, On Aggression, New York 1966 [Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963]; Desmond Morris, The Naked Ape. A Zoologist’s Study of the Human Animal, New York 1967.
4 Elaine Morgan, The Descent of Woman, New York 1972.
5 Siehe exemplarisch Steven Pinker, The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined, New York 2011; Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, Berlin 2016; ders., Becoming Human. A Theory of Ontogeny, Harvard 2019.