Der ländliche Raum ist im letzten Jahrzehnt zunehmend in den Fokus der Geistes- und Sozialwissenschaften gerückt. Dabei finden sich mehr und mehr Arbeiten mit interdisziplinären, vergleichenden oder global orientierten Ansätzen, die den ländlichen Raum in seinen Verflechtungen untersuchen, ohne ihn in einer simplifizierenden Dichotomie gegenüber dem Machtzentrum Stadt oder in vermeintlich grundlegender Andersartigkeit und Rückständigkeit zu essentialisieren. Dietmar Müller hat mit seiner europäisch vergleichenden Geschichte des ländlichen Bodeneigentums in Polen, Jugoslawien und Rumänien zwischen 1918 und 1948 einen Meilenstein in dieser Richtung vorgelegt.
Müller geht es darum, die vielfältigen und sich wandelnden Eigenschaften, Bedeutungen und gesellschaftlichen Funktionen von ländlichem Bodeneigentum aufzuzeigen und zu analysieren. Am Beispiel der Agrarreformen in den drei ostmittel- und südosteuropäischen Ländern Polen, Jugoslawien und Rumänien arbeitet er überzeugend die Bedeutung der Zwischenkriegszeit für nationale Aus- und Umgestaltungen des Eigentumsbegriffes heraus. Die Landreformen der 1920er- und 1930er-Jahre weist er als starken Referenzpunkt für jene der späten 1940er-Jahre aus, obwohl sich die staatssozialistischen Regime nach 1945 von ihren „bürgerlichen“ Vorgängern bewusst abgrenzten und am sowjetischen Vorbild orientierten. Dabei kann Müller anschaulich zeigen, wie „der ländliche Raum zugleich die gefährlichste Herausforderung und das größte Stabilisierungs- und Entwicklungspotential“ (S. 7) darstellte – sowohl für die 1918 neu entstandenen Staaten als auch für ihre kommunistischen Nachfolger nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Autor begreift „Bodeneigentumspolitik“ hierbei konsequent als „Bevölkerungspolitik“, als „Elitenprojekt beschleunigter Modernisierung und Homogenisierung“, das vor allem ethnisch und sozial ausgerichtet war und zahlreiche nichtintendierte Folgen hatte (S. 9).
In einer prägnanten Einleitung entwickelt Müller Fragen, Forschungsfelder und Methoden gewinnbringend aus dem Forschungsstand. Dabei arbeitet er den Eigentumsbegriff und die Governance des Eigentums als seine zentralen Forschungsfelder heraus. Zum einen skizziert er, wie im 19. Jahrhundert ein liberal-individualistischer Eigentumsbegriff als „eine unteilbare und umfassende Sachherrschaft einer Person über ein Ding“ (S. 14) entstand, welcher wiederum ab etwa 1900 wandelbare diskursive und juristische Einschränkungen im Hinblick auf eine „soziale Funktion“ des Eigentums erfuhr (S. 15). Zum anderen interessieren Müller die Strukturen des Umgangs mit Eigentum, also Systeme der Bodenevidenz (wie Kataster und Grundbuch) sowie die mit Eigentum befassten Professionen (wie Geodäten, Grundbuchbeamte, Notare und Rechtsanwälte) (S. 18), die er im Begriff der Governance des Eigentums fasst. Müller weist zudem die Agrarreformen in den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas nach dem Ersten Weltkrieg überzeugend als Alleinstellungsmerkmal im europäischen Vergleich aus – nämlich sowohl hinsichtlich des Umfangs des umverteilten Landes, der Zahl der betroffenen Eigentümer und der sozialen Funktion der Agrarreformen zur staatlichen Konsolidierung als auch im Hinblick auf ihre ethnonationale Dimension (S. 26f.). Seine Gliederung orientiert Müller daher am Spannungsfeld von weitgefasster Rechtsnorm und Rechtspraxis, welches er zudem in seiner bevölkerungspolitischen Dimension analysiert.
In Kapitel 1 untersucht Müller die verfassungsmäßigen und agrargesetzlichen Normierungen von Eigentum. Er kann plausibel zeigen, wie die neuen Staaten in Ostmittel- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit in einen Zielkonflikt „zwischen einer politisch verstandenen Nation mit gleichen Rechten für alle Staatsbürger und einer Ethnonation mit Benachteiligungen von Staatsbürgern anderer Ethnie und/oder Religion als die der Titularnation“ gerieten (S. 33). Dabei machte Eigentum, sei es konkret an Grund und Boden oder symbolisch und mythologisiert am „Vaterland“, einen „entscheidende[n] Faktor“ aus (S. 34). Die Staaten im östlichen Europa rückten nach 1918 noch entschiedener als andere Staaten auf dem Kontinent vom liberal-individualistischen Eigentumsbegriff ab und nahmen Bodeneigentum im Sinne einer „planmäßigen, nachholenden und beschleunigten Entwicklung“ für kollektive, meist ethnonationale und wirtschaftsprotektionistische Interessen in Anspruch (S. 37). Dies wurde auch darin deutlich, dass die Agrarreformen im östlichen Europa nicht primär wirtschaftlich, sondern vornehmlich politisch und sozial begründet waren (S. 45).
