Einfach sei es mit dem Fragen nicht. „Gerade dort, wo die Frage als Anfang einer Forschungsleistung gesetzt scheint, ergibt sich schnell, dass dieser Frage immer schon etwas vorausgeht.“ (S. 18) Mit dieser These begeben wir uns in ein interdisziplinäres Konvolut von neun Aufsätzen aus der Philosophie, Soziologie, Geschichts- und Literaturwissenschaft, Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, Judaistik und Politologie, welches sich dem vielleicht fundamentalsten Aspekt wissenschaftlichen Treibens widmet: dem Fragen selbst. Der Sammelband „Die Frage in den Geisteswissenschaften. Herausforderungen, Praktiken und Reflexionen“ beleuchtet damit einen elementaren, jedoch nur noch selten direkt bedachten Aspekt des wissenschaftlichen Arbeitens. „Wie kommt eine Frage zustande? Wie stellt sich eine Frage? Wer stellt die Fragen?“ (S. 9). Während sich akademische Gebiete vermehrt mit eng verschraubten, thematisch spezifischen Fragestellungen füllen und sich auch interdisziplinäre Herangehensweisen zunehmend durch einen engen Fokus definieren wollen oder müssen, begibt sich dieser Band auf Spurensuche nach wissenschaftlichen Fragepraktiken und offeriert damit eine Reihe gehaltvoller, zugleich erfrischender Metareflexionen.
Der Band beginnt mit einem philosophischen Beitrag der Herausgeber/innen, der altbekannte Pfade der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Dekonstruktion zwar nicht verlässt, jedoch treffsicher die dafür einschlägigen Texte abruft. Das erste Sprungbrett wird mit Kant gebaut, dessen Frageverfahren sich notorisch durch das allem vorausgesetzte menschliche Verstandesvermögen selbst zu reflektieren vermag: „Die Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens bestimmen die Art und Weise der angemessenen Frageformen.“ (S. 12) Es folgt Einschlägiges von Ernst Bloch („Forschen heißt zunächst, sich fragend zu verhalten“, S. 13), Martin Heidegger („Das Entscheidende ist nicht, aus dem [hermeneutischen] Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“, S. 14) und auch Gilles Deleuze und Platon nehmen ihre wohlverdienten Plätze als Väter des unnachgiebigen, maieutischen Fragens ein. Diesem Auftakt wird kritisch nachgeschoben: „Fragen sind nicht ursprünglich, nicht voraussetzungslos und sicherlich auch nicht vollkommen offen.“ (S. 18) Hier beginnt der rote Faden, der sich durch den ganzen Band zieht. Er spinnt sich nicht aus einer verbindenden Prämisse im üblichen Sinne, sondern umspannt die Methode des Fragens selbst. Konsequent werden sodann keine Grundthesen, sondern zwei Frageszenen vorgestellt, die den Band strukturieren. Die erste thematisiert mit Weber Wissenschaft als Beruf und Berufung. Das In-Frage-Stellen wird dabei als vorzügliches Instrument geisteswissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung anerkannt, während die jeweilige Beantwortbarkeit nur einen nachrangigen Platz einnimmt. Die zweite Frageszene problematisiert mit Jaques Derrida die Autorität und (Un-)Abhängigkeit des Fragens im institutionspolitischen Kontext. Mit seinem „Bekenntnis zur Unbedingten Universität“ (S. 24) bringt Derrida den Begriff der Verantwortung ins Spiel, der in einem von Verwertungslogik geprägtem Wissenschaftssystem unhintergehbar werde. Hier geht es demnach um die normative, ethische Dimension des Fragens, während die erste Frageszene auf sein deskriptives Vermögen und ihm innewohnenden intrinsischen Wert setzt.
