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Titel
Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen


Autor(en)
Gerndt, Helge
Reihe
Münchner Beiträge zur Volkskunde 31
Erschienen
Münster 2002: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
302 S., 30 Abb.
Preis
€ 19,50
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Wolfgang Jacobeit, Fürstenberg/Havel

Es ist mittlerweile zur Tradition geworden, dass die führenden Köpfe eines Wissenschaftszweiges am Ende ihrer jahrzehntelangen universitären Tätigkeit noch einmal all das in einer Publikation zusammenfassen, was sie den Vertretern ihrer Disziplin noch einmal an Ergebnissen und Erkenntnissen ihres Wirkens dartun, vor Augen führen wollen. Eine gewisse Eitelkeit mag da bisweilen mitspielen, aber zumeist ist es doch das Zeichen einer ethisch-moralischen und natürlich wissenschaftlichen Verpflichtung noch einmal die Stimme vor Schülern und Kollegen zu erheben. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die vorliegende Publikation des Senators der Ludwig-Maximilians-Universität zu München und langjährigen Ordinarius‘ für Volkskunde Helge Gerndt.

Wer die volkskundliche Literatur der letzten beiden Jahrzehnte verfolgt hat, dem sind die an unterschiedlichen Orten publizierten Beiträge des Autors nicht fremd. Sie erscheinen jetzt in einer signifikanten Auswahl noch einmal in diesem Band. Da mag es vielleicht Kritiker geben, die ein solches Verfahren des nochmaligen Abdruckens als nicht gerechtfertigt betrachten, es in seiner Bedeutung anzweifeln. Der Rezensent möchte solchen etwaigen Auslassungen entschieden widersprechen. Denn erst mit der Kompaktheit dieses Sammelbandes gerndtscher Assoziationen wird deutlich, wie ihn das Ringen um eine Volkskunde als historische Kulturwissenschaft mit dem Anspruch auf ein Mitspracherecht bei Stellungnahmen zu Problemen der gegenwärtigen sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Entwicklung umgetrieben hat. Ob und ggf. in welchem Umfang der Verfasser diese seine früheren Veröffentlichungen für die Aufnahme in diesen Band umgearbeitet hat, ist dem Rezensent nicht wichtig gewesen. Er möchte vielmehr seine Meinung dahingehend äußern, dass Helge Gerndt sein Schaffen wohl über alle Gebiete der Volkskunde mit dem Blick auf ein Lehrbuch zusammengefasst hat. Er ist bekanntermaßen kein einspuriger Experte für die eine oder andere Spezies aus dem „Kanon“; ihm geht es um die Volkskunde als Ganzes, als kulturwissenschaftliche Gesamtdisziplin.

Darauf in allen Beiträgen immer wieder hinzuweisen und den Gedanken des volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Ansatzes zur Erklärung namentlich gegenwartsrelevanter Erscheinungen bis hin zum grundstürzenden Phänomen der Globalisierung ist das Anliegen von Helge Gerndt. Dabei wartet er nicht immer mit konkreten volkskundlichen Lösungsmöglichkeiten für die menschlich-gesellschaftlichen Probleme auf, sondern beschränkt sich oft bewusst auf ausformulierte Fragestellungen, den Leser somit zum eigenen Nachdenken anregend. Das ist überhaupt ein wesentliches Motiv seiner Überlegungen, den jeweils historisch bestimmten Menschen zum Bezugs- und Ausgangspunkt zu wählen und ihn nicht in folklorisierender o.ä. Weise gewissermaßen „außen vor“ zu lassen. Zu all dem gibt es eine Fülle von Beispielen – auch solche sehr kritischer Art über herkömmliche volkskundliche Kanon-Untersuchungen und deren eingeschränkte sozio-kulturelle Bedeutung –, die in einer Rezension nicht resümiert werden können. Sie müssen, zumindest aber sollten von den Lesern des Buches selbst erfahren, reflektiert und angewandt werden. Das ist letztlich auch der Sinn eines Lehrbuchs, das für unsere Zeit konzipiert und geschrieben worden ist.

