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Titel
Antijüdische Pogrome in Polen im 20. Jahrhundert. Gewaltausbrüche im Schatten der Staatsbildung 1918–1920 und 1945–1946


Autor(en)
Reder, Eva
Reihe
Studien zur Ostmitteleuropaforschung
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 266 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Grelka, Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Der Zusammenhang zwischen Judenfeindschaft und polnischem Nationalismus ist seit der Debatte um die polnische Beteiligung an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Jedwabne zu einem wichtigen Thema der neueren Polenforschung avanciert. In der publizierten Fassung ihrer Wiener Dissertation aus dem Jahr 2017 untersucht die österreichische Historikerin Eva Reder den Zusammenhang zwischen Staatsneubildungsprozessen und Antisemitismus in Polen. Zu diesem Zweck vergleicht sie antijüdische Pogrome in der Folge der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts vorwiegend aus der Perspektive der polnischen Täter.

In der Einleitung macht Eva Reder deutlich, dass es in ihrem Vorhaben erklärtermaßen auch darum geht, eine eigene Theorie über Pogrome am Rande von staatlichen Umbrüchen und neuen Grenzziehungen zu entwickeln. Im zweiten Kapitel geht sie politischen und ökonomischen Faktoren nach, die den Ausbruch von Pogromen begünstigten, im dritten analysiert sie die Konstruktion jüdischer Feindbilder, um auf dieser Grundlage in Kapitel vier performative Aspekte der Gewalt gegen jüdische Minderheiten zu diskutieren. Herausgehoben ist das fünfte Kapitel, in dem die Autorin über die Rolle des polnischen Staates bei der Entfesselung antijüdischer Massaker nachdenkt. In der unheilvollen Allianz zwischen Nationalismus und Antisemitismus in Form einer ritualisierten Stigmatisierung der Juden als gleichermaßen äußerem wie innerem Feind der polnischen Nation findet die Studie ihr grundsätzlich sehr inspirierendes Leitmotiv. Reders Buch kommt in einem angenehm schlanken Taschenbuchformat daher. Am Ende von drei der fünf Hauptkapiteln helfen kurze Zusammenfassungen dem/der Leser/in bei der Orientierung zwischen den beiden Untersuchungszeiträumen.

Allen Kapiteln ist das Bemühen anzumerken, dem hohen Anspruch eines diachronen Vergleichs gerecht zu werden. Die komparative Darstellung bleibt allerdings meist auf einer deskriptiven Ebene und referiert bereits bekannte Befunde aus der Stereotypenforschung über den polnischen Antisemitismus.1 Der wichtige neue Befund Reders, dass das „Interregnum“, also die Zeit des Übergangs und der Abwesenheit staatlicher Gewaltmonopole, der entscheidende Umstand für pogromartige Gewalt gegen Juden gewesen sei, sagt Wesentliches über die Rahmenbedingungen, weniger aber über die Praxis, die Motive und Strategien antijüdischer Ausschreitungen aus. Letztlich, so räumt Eva Reder ein, bleibt nur das Setting chaotischer Nachkriegszustände als verbindendes Element zweier Pogromdynamiken, die ansonsten in „keiner Weise identisch“ seien (S. 231).

Dünn bleibt der Faden, den die Arbeit mit Blick auf die Frage der Kontinuität polnischer Pogrome von der einen in die andere Nachkriegszeit spinnt, auch deshalb, weil es wenig Vergleichbares zu geben scheint. So scheinen sich die ereignisgeschichtlichen Gemeinsamkeiten in der Tatsache zu erschöpfen, dass die Stadt Kielce sowohl Schauplatz des ersten antijüdischen Pogroms im wieder unabhängigen Polen 1918 als auch Ort der prominenten Ausschreitungen war, denen 42 jüdische Männer, Frauen und Kinder im Juli 1946 zum Opfer fielen. Durch die Dezimierung der jüdischen Bevölkerung im Zuge der deutschen Judenvernichtung waren gerade einmal ca. 200 der ehemals 25.000 jüdischen Bewohner nach Kielce zurückkehrt. Dort, wo die jüdische Bevölkerung nach dem Holocaust schon rein quantitativ keine gesellschaftliche Rolle mehr einnehmen konnte, entluden sich in fünf Pogromen situative Bereicherungsmotive und Verlustängste von Polen, die oftmals Bewohner „herrenloser“ jüdischer Immobilien geworden waren. Aufschlussreicher wäre hier ein vertieftes Fallstudium zu jüdischen Überlebenden gewesen, die nach 1945 im nun polnischen Niederschlesien angesiedelt worden waren. Deren Situation deutet Reder jedoch nur an, wobei sie vermutet, dass dort das Zusammenleben zwischen Polen und Juden besser gewesen sein „muss“, weil „alle Neuankömmlinge in einer fremden Gegend waren“ und dieser Umstand Fremdheit absorbiert habe (S. 219).