Obwohl er mit einem prägnanten Rundgang durch die Thesen der Einzelbeiträge schließt, liest sich der an den Bandanfang gestellte Text nicht als Einleitung, sondern eher als eigenständiger, philosophiegeschichtlicher Einzelbeitrag. Als rahmengebende Klammer ist der zweite Text geeigneter, worin Felix Sprang mit Reflexionen zur Uneigennützigkeit des Fragestellens einen dichten, wissenschaftshistorischen sowie -theoretischen Beitrag zur Disziplinbildung der Frühen Neuzeit und ihren Einfluss auf deren Frageentwicklungen liefert. Seine These lautet, dass sich eine Reflexion über die Uneigennützigkeit des Fragens nur als historisch gewachsenes Phänomen begreifen lässt. „Ist es eventuell an der Zeit“, so Sprang, „Fragen in den Geisteswissenschaften selbstbewusster so zu formulieren, dass sie immer auch das Ideal der Uneigennützigkeit mit einschließen?“ (S. 43) Ein erster produktiver Referenzpunkt ist mit dieser Suggestivfrage gegeben.
Es folgen Überlegungen zur Beschaffenheit von turns. Stellen wir uns diese, mit der Autorin Lorina Buhr, „als Umwendungen, Kehren und Abzweigungen in der Theoriebildung einer Disziplin vor [, so] unterliegen sie auch einer Dynamik und Kinetik“ (S. 71). Damit soll der turn nicht als jeweils neues Theoriegeflecht, sondern als Fragebewegung vorgestellt werden, welche theoriepolitischen, aber auch sozialen, ökonomischen und wissenschaftspolitischen Kräften ausgesetzt ist. Auch die anderen Texte gruppieren sich entlang der von den Herausgeber/innen entwickelten zwei Frageszenen und können im Folgenden nur ausschnittweise vorgestellt werden.
Bei Daniel Lucas steht die Interpretierbarkeit der Torah und die Findigkeit des Fragens in der jüdischen Tradition im Fokus. Überzeugend zeigt er zunächst auf, wie das halachische Fragen den jüdischen Denk- und Glaubensdiskurs verändert: „Eine gute Frage zu stellen, ist eine relevantere Leistung, als die richtige Antwort zu geben.“ (S. 134) Die Signifikanz des exegetischen Fragens für das stete Aktualisierungspotenzial der Heiligen Schrift wird damit in eine unumgehbare Zentralposition gerückt.
Jens Crueger gewährt Einblicke in die Disziplingenese der Archäologie, Henrike Rudolph gibt Denkanstöße zu globalen Solidaritätsnetzwerken in den Geisteswissenschaften und Sebastian Engelmann schließt mit Überlegungen zur Kunst des Fragens im interdisziplinären Raum, wobei er die gleichzeitige Forderung an Forschende, sich themen- anstatt disziplinbezogen auszukennen und dennoch eine „klare disziplinäre Verortung“ vorweisen zu können (S. 195), kritisch durchleuchtet. Was die Beiträge eint, ist die Annahme, dass sowohl den Natur- als auch den Geisteswissenschaften eine fragende Haltung als Gemeinsamkeit innewohnt, die es nicht nur zu erinnern, sondern immer wieder selbstreflexiv zu beleuchten lohnt. Dazu warnt Crueger vor der „Resilienz von Denkstilen und Praktiken angesichts einer vermeintlich revolutionären Methode“ (S. 168) und schließt mit der Feststellung zur archäologischen Forschungspraxis, dass ohne kritische Selbstreflexion „trotz neuer Methoden mit deutlich erweiterten epistemischen Möglichkeiten [...] an altbewährten Fragestellungen“ (S. 169) festgehalten werde.
