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Titel
Stadt macht Schule. Schulentwicklungen im "Soziallabor" der Bundesrepublik, 1945 bis 1980


Herausgeber
Kraus, Alexander; Reh, Sabine
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Dana Maria Kier, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Wolfsburg wurde 1938 als nationalsozialistische Musterstadt gegründet und zunächst unter dem Namen „Stadt des KdF-Wagens“ bekannt. Bedingt durch das Volkswagenwerk als zentralem Wirtschaftskörper war die Industriestadt in der Nachkriegszeit von einem rapiden und beständigen Bevölkerungswachstum geprägt, wodurch sich in der Soziologie und der Stadtforschung bereits früh die Bezeichnung als „Soziallabor“ der Bundesrepublik durchsetzte.1 Die Folge waren nicht nur strukturelle und bauliche Entwicklungen, sondern auch eine systematische und als „reformfreudig“ einzustufende Schulentwicklung.2

Der von Alexander Kraus und Sabine Reh herausgegebene Sammelband beschäftigt sich mit der Entwicklung des städtischen Schulwesens in der Industriestadt Wolfsburg als „Schullabor der Bundesrepublik“ (S. 7) im Zeitraum von 1945 bis 1980. Der Schwerpunkt der Beiträge liegt primär auf Fragen des Zusammenhangs von Schulen, dem städtischen Bildungswesen und der Geschichte und Struktur von Städten. Adressiert wird damit ein Forschungsdesiderat der historischen Stadtforschung. Obwohl bereits in einzelnen Studien Zusammenhänge zwischen dem Schulwesen und der Struktur einer Stadt nachgewiesen wurden3, setzt sich die Stadtforschung bislang nur in geringem Maß mit dem Schulwesen auseinander. So wurden zwar Fragen nach der Entwicklung von Jugendkultur, Migration, Ungleichheiten und Familien untersucht, die genauere Behandlung des Schulwesens einzelner Städte fand jedoch bisher kaum Berücksichtigung.4

Der Sammelband geht daher dem naheliegenden Zusammenhang zwischen dem Schulwesen und der Struktur einer Stadt nach. Anhand historischer Fallstudien wird untersucht, wie sich die besonderen Bedingungen der Stadt Wolfsburg auf schulische Akteurinnen und Akteure auswirkten und inwiefern diese darauf reagierten. Ein weiteres Anliegen besteht darin, bekannte Perspektiven der Bildungsgeschichte zu differenzieren sowie die daraus resultierenden Periodisierungen und Positionierungen neu zu beleuchten. Die Idee zu dem Band entstand im Rahmen eines Seminars der Abteilung Historische Bildungsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor dem Hintergrund der divergenten Zusammensetzung der Autorenschaft, die unter anderem erziehungswissenschaftliche, landschaftsarchitektonische, historische oder germanistische Forschungsschwerpunkte aufweisen, ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Heterogenität auch in den Themen der Beiträge niederschlägt. Diese weisen untereinander zwar nur wenige Bezüge auf, bieten aber dennoch spannende Einblicke in verschiedene Forschungsbereiche der Autorinnen und Autoren sowie in weiterführende Forschungsmöglichkeiten.

