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Titel
Der Einzige und die Deutsche Ideologie. Transformationen des aufklärerischen Diskurses im Vormärz


Autor(en)
Pagel, Ulrich
Reihe
De Gruyter Marx Forschung 1
Erschienen
Berlin 2020: de Gruyter
Anzahl Seiten
IX, 690 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Waszek, Département d’Etudes germaniques, Université Paris VIII (Vincennes à Saint-Denis)

Ulrich Pagel (geb. 1975) legt hier eine überarbeitete Fassung seiner 2015 in Halle verteidigten Dissertation vor, die dort von Harald Bluhm und Matthias Kaufmann betreut wurde. Pagel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) getragenen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). In diesem Rahmen ist er schon durch seine editorische Arbeit (gemeinsam mit Gerald Hubmann und Christine Weckwerth) an der „Deutschen Ideologie“ (MEGA I/5) hervorgetreten.

Wer, wie sicher die meisten Leser, die Manuskripte der „Deutsche Ideologie“ in der Gestalt studiert oder zumindest wahrgenommen hat, welche sie in Band 3 der MEW-Ausgabe (1958; zweite Auflage 1973) erhalten haben, musste sich wundern, dass Max Stirner dort so umfangreich behandelt wurde (etwa 2/3 des Gesamtumfangs), obgleich die damaligen Herausgeber nahelegten, dass die philosophisch entscheidende Auseinandersetzung von Marx und Engels damals Feuerbach gegolten habe. Davon abgesehen, dass die MEW-Ausgabe suggerierte, es läge ein fast abgeschlossenes Buchmanuskript vor, wovon die Autoren weit entfernt waren.

Die hier vorliegende Studie „begreift sich als Beitrag zu der notwendigen Rekonstruktion des tatsächlichen Abfassungszusammenhangs der Manuskripte zur ‚Deutschen Ideologie‘“ (S. 11). Spezieller geht es darum, die große Aufmerksamkeit, die Marx und Engels Autoren wie Stirner widmeten, „ernst zu nehmen“ (ebd.) und solche Autoren wiederzuentdecken. Daraus folgt, dass auch Leser, die sich nicht (mehr) für die Marx-Philologie interessieren, diese umfangreiche Stirner-Studie mit Interesse begrüßen können.

Der Rezensent wurde insbesondere vom Untertitel angelockt, „Transformationen des aufklärerischen Diskurses im Vormärz“. Dass es tatsächlich (neben gewissen Brüchen) viel Kontinuität zwischen den beiden Perioden, Aufklärung und Vormärz, gibt, ist schon oft festgestellt worden. Am Beispiel von Arnold Ruge (1802–1880) zeigte der zu früh verstorbene Horst Stuke (1928–1976) dies in seinem gelungenen Beitrag über „Aufklärung“ zu den Geschichtlichen Grundbegriffen.1 In Briefen des Jahres 1841 betont Ruge die Anknüpfung des Vormärz an die Aufklärung nachdrücklich. So schreibt er am 23. Februar an Moritz Fleischer: „Die Zeit der Aufklärung ist wieder da.“2 Am 7. November 1841 schreibt er vielleicht noch deutlicher an Adolf Stahr: „Unsere Zeit ist die fundamentalste Aufklärungsperiode, die es je gegeben hat, und es wird nöthig, wie Voltaire und Rousseau zu schreiben […]“.3 Dass Ruge in diesem Zusammenhang kein Einzelfall war, kann an Heinrich Heines Beispiel gezeigt werden.4 Stuke spricht sogar von der „Einmütigkeit, mit der die Linkshegelianer die Wiederbelebung der Aufklärung […] betreiben“5, doch widmet er sich Stirner in diesem Zusammenhang nicht.

Dies ist also das Feld, das Pagel bearbeiten will. Nach der Einleitung und dem ersten Kapitel, in welchem er die Wiederaufnahme des aufklärerischen Diskurses vorzugsweise an Feuerbach (S. 64–79) und Bruno Bauer (S. 79–97) schildert und trotz gewisser Differenzen von einer „vereinten junghegelianischen Aufklärung“ (S. 99) ausgeht, wird im 2. Kapitel (S. 98–147) zwei Entwicklungen Rechnung getragen, welche die zunächst bestehende Einigkeit um 1842 unterhöhlten. Einerseits, die inneren Auseinandersetzungen, die unter anderen daran festgemacht werden, dass David Friedrich Strauß mit den Positionen von Feuerbach und Bauer, die zwar auf seiner Pionierleistung aufbauten, ihn aber radikal überholen wollten, nicht einverstanden war und offen mit den Deutschen Jahrbüchern brach (S. 100f.). Andererseits die Bedrohung von außen, durch die Verschärfung der Zensur und den Entzug der Bauer’schen Lehrbefugnis, welche zum Katalysator der Spaltung in einen radikalen und gemäßigten Flügel wurde. Nachdem die Hoffnungen, die sich an Friedrich Wilhelm IV. knüpften, als er im Juni 1840 den Thron bestieg, schon nach wenigen Monaten enttäuscht wurden, wurden Feuerbach und Bauer, jeder auf seine Weise, dazu gezwungen, ihre Aufklärungsstrategien zu modifizieren (vgl. Kapitel 3, S. 148–197).