Wenn der Rezensent im Folgenden einige Beiträge herausgreift, die ihm für das gerndtsche Anliegen besonders signifikant erscheinen, dann darf und soll das keine willkürliche Auswahl sein und hat auch nichts mit speziellen Auffassungen des Rezensenten zur Volkskunde insgesamt zu tun. Er bemüht sich vielmehr um höchstmögliche Objektivität.

Neben der sehr eindeutigen und instruktiven Einleitung, in der bereits – wie auch sonst des Öfteren – auf die Irrungen und Wirrungen in der Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde mit dem damals geradezu erlösenden Befreiungsschlag Hermann Bausingers für eine neue Betrachtungsweise eingegangen wird, ist das Buch in zwei große Kapitel gegliedert, in welchen die einzelnen Beiträge gerndtscher Provenienz abgehandelt werden.

Das erste Kapitel heißt treffend Kaleidoskop der Zugänge (S. 29-156) und bezieht sich sowohl auf volkskundlich genuine Ansätze wie „Erzählen und Wirklichkeit“ (S. 29-46), „Die Natur als Mythos“ (S. 125-156), als auch auf tagespolitische und globale Probleme, die den Alltag der Menschen in mancherlei Art beeinflussen, mit denen sie sich so oder so auseinandersetzen. Diese Beispiele sind „Der Schatten von Tschernobyl“ (S. 79-105) mit einer großen Zahl decouvrierender Zeitungskarikaturen, als hervorragende alltagskulturelle Quellenart apostrophiert und als Hinweise, wie sich kulturwissenschaftlich betriebene Volkskunde in diesen Problemkreis einklinken müsste, um den Verhaltens- und Handlungsspielraum der vielfach betroffenen Menschen zu erfassen, zu erklären und Stellung zu beziehen.

Ein anderes Ereignis, das volkskundliches Interesse legitimiert und gefunden hat, war die Münchener Weltwirtschaftstagung des Jahres 1992, vor allem durch den rabiaten Einsatz der Polizei gegen Demonstranten berüchtigt. Diese Vorgänge untersucht der Verfasser in dem sprichwörtlichen Beitrag „Ein Gipfel kultureller Gewalt“ (S. 106-124). Auch hier gibt es ausführliche Darstellungen des Geschehens, der Hintergründe und einen Abschnitt besonderer volkskundlicher Relevanz „Zur Schlüsselgewalt der Massenmedien“.

Das zweite Kapitel ist mit Orientierungsmuster (S. 159-264) überschrieben und beginnt mit der wissenschaftshistorischen Abhandlung „Programmatik im Wandel“ (S. 159-172), die auf eine gewisse Nutzanwendung abzielt und so lautet: „Es gehört zur unabdingbaren Aufgabe jedes Forschers, in seiner konkreten, sachbezogenen Arbeit immer wieder innezuhalten, eine Pause der Selbstvergewisserung einzulegen und zu fragen: Was tue ich gerade? Warum tue ich das? Und warum tue ich das gerade so?“ (S. 160) In der Tat ist eine wissenschaftsgeschichtliche Reflexion volkskundlichen Tuns bisweilen vonnöten, um sich aus heutigem Erkenntnisgrund über das Für und Wider eines eingeschlagenen Forschungsweges zu vergewissern. Auf nur wenigen Seiten wird dieser Gang durch die deutsche Volkskunde seit dem späten 18. Jahrhundert über die mit Namen von Gelehrten verknüpften Fixpunkte der Entwicklung (19., 20. Jahrhundert) bis zum Paradigmawechsel der 1970/80er (Bausinger, Gerndt u.a.) angetreten, und er endet mit der erreichten Erkenntnis, „daß das vorliegende Buch ein generell kulturwissenschaftliches Verständnis von Volkskunde zum Prinzip erhebt“ (S. 172).