Maja Linke zerrüttet gekonnt den gegliederten Aufsatzkorpus mit einem Beitrag zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Spürsinn, der sich thematisch auf die Gewalt von Sprache – und damit auch des Fragens – konzentriert. Auch Johannes Vincent Knechts Beitrag entzieht sich der geläufigen Form des in sich geschlossenen Aufsatzes. Sein experimenteller Essay versucht sich an der Mehrdeutigkeit künstlerischer Gegenstände und verunsichert den Blick auf nur scheinbar zu Genüge interpretierte Werke von Manet oder Goya. Den beiden Texten gemein ist die kritische Beschäftigung mit der Möglichkeit (besonders Linke) und Notwendigkeit (besonders Knecht), dem Fragen die eindeutige und endgültige Antwort zu entziehen. Im Rahmen dieses Bandes sind diese zwei Beiträge besonders ausdrucksstark, zeigen sie doch mit unterschiedlichen, wissenschaftlich unorthodoxen Schreibformen alternative Pfade auf, dem Fragen textuell zu begegnen: „Die Frage lässt sich nicht nieder, sie wohnt wie die Stimme zwischen Schwerelosigkeit und Erdanziehung, zwischen ich und du und mir und dir. Sie behauptet den Anfang und sie löst sich von ihm, sie kennt kein Zuerst und auch kein Ankommen. In der Frage vollzieht sich eine Wendung, ein Sich-Öffnen für sie. Nicht zwei Seiten einer Medaille als Frage und Antwort. Denn auch diese Scheibe ist eine Kugel.“ (Linke, S. 84)
Nicht alle Beiträge erreichen die gleiche Bohrtiefe, doch jeder Teil überzeugt als Teil des Fragespektrums und es ist eine Freude, sich in dem Band lesend umzusehen. Mehr Querverweise hätten eventuell zu einer erhöhten Argumentationsdichte geführt. Engelmanns Kritik des disziplinären Verortungszwangs bei gleichzeitiger Forderung von spezifischen Themenfachkenntnissen hätte beispielsweise von Sprangs konstruktivem Vorschlag profitieren können, Uneigennützigkeit (das heißt „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, S. 41) als Orientierungspunkt für einen Einigungsversuch wissenschaftlicher Interessenshorizonte zu setzen. Dem etwas nostalgischen Auftaktbeitrag hätte es wiederum gutgetan, Rudolfs provokative Frage „Kann die Freiheit des Denkens von nationalstaatlichen Grenzen beschränkt werden?“ (S. 179) ernst zu nehmen und sich auch außerhalb des kontinentalen Lehrplans nach fruchtbaren Fragepraktiken umzusehen. Dabei hätte, mit oder ohne Heidegger, auch die Frage nach dem Kanon neu gestellt werden können.
Manchmal hätte man sich zudem mehr Gegenwartsbezug gewünscht. Wenn die rahmengebenden Frageszenen mit Derrida ihren jüngsten Autor finden, wird das Fehlen frischer Stimmen deutlich. Natürlich sind die anfangs zitierten Ansätze vielschichtig, in ihrem radikal anderen Fragen gar disziplinbildend und fraglos zentral für das Anliegen des Bandes. Doch eine Fluchtlinie in die Gegenwart hätte hier ein größeres Feld aufzuspannen vermocht. Wie es im Anfangstext heißt, sei es wichtig, Reflexionen über vorgegebene Fragerichtungen in den Blick zu nehmen, welche „das Fragen auf ihre institutionellen, disziplinären und diskursiven Rahmenbedingungen hin befragen“ (S. 18). Hier hätte ein Einschub – oder wenigstens Verweis – zu historisch gewachsenen, asymmetrischen Machtstrukturen und Literaturdominanz aus dem globalen Westen gefreut. Dazu kommt, dass Frauen in den rahmengebenden Fragekonzeptionen auffällig absent sind. Damit fällt eine Antwort auf die bereits zitierte, im Herausgeber/innentext vielversprechend zentrierte Frage „Wer stellt die Fragen?“ deutlich und einseitig aus: Der Kanon beschäftigt sich weiterhin mit sich selbst. Fast schon komisch mutet in diesem Zusammenhang ein Direktzitat von Weber an, der 1919 Wissenschaftlerinnen mitanspricht, während die Herausgeber/innen in demselben Satz auf der ausschließlich männlichen Form beharren (S. 23).
Das soll nicht abschrecken. Obwohl die Rahmengebung auf Altbewährtes setzt, lässt sich positiv gewendet anmerken, dass hier ein selbstständiges Weiterspinnen von Implikationen und Auswirkungen des Fragens angeregt wird. Man liest sich leicht und zugleich gespannt disziplinüberreifend in die spezifischen Unterthemen ein. „Die Frage in den Geisteswissenschaften“ beschert damit eine Reihe gehaltvoller Auseinandersetzungen mit der Frage nach der Frage und schafft mit einem Reichtum an selbstreflexiven Kardinalfragen das Kunststück, zu einer produktiven Selbstbestimmung der Geisteswissenschaften beizutragen.