Anhand der Umsetzung der Agrarreformen durch die Legislative, die Verwaltung und die an Bodenevidenz beteiligten Professionen analysiert Müller in Kapitel 2 den Wandel in der Governance des Bodeneigentums während der Zwischenkriegszeit. Dabei verdeutlichten die Enteignungen, Bodenzuteilungen und neu geregelten Bodenevidenzsysteme den wachsenden Anspruch der Eliten auf die Regelung des Bodeneigentums, jedoch fehlten meist der politische Wille und die finanziellen Mittel, staatliche und gesellschaftliche Strukturen zu stärken, die diese effektiv hätten umsetzen können (S. 92). So gelang es in keinem der drei Länder, die differierenden Bodenevidenzsysteme der vor 1918 zu unterschiedlichen Staaten und Imperien gehörenden Regionen und die mit Bodeneigentum befassten Professionen zu vereinheitlichen. Ein Grundbuch- und Katastersystem nach preußischer und habsburgischer Tradition war zwar überall geplant, wurde aber nirgends flächendeckend installiert. Damit wurde Boden nicht nur weiterhin regional unterschiedlich besteuert, sondern aufgrund fehlender Rechts- und Erwartungssicherheit auch die Unterkapitalisierung der Landwirtschaft verstetigt. Zudem verteilten die Länder agrarischen Boden im Zuge der Agrarreformen regional unterschiedlich um – vergleichsweise wenig in den „politischen Zentrallandschaften, wie im rumänischen Altreich, in der serbischen Šumadija und im ehemaligen Kongresspolen“, relativ viel hingegen in strategisch wichtigen und von Minderheiten besiedelten Regionen. Müller spricht daher von einer verstärkten „rechtskulturelle[n] und rechtsinstitutionelle[n] Zersplitterung“ in der Zwischenkriegszeit. Der markante Schub zum Autoritären in den 1930er-Jahren verstärkte diese Tendenz noch, indem er den „Erwartungshorizont der Bauern auf den Staat als intervenierenden und planenden Akteur“ verschob (S. 233f.).
In Kapitel 3 geht Müller auf die ethnonationale Dimension von Bodeneigentum im internationalen Kontext ein, indem er anhand exemplarischer Regionen und Minderheiten die „ethnopolitische Schlagseite der Agrarreform[en]“ (S. 240) untersucht. Dabei zeigt er, wie bestimmte Regionen, die für die Nationen ähnliche Rollen in der Nationsbildung und in der nationalen Meistererzählung spielten (wie die Vojvodina für Jugoslawien und Siebenbürgen für Rumänien), auch in der Bodenfrage eine gesonderte Behandlung erfuhren. Teils wurden ausgerechnet die Bestimmungen der Minderheitenschutzverträge als Vorwand genutzt, um die Minderheiten aus der Landumverteilung auszunehmen (so etwa die ungarische Minderheit in Jugoslawien). Gerade in Polen und Jugoslawien, in geringerem Maße auch in Rumänien, spielte Kolonisierung von strategisch bedeutsamen Regionen eine wichtige Rolle. Im Vergleich zu ihrem Aufwand erzielte sie laut Müller jedoch nur äußerst schwache Ergebnisse. Zudem zog sie eine Menge nichtintendierter negativer Folgen nach sich.
„Weder als vollständigen Bruch“, noch als „bloßes Vorspiel zur Einparteienherrschaft“ (S. 327) deutet Müller in Kapitel 4 die Zeit der sogenannten Volksdemokratien (1944/45–1948), als kommunistische Parteien von der Ostsee bis zum Schwarzen und Adriatischen Meer Koalitionsregierungen mit linken, bäuerlichen und bürgerlichen Parteien bildeten. Müller analysiert die drei zuvor getrennt erörterten Problemfelder hier integriert in einem Kapitel. Die forcierte Bevölkerungspolitik von 1945 bis 1948 war laut Müller Reaktion auf die nationalsozialistische Vertreibungs- und Vernichtungspolitik, knüpfte an stalinistische Herrschaftstechniken an und nahm zugleich nationalistische Projekte der Zwischenkriegszeit auf. Kommunisten verfolgten mit der Verteilung vor allem deutschen und ungarischen Landbesitzes in private Hände das Ziel, die kommunistische Bewegung im ländlichen Raum zu verankern. Sie sahen in den Bodenreformgesetzen jedoch insgeheim nur „einen Zwischenschritt hin zu Kollektiv- und Staatswirtschaften“. Gerade die vormals von Deutschen besiedelten Gebiete firmierten so als „Laboratorien der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft“ (S. 406).
Alle Kapitel schließen mit luziden Zusammenfassungen und münden in einem umfassenden Schlusskapitel mit einem Ausblick, der vor allem für Rumänien bis nach 1989 ausgreift. Die Anstrengungen der Eigentumsreformen kategorisiert Müller darin nochmals für den gesamten Untersuchungszeitraum als dilatorisch und überstürzt zugleich, was neben politischen Intentionen auch einer Behörden- und Rechtskultur geschuldet war, „die von geringer Verwaltungstiefe und Voluntarismus gekennzeichnet war“ (S. 416).
Dietmar Müller hat ein überaus dichtes und gleichwohl gut lesbares Buch zu einem Thema geschrieben, das bisher in seinen komplexen innergesellschaftlichen und internationalen Kontexten kaum erforscht war. Lediglich die Bedeutung genossenschaftlicher Ideen erscheint mir vor allem für die Zwischenkriegszeit zu geringgeschätzt, da breite gesellschaftliche Kreise dörfliche Genossenschaften als Modernisierungsmittel diskutierten und Kooperativen erhebliche praktische Erfolge verbuchen konnten. Genossenschaften stellten damit eine Art dritten Weg zwischen individuellen und kollektiven Eigentumsinteressen dar, zwischen dem „liberal-individualistischen Eigentumsbegriff“ und einem staatlich normierten „Eigentum mit sozialer Funktion“. Ungeachtet dessen hat Dietmar Müller ein wertvolles Standardwerk zu den Agrarreformen und zum Bodeneigentum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ostmittel- und Südosteuropa vorgelegt, dessen Erklärungspotenzial weit über die analysierten nationalen Fälle hinausweist.