Im Anschluss an die Einleitung enthält der Band sieben Beiträge, die sich in chronologischer Abfolge mit unterschiedlichen Schwerpunkten der Geschichte des Schulwesens der Stadt Wolfsburg auseinandersetzen. In einem ausführlichen Einstieg thematisieren Denise Löwe, Britta Eiben-Zach und Sabine Reh zunächst die Entwicklung der beiden ersten Gymnasien der Volkswagen-Stadt sowie die entsprechende Schulprofilierung in den 1950er- und 1960er-Jahren. Neben den für die frühe Nachkriegszeit typischen Problemen wie Raumnot oder Lehrermangel konstatieren die Autorinnen, dass sich die ersten Wolfsburger Gymnasien – anders als in der historiografischen Forschung der Gymnasien der Bundesrepublik dargestellt – durch Modernisierung auszeichneten. Bedingt durch die Bedeutung des Volkswagenwerks für die Stadt, den wirtschaftlichen Wohlstand und den damit verbundenen Abhängigkeiten entwickelten sich „technokratisch-konservative Bildungsvorstellungen“ (S. 94), die vergleichsweise früh die Notwendigkeit von Schulentwicklungsplanungen hervorriefen. Weiterhin werden mittels der Analyse von Abituraufgaben und -aufsätzen der 1960er-Jahre im Fach Deutsch zentrale Maßnahmen zur Integration von Heimatvertriebenen und DDR-Flüchtlingen durch die Wolfsburger Gymnasien skizziert. Laut den Autorinnen wurde durch die Thematisierung stadttypischer Probleme eine zwar differenzierte, jedoch überwiegend positive Identifikation mit der Stadt Wolfsburg und somit eine gelungene Identitätsbildung und Integration von Schülerinnen und Schülern im Rahmen eines entsprechenden Stadtmarketings erreicht.

Neben anschließenden Beiträgen von Margarete Arnold über das bauliche und kulturelle Erbe früher Schulneubauten der 1950er- und 1960er-Jahre in Wolfsburg und deren Bezüge zur NS-Zeit sowie von Max Wendland über die Praxis von Schulgutachten und die Rolle der Lehrkräfte bei Selektionsprozessen ist insbesondere der Beitrag von Monika Mattes interessant. Mattes behandelt die Entwicklung der ersten Gesamtschule in Wolfsburg-Westhagen, die 1971 ihren Betrieb aufnahm, sowie die damit einhergehende Entstehung des Selbstverständnisses dieses Reformprojekts. Angesichts der wenig attraktiven Zonenrandlage Wolfsburgs untersucht sie sowohl die von städtischer Seite aus betriebenen Maßnahmen zur Rekrutierung von insbesondere jungen Lehrkräften von außen als auch die damit verknüpften Interessen und Erwartungen von Pädagoginnen und Pädagogen. Im Fokus der spezifisch auf die Bedürfnisse des „Soziallabors“ Wolfsburg zugeschnittenen Werbestrategien stand das Schulexperiment selbst sowie die Repräsentation als „junge, moderne, auch die Freizeit- und Kulturbedürfnisse von Akademikerinnen und Akademikern zufriedenstellende Schulstadt“ (S.183). Aus Sicht der Lehrkräfte waren vor allem die Chancen auf Laufbahnaufstiege, dauerhafte Niederlassungen in der Stadt und materielle Verbesserungen entscheidend. Ferner beleuchtet Mattes die aufgrund von unsicheren Laufbahnperspektiven entstandenen Widerstandsbewegungen der Gymnasiallehrkräfte gegen die Errichtung von Gesamtschulen in der Mitte der 1970er-Jahre.

Auch die als Ausdruck eines gesellschaftlichen Aufbruchs interpretierten Schülerstreiks im Zeitraum von 1970 bis 1980 werden aufgegriffen. So befasst sich Alexander Kraus mit der medienwirksamen Inszenierung des Wolfsburger Schülerstreiks am 13. April 1970 gegen die unzumutbaren Unterrichtsverhältnisse als Folge einer von der kommunalen Schulpolitik betriebenen „Verwaltung des Mangels“ (S. 211). Anke Engmann behandelt das Spannungsverhältnis der aktiven Schülerschaft Wolfsburgs zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Im Zentrum steht die seitens der Schülervertretung und des Stadtschülerrats in den 1970er-Jahren geführte Aushandlung einer demokratischen Selbstbestimmung und verantwortlichen Mitbestimmung innerhalb der Schule sowie im politischen Raum der Stadtöffentlichkeit.