Da die Darstellung zu weiten Teilen auf der Wiedergabe zeitgenössischer Gerüchte und der Zitation quellenkritisch kaum begleiteter Zeugenaussagen beruht, wirken einige Passagen, etwa über die „jüdische Aggression“ (S. 53) oder über vermeintliche Kontinuitätslinien von der NS-Vernichtungspolitik zu polnischen Judenpogromen im Umfeld beider Kriege (S. 183), etwas spekulativ. Außerdem versäumt es Reder, die strukturellen Unterschiede jüdischer Bevölkerungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg deutlicher zu benennen. So gehörten die Opfer zahlloser Pogrome angesichts von drei Millionen „Ostjuden“, die sich nach dem Zusammenbruch der europäischen Großreiche auf polnischem Staatsgebiet wiederfanden, oftmals zur örtlichen Mehrheitsbevölkerung. Im Gegensatz zum Systemwechsel von 1945 hatte sich die Zweite Republik auch nach 1918 mit jüdischen Parteien politisch auseinanderzusetzen: Die zionistische Informationspolitik über die Pogrome, die Appellation jüdischer Parteien im Sejm sowie das Komitee der jüdisch-osteuropäischen Delegationen setzten der polnischen Glaubwürdigkeit bei den Pariser Verhandlungen über einen Minderheitenvertrag mächtig zu.2

Auch aus Sicht der jüdischen Bevölkerungen in Polen scheint sich die Bedeutung der Pogrome von der einen zur anderen Periode deutlich zu unterscheiden. So kann man das Lobbying für mehr rechtliche Gleichberechtigung auch im Hinblick auf eine gesellschaftliche Integration jüdischer Staatsbürger in der Zweiten Republik als durchaus erfolgreich bezeichnen. Hingegen lösten die Ereignisse von Kielce unter den Überlebenden der Shoah einen Schock aus, der nicht wenige in den Selbstmord und viele Verbliebene schließlich in den Exodus von 1968 trieb.3 Diese Unterschiede in den jüdischen Quellen beleuchtet Reder jedoch nicht systematisch, so dass der Vergleich der Konvergenzen zwischen polnischem Nationalismus und Antisemitismus in diesem Band streckenweise auf einer intuitiven Ebene bleibt.

Trotz dieser kritischen Bemerkungen ist Reders Studie ein wichtiger Beitrag zur Verflechtung von Nationalismus und Antisemitismus in der polnischen Geschichte. Vor allem, weil das Buch jenseits einer Nationalgeschichtsschreibung, die vor allem die Integration der jüdischen Minderheit in die katholische polnische Mehrheitsgesellschaft seit der Ersten Republik und das gemeinsame Leiden unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg betont, ein Schlaglicht auf sich in Pogromen entladende Feindschaft und Gewalt als konstitutive Elemente polnischer Nationalstaatlichkeit wirft. Eine Trennung zwischen der Erforschung des polnischen Antisemitismus und der Erzählung über Polen im 20. Jahrhundert kann, das jedenfalls liest man zwischen den Zeilen des Textes von Eva Reder, in seriöser Weise nicht mehr funktionieren.

Anmerkungen:
1 Alina Cała, Żyd – wróg odwieczny? Antysemityzm w Polsce i jego źródła, Warszawa 2012.
2 Carole Fink, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878–1938, Cambridge 2004.
3 Dazu detailliert: Alina Skibińska, Alina. Powroty ocalałych i stosunek do nich społeczeństwa polskiego, in: Feliks Tych / Monika Adamczyk-Garbowska (Hrsg.), Nastȩpstwa zagłady Żydów. Polska 1944–2010, Lublin 2012, S. 39–70.

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