Dieser Beitrag belässt es im Wesentlichen bei Andeutungen über die verhängnisvolle Fachgeschichte in der Nazizeit. Sie ist für den Autor jedoch so gravierend, dass er ihm einen eigenen Beitrag widmet: „Lehren aus der Geschichte“ (S. 179-190) und ihn mit folgenden Fragen einleitet: Abgesehen von der Vereinnahmung der Volkskunde in eine „wissenschaftliche Schlüsselposition des Parteiapparates wäre nicht vielleicht die Inkubinationszeit, das latente Verhältnis von Volkskunde und Nationalsozialismus vor 1933, viel lehrreicher? Könnte gar jene Epoche einer verdrängten Beziehung zwischen Volkskunde und Nationalsozialismus von 1945 bis 1965 besonders ergiebig sein? Und was hat uns schließlich die jüngste Zeit kritischer Aufarbeitung dieser prekären Verhältnisse zu sagen?“ (S. 173) Wichtige und anregende Fragen, die bereits 1986 auf der von Helge Gerndt einberufenen deutsch-deutschen Tagung „Volkskunde und Nationalsozialismus“ ventiliert wurden und die immer noch – oder schon wieder? – virulent sind, worauf aber schon die Tübinger Studenten in ihrem Flugblatt „Ausdruck des Bedauerns“ (Würzburger Volkskundekongress 1967) hinwiesen und u.a. so formulierten: „Warum hat Heinz Maus immer noch oder schon wieder recht? Warum fällt es uns Studenten so schwer, ihn zu widerlegen? Warum hat noch kein Kongreß uns dabei weitergeholfen? Lag es an uns? Lag es am Kongreß? Oder lag es an der Volkskunde selber? Es liegt, meinen wir, an der Volkskunde“ (S. 159) Mit der Münchner Tagung von 1986 hat Helge Gerndt Antworten gewissermaßen ex officio gegeben; darum auch noch einmal sein Beitrag in diesem Band.

Mit „Wissenschaft im Globalisierungsprozeß“ (S. 247-264) schließen sowohl das Kapitel „Orientierungsmuster“ wie auch der Band selbst. Es stellt volkskundliches Tun in der Gegenwart noch einmal auf den Prüfstand: Von ihm speziell ist im Detail nur selten die Rede, dafür aber von Kulturwissenschaft, in welche sie eingeordnet ist und da ihren Part vom Menschen im Alltag wahrnimmt. Unter diesem Blickwinkel und namentlich im Zeitalter der Globalisierung „muß Volkskunde, von der Eigenerfahrung ausgehend, sowohl europäische Lebensformen untersuchen als auch umgekehrt Globalisierungsphänomene unter regionalem Blickwinkel beurteilen. Die moderne Entwicklung zwingt sie dazu, in Horizonten zu denken, die über Europa hinausgehen, aber konkret studieren muß Volkskunde die Globalisierung am eigenen Ort, in Europa. Dabei bleibt der Raum als beschreibende Kategorie durchaus erhalten [...], denn ohne ein gewisses Maß an stabilem Raumbezug, in dem sich Sozialbeziehungen – wenigstens zeitweise – manifestieren, kann kein Mensch auf Dauer leben“. Solche Zusammenhänge bringt Helge Gerndt dann sehr einleuchtend in Verbindung mit dem Gedanken kultureller Nachhaltigkeit (S. 263). Das aber erfordert von einem europäisch denkenden Volkskundler/Ethnologen mehr als das übliche Faktenwissen, das durch den Gegenwartsbezug freilich noch weiter vermehrt werden könnte. Er muss sich vielmehr um das Verständnis des interdisziplinären Ansatzes bemühen, mit dem allein er sein vorgesehenes Forschungsfeld erkennen kann, um dann erst volkskundlich-kulturwissenschaftliche Fragen zu stellen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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