Abschließend widmet sich Michael Siems der italienischen Minderheit in Wolfsburg sowie der sich darauf beziehenden Entwicklung städtischer Integrationsmaßnahmen von einer in den 1970er-Jahren umgesetzten „Ausländerpädagogik“ (S. 259) hin zu interkulturellen Maßnahmen wie der Errichtung einer deutsch-italienischen Schule im Jahr 1993. Fokussiert werden in Abgrenzung zu bisherigen Forschungsarbeiten die von der italienischen Bevölkerung empfundenen Barrieren und Herausforderungen, die nicht ausreichend von den Bildungsangeboten der Wolfsburger Schulen aufgefangen wurden. Als grundlegende Schwierigkeit erwies sich der Umgang mit der Mehrsprachigkeit von Lernenden, die noch in den 1970er- und 1980er-Jahren vom deutschen Bildungssystem als Problem, kaum als Ressource begriffen wurde. Erst die Überwindung dieser Vorstellung in den 1990er-Jahren eröffnete letztlich weitreichende Chancen für den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund.

Insgesamt zeichnet der Sammelband ein Bild einer überwiegend modernen und reformfreudigen Stadt, die sich vergleichsweise früh mit Schulentwicklungsplanung als Reaktion auf ein rasches Bevölkerungswachstum auseinandersetzte. Dabei gelingt es den Beitragenden mittels spannender Fallstudien, die verschiedenen Reformbemühungen Wolfsburgs exemplarisch zwischen den eher „technokratisch-konservativen“ sowie den eher emanzipatorisch gefärbten Bildungsvorstellungen schulischer und politischer Akteurinnen und Akteure zu verorten. Auch die Grenzen kommunaler Schulpolitik und Bildungspolitik auf Landesebene geraten dabei in den Blick. Positiv hervorzuheben ist einerseits die Nutzung eines breiten und vielseitigen Quellenkorpus sowie andererseits die kritische Reflexion der Bedingtheit der eigenen Forschungsarbeit. Weniger erkennbar ist hingegen eine einheitliche methodische Herangehensweise, um die Beiträge unter einer bestimmten Zielsetzung und Fragestellung zu bündeln. Zwar rekurrieren einzelne Beiträge auf die „Praktiken“ (S. 254f.) oder die „Praxis“ (S. 136, 238) von Akteurinnen und Akteuren, woraus Rückschlüsse auf einen praxeologischen Zugang gezogen werden könnten, eine genaue Festlegung und Definition der Methode erfolgt jedoch nicht. Festzuhalten bleibt zudem, dass die Autorinnen und Autoren mit der Erforschung der schulischen Entwicklung in Wolfsburg kein gänzliches Neuland betreten.5 Dennoch bieten die exemplarisch in den Beiträgen dargestellten Zusammenhänge zwischen Stadt- und Schulgeschichte neue Denkanstöße für vertiefende oder vergleichende Forschungsarbeiten. Überdies ermöglichen sie ein erneutes Nachdenken über bisher angenommene Eindeutigkeiten der bildungsgeschichtlichen Periodisierungen und Positionen wie etwa der restaurativen 1950er-Jahre oder der durch Schulreformen und Planungseuphorie geprägten 1960er-Jahre. Die Betrachtung der Bildungsgeschichte Wolfsburgs als „Schullabor der Bundesrepublik“ ist daher in jedem Fall lohnend.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu etwa den Tagungsbericht von Marcel Glaser, „Soziallabor“ oder „Sonderfall“? Die Stadt Wolfsburg in der deutschen Nachkriegsgeschichte, in: H-Soz-Kult, 22.04.2014, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5313 (12.03.2021).
2 Vgl. Berndt Fahse, Die Entwicklung des Schulwesens in Wolfsburg nach 1945 unter besonderer Berücksichtigung empirischer Befunde zu abgeschlossenen Schulversuchen. Unveröffentlichte Abschlussarbeit an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abteilung Braunschweig 1977, S. 25f.
3 Vgl. hierzu etwa Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013.
4 Vgl. hierzu etwa Wolfgang Hofmann, Zwei Schulen – zwei Städte: Frankfurt am Main und Spandau, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte. IMS, 2. Halbjahresband (2015), S. 17–29.
5 Vgl. Fahse, Die Entwicklung des Schulwesens in Wolfsburg.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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