Die Auseinandersetzung mit Stirner, die im Zentrum der Studie steht, beginnt erst nach dieser langen Rekonstruktion des junghegelianischen Diskussionszusammenhangs, und zwar zunächst damit (Kapitel 4 und 5), die Legende von Stirner als „vir unius libri“ in Frage zu stellen und die Aufmerksamkeit auf seine wenig gelesenen anderen Publikationen zu lenken. Ist in dieser Hinsicht zwar durch die Edition von Bernd Laska schon viel geleistet worden6, sind diese Ausführungen informativ und verdienstvoll. Pagel geht dabei bis auf Stirners im November 1834 eingereichte Examensarbeit zurück (S. 199–233), wohl der früheste Text von Stirner, der sich erhalten hat.7 Auch im 5. Kapitel geht es um kleinere Texte, die noch vor dem Hauptwerk, Der Einzige und sein Eigenthum (Ende 1844, datiert auf 1845) erschienen sind.8 Der Unterschied liegt für Pagel zeitlich darin, ob sie vor oder nach dem Einschnitt von 1842/43 entstanden sind, inhaltlich aber in einer graduellen Abkehr vom „philosophischen Referenzrahmen des aufklärerischen Diskurses“ (S. 275). Beachtenswert ist hier die ausführliche Behandlung (S. 275–291) des 1844 in der Berliner Monatsschrift erschienenen Aufsatzes über den Bestseller von Eugène Sue, Die Mysterien von Paris.9

Das 6. Kapitel widmet sich Stirners Hauptwerk. Darin sei die Philosophie als Träger der Aufklärung abgetreten und Stirner rücke „das Vertrauen in die spukbannende Kraft der menschlichen Vernunft selbst in die Nähe eines zu überwindenden Aberglaubens“ (S. 309). Stirners auf Feuerbach und Bauer gemünztes Wort: „Unsere Atheisten sind fromme Leute“10 lässt sich also so verstehen, dass ihre Entlarvung der Fremdbestimmung durch Religion nur einer anderen Fremdbestimmung Raum geschaffen habe, dass „aus religiösen ‚Besessenen‘ philosophische ‚Besessene‘ wurden“ (S. 328). Zudem stieß die philosophische Aufklärung auf kaum ein Echo. Nur durch den Rekurs auf die materiellen Interessen der Zielgruppe, in diese Richtung geht der alternative Aufklärungsdiskurs Stirners, könnten die hehren Ideen Verbreitung finden, wenn sie ihren „Egoismus befriedigen“11 (S. 329f). Durch solche Überlegungen wird vielleicht deutlicher, warum Marx und Engels ihre Auseinandersetzung mit Stirner mit so viel Aufwand betrieben haben. In den letzten Kapiteln geht Pagel noch einmal auf diese Auseinandersetzung ein.

Selten wurde Stirner so große Aufmerksamkeit teil und es lässt sich aus der detaillierten Untersuchung viel lernen. Allerdings hätte das Buch in der Argumentation gestrafft und das Thema klarer gestellt werden können, denn es treten im Grunde zwei Fragestellungen miteinander in Konkurrenz: einerseits die kontextualisierte Auseinandersetzung von Marx und Engels mit Stirner; andererseits die originellere Fragestellung nach Stirners sich wandelndem Aufklärungsdiskurs. Vielleicht hätte der Autor zwei Bücher daraus machen sollen?

Anmerkungen:
1 Horst Stuke, Aufklärung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Stuttgart 1972, S. 243–342, hier S. 337.
2 Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825–1880, hrsg. v. Paul Nerrlich, 2 Bde., Bd. 1: 1825–1847; Bd. 2: 1848–1880, Berlin 1886, hier Bd. 1, S. 220.
3 Ebd., S. 246f.
4 Vgl. Norbert Waszek, Von der Aufklärung zum Vormärz. Kontinuitäten und Brüche. Am Beispiel von Heines Lektüre von Lessing und Mendelssohn, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel / Hermann Cohen, Wege zur Versöhnung, hrsg. v. Norbert Waszek, Freiburg 2018, S. 140–160.
5 Stuke, Aufklärung, S. 337. Stukes Hervorhebung, N. W.
6 Max Stirner, Parerga, Kritiken, Repliken, hrsg. v. Bernd Laska, Nürnberg 1986.
7 Zuerst veröffentlicht im Jahre 1920: Max Stirner, Ueber Schulgesetze [1834], mit einer Einführung von Rolf Engert, Dresden [1920].
8 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1845. Diese Erstausgabe steht im Deutschen Textarchiv mit voller Suchfunktion zur Verfügung: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/stirner_einzige_1845 [03.01.2021].
9 Max Schmidt [=Stirner], Die Mysterien von Paris. Von Eugène Sue, in: Berliner Monatsschrift (1844), S. 302–332.
10 Stirner, Der Einzige, S. 243, vgl. S. 52.
11 Ebd., S. 101.

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