Cover
Titel
Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945–1990


Autor(en)
Freimüller, Tobias
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 28
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zarin Aschrafi, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig

Auf dem Coverbild des als Habilitationsschrift eingereichten, jüngst im Wallstein Verlag erschienenen Buches von Tobias Freimüller ist im Vordergrund eine prächtige, aufwendig verzierte Chanukkia zu sehen. Der neunarmige Kerzenleuchter wird von zwei Frankfurter Herren bewundert: Georg Salzberger (1882–1975), Rabbiner der Vorkriegsgemeinde, sowie Werner Bockelmann (1907–1968), Oberbürgermeister der Stadt. Aufgenommen wurde das Foto im Jahr 1961 in Frankfurt auf der ersten Judaica-Ausstellung der noch jungen Bundesrepublik. Über die Gründe für eine solche Ausstellung gibt Freimüller in einem späteren Kapitel Aufschluss, indem er sie im Kontext eines Neubeginns jüdischen Lebens und des immer wieder aufbrechenden Antisemitismus in Deutschland einbettet. Damit nimmt der Autor eine Beziehungsgeschichte in den Fokus, die zwar durch den konzisen Titel „Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945–1990“ bereits angekündigt wird, für die aber auch sein Titelbild sinnbildlich steht. Das ausgewählte Foto gibt darüber hinaus aber auch Auskunft über Perspektive und Methode des Autors.

In seiner Einleitung (Kapitel 1) bestimmt Freimüller den inhaltlichen Rahmen seiner Studie: Im Fokus der Beziehungsgeschichte stehen die Interaktion der in Frankfurt lebenden und aus Frankfurt stammenden Juden mit Politikern und nicht-jüdischen Funktionären der Stadt sowie die Frage nach der Bedeutung von Frankfurt als wirtschaftlicher, politischer, sozialer und intellektueller Lebens-, Arbeits- und Wirkungsraum von Juden (S. 10). Doch warum Frankfurt? Die Mainmetropole sei, so der Autor, ein methodischer „Beispielfall“ (S. 16), da Größe und Struktur der dortigen Jüdischen Gemeinde mit anderen westdeutschen Großgemeinden vergleichbar waren, und dennoch ein „Sonderfall“ (S. 17), der in der Bedeutung von Schauplätzen und der Prominenz der Akteure begründet liege. Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut und nimmt einen Zeitraum von rund 55 Jahren in den Blick. In der Gesamtschau liegt der Schwerpunkt der Studie auf den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg, die im Fokus von sechs der insgesamt neun inhaltlichen Kapitel stehen. Obwohl diese Jahrzehnte sowohl für die bundesrepublikanische Geschichte als auch für die Geschichte der Juden nach dem Holocaust in der Forschung in einer mittlerweile kaum zu überschauenden Anzahl an Einzelstudien sowie Gesamtdarstellungen ihren Niederschlag gefunden haben, gelingt es dem Buch von Tobias Freimüller, nicht nur die Frankfurter Perspektiven in dieser Allgemeingeschichte zu verorten, sondern auch das Besondere der lokalen Entwicklungen herauszustellen.

Zu den spezifischen Zügen von Nachkriegsfrankfurt zählt etwa die Dauerpräsenz der US-amerikanischen Alliierten, mit der Freimüller seine Studie beginnt. Sehr eindrücklich beschreibt er die unmittelbare Nachkriegssituation in der Stadt, geht auf die unterschiedlichen Gruppen von überlebenden Juden ein und widmet sich der Entstehung jüdischer Räume (unter anderem Displaced Persons-Lager Zeilsheim), dem Aufbau institutioneller Strukturen (unter anderem Jüdische Gemeinde) und der Rückkehr des Instituts für Sozialforschung. Im Anschluss wendet er sich Themen wie Migration und Stabilisierung der jüdischen Gemeinde zu. Beide Entwicklungen blieben von zwei widerstrebenden Phänomenen in den 1950er-Jahren nicht unberührt, auf die Freimüller in Kapitel 4 eingeht, nämlich zum einen der Wunsch nach „Versöhnung“ von deutscher Seite, zum anderen die Fortexistenz des Antisemitismus. In Kapitel 5 „Sozialfürsorge und Religion“ wendet er sich Veränderungen und Prozessen zu, die eine Verwandlung der jüdischen Präsenz in Frankfurt Mitte der 1950er-Jahre von „Improvisation in Konsolidierung“ (S. 187) zur Folge hatten. Diese Entwicklungen fanden im institutionellen Auf- und Ausbau ihren sichtbarsten Ausdruck. Die Frage nach dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigt Freimüller in Kapitel 6. In „Jüdisches Leben und Transnationalität“ (Kapitel 7) findet die Darstellung der Beziehungsgeschichte von Frankfurt und seiner Juden eine exkursartige Erweiterung des Untersuchungsraums nach Israel und in die Vereinigten Staaten. Kapitel 8 ist zwar mit „Generationenkonflikte“ überschrieben, doch erzählt der Autor durchaus mehr: Er wendet sich der zweiten Generation von Juden in Deutschland zu, rekonstruiert exemplarisch die Vielfalt der Biographien und bettet deren linkes Selbstverständnis in die Proteste um 1968 ein. Freimüller argumentiert hier knapp und überzeugend, wie die in Frankfurt dominierende amerikanische Populärkultur und die Identifikation mit der 1968er-Revolte viele Mitglieder der Zweiten Generation dazu einlud, sich als aktiver Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft einzubringen. Mit der Geschichte Daniel Cohn-Bendits (geboren 1945) als prominentestem Protagonisten der Pariser Mai-Revolte gelingt es dem Autor, von der großen Politik eine direkte Verbindung bis hin nach Frankfurt zu ziehen und dabei zugleich die Frage nach der Bedeutung der jüdischen Herkunft des Aktivisten für sein politisches Engagement zu stellen – eine zentrale Frage, die in der bisherigen Forschung unter anderem 2015 von Sebastian Voigt diskutiert wurde und auch von Freimüller herangezogen wird.1 Auch die 1970er-Jahre, Gegenstand von Kapitel 9, blieben nicht frei von Konflikten. Besonders überzeugend sind hier Freimüllers Ausführungen hinsichtlich des städtischen Vorhabens zur Neugestaltung der Innenstadt und des Westends in den 1960er-Jahren. Hier skizziert er das mit den Umbauplänen verbundene Zusammenspiel von großzügigen städtischen Sondergenehmigungen sowie der bereitwilligen Kreditvergabe seitens der Banken, die zur beschleunigten Niederlassung von Unternehmen führte und zugleich den Verlust von Wohnraum vorantrieb. Dieser Umstand entlud sich in den 1970er-Jahren in den „Häuserkämpfen“, deren antijüdische Untertöne Freimüller gekonnt rekonstruiert und in ihren ideologischen Verzerrungen souverän entlarvt. Wie stark sich die Vorstellungen von einer negativen jüdischen Figur durchgesetzt hatten, zeigt der Autor, indem er den Bogen von den Debatten um die Erscheinung des Fassbinder-Stücks im Jahr 1975 zu den Ereignissen und Konflikten um dessen geplante Aufführung im Frankfurter Theater sowie ihre Verhinderung durch die Jüdische Gemeinde am 31. Oktober 1985 spannt. Den Einschätzungen des Historikers Anthony Kauders folgend sieht auch Freimüller in dem als Bühnenbesetzung zum Ausdruck kommenden öffentlichen Protest der Juden ein kollektives jüdisches „Coming-out“, das für „ein neues Selbstbewusstsein der Juden in Frankfurt und möglicherweise in der ganzen Republik“ (S. 479) stand.2 Auch in der zweiten Generation hatte eine neue Selbstverortung als Juden in Deutschland stattgefunden: Die erinnerungspolitische Wende Ende der 1970er-Jahre, so Freimüller, die durch die Ausstrahlung der amerikanischen Serie „Holocaust“ im Januar 1979 in Deutschland angestoßen wurde, habe das Thema für das jüdische Selbstverständnis der neuen Generation bedeutend gemacht. Zudem habe sie zur Gründung der Frankfurter Jüdischen Gruppe geführt, deren prominenteste Mitglieder Cilly Kugelmann, Dan Diner und Micha Brumlik waren. In den 1980er-Jahren kreisten die Konflikte und Skandale immer wieder um die explizit wie implizit im politischen Raum stehende Forderung nach „Normalität“. Freimüller gelingt es nicht nur, den in den unterschiedlichen Konfliktzusammenhängen aufkommenden Wunsch nach „Normalität“ kritisch zu überprüfen, er nennt zudem auch einige Antworten, die jüdische wie nicht-jüdische Protagonisten diesen Erwartungen gegenüber artikuliert hatten. Mit dem Hinweis auf die Denk- und Argumentationsfigur der „Negativen Symbiose“ von Dan Diner schließt er sein letztes Kapitel ab.

Die Studie von Tobias Freimüller überzeugt in Anlage, Argumentation und Sprache durchgängig. In seiner Untersuchung findet nicht nur die – im Vergleich zu anderen deutschen Städten durchaus differenzierte und fortgeschrittene – Lokalforschung zur jüdischen Geschichte nach 1945, die maßgeblich von Helga Krohn, Rachel Heuberger und Cilly Kugelmann etabliert wurde, entsprechende Würdigung. Darüber hinaus gelingt es Freimüller, am Beispiel „Frankfurt und seine Juden“ eine deutsch-jüdische Geschichte nach 1945 „en miniature“ zu schreiben, die – wie er im Schlussteil treffend darlegt – die Aspekte einer Erfolgs-, einer Migrations- wie auch einer reflexiven Nach- und Deutungsgeschichte des Nationalsozialismus in sich vereint.

Dass diese Synthese – trotz ihres Umfangs von über 560 Seiten – nur einen Ausschnitt der Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945 darstellt, mag überraschen. Doch gibt es eine strukturelle Leerstelle in der Darstellung, die auch auf dem eingangs erwähnten Titelbild des Buches zum Ausdruck kommt. Denn anders als auf dem Cover zu sehen ist, findet sich auf dem Originalbild noch eine dritte Person, die etwas abseits in kritischer Distanz zu den beiden Frankfurter Herren steht. Es handelt sich um Felix Elisier Shinnar (1905–1985), Leiter der 1952 gegründeten Israel-Mission. Die Mitarbeiter dieser als inoffizielle Botschaft fungierenden Institution schrieben den Entwicklungen in Deutschland ihre eigene Deutung zu.3 Eine solche Außenperspektive einbeziehend ließe sich die Geschichte von Frankfurt und den Juden demnach nicht nur als deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte schreiben, sondern auch als ein „historisches Dreieck“ (Frank Stern). So hebt auch Freimüller zurecht an verschiedenen Stellen hervor, dass die jüdische Existenz in Deutschland ein Politikum darstellte. Diese Feststellung würde ihre Bedeutung aber erst ganz entfalten, wenn die kritische Sicht von Juden in Israel oder in den Vereinigten Staaten systematisch mit eingebunden wäre. Dann gewinnt auch das von Freimüller hinterfragte Konzept des „Gabentauschs“ (S. 153), welches von Kauders so beschrieben wurde, wieder erkenntnistheoretische Relevanz. Denn das der Ethnologie entliehene Konzept dient Kauders nicht allein als Symbol einer bilateralen Beziehung (also eines gebenden Nehmens und nehmenden Gebens), sondern vor allem als analytische Beschreibungskategorie für Formen politisch-symbolischer Interaktionen, die vor Zeugen oder anderen Instanzen, ergo einem dritten Akteur, vollzogen werden. Auf die Geschichte der Juden in Deutschland bezogen steht für diesen dritten Akteur pars pro toto der auf dem Cover entfernte Shinnar. Fraglos hätte die Berücksichtigung einer so komplexen, dritten Akteursgruppe in dieser Interaktionsgeschichte den Rahmen der Studie gesprengt. Die ohnehin breit angelegte Großerzählung von Tobias Freimüller ist damit ein überaus beeindruckender Beitrag zur jüdischen und bundesrepublikanischen Geschichte, die Raum für Perspektiverweiterungen ermöglicht.

Anmerkungen:
1 Sebastian Voigt, Der jüdische Mai ’68. Pierre Goldmann, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich, Göttingen 2015, S. 135–226.
2 Anthony Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, München 2007, S. 129–131.
3 Aktuell befasst sich die Historikerin Irit Chen in einer Dissertation mit der Geschichte und dem Wirken der Protagonisten der Israel-Mission in Deutschland.