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Titel
Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft


Autor(en)
Mau, Steffen
Erschienen
Frankfurt am Main 2019: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 22.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Birthelmer, Abteilung Historisch-politische Bildung, Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (BAB)

Die öffentliche Debatte zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution im vergangenen Jahr hinterließ häufig mehr offene Fragen als befriedigende Antworten. Sie zeigte deutlich, dass unterschiedliche Narrative über das Ende der DDR und die Zeit danach existieren. Unzufriedenheit, Angst und Wut bewegten viele ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger, die sich in dem vorherrschenden öffentlichen Narrativ nicht wiedererkannten. Viel wurde über Ost-Mentalität und Ost-Identität diskutiert, nur in wenigen Fällen basierend auf wissenschaftlichen Analysen.

Steffen Maus soziologische Mikrostudie des Rostocker Bezirks Lütten Klein kommt daher zum richtigen Zeitpunkt. Er untersucht die soziokulturellen Entwicklungen in diesem Stadtteil und analysiert, welche mentalen und sozialen Veränderungen diese bei den Bewohnerinnern und Bewohnern hinterließen.

Steffen Mau nutzt den in der Medizin verwendeten Begriff der Fraktur als Ansatz, um das Zusammenwachsen zweier eigentlich zusammengehörender, aber gewaltsam getrennter Teile einer Gesellschaft zu erklären: „Gesellschaftliche Frakturen lassen sich […] als Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs verstehen, die zu Fehlstellungen führen können.“ (S. 13) Die deutsche Wiedervereinigung sei demnach kein lineares, natürliches Zusammenwachsen gewesen, sondern ein Bruch, der schief zusammengewachsen sei und zu mehr oder weniger sichtbaren Narben geführt habe.

Im ersten Teil seiner Studie beschreibt Steffen Mau die sozialstrukturellen Entwicklungen Lütten Kleins von den 1970er-Jahren bis 1989. Er zeichnet ein dichtes Bild vom Alltag und der Geschichte der sozialistischen Vorzeigewohnsiedlung Rostocks mit all ihren Facetten. Kollektive, staatliche Maßnahmen, das Leben im Plattenbau sowie eine relative sozioökonomische Gleichheit der Nachbarinnen und Nachbarn prägten den Alltag und die Mentalität seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Dies spiegelte sich auch in der Kindererziehung, der Jugendkultur, der Familie und in den Geschlechterverhältnissen wider. Entstanden sei eine ethnisch homogene, säkularisierte Gesellschaft der Werktätigen, die gleiche soziale Werte geteilt und sich über ihr privates Umfeld sowie ihre Arbeit definiert habe.

Im zweiten Teil seiner Studie nimmt Steffen Mau die Transformationsprozesse nach 1989 umfassend in den Blick. Er fokussiert sich dabei bewusst auf Widersprüche und untersucht die entstehenden Unterschiede. Die Ereignisse nach 1989 beschreibt Mau als „Implosion eines Systems als kollektive[n] Schock“ (S. 113). Als verbindendes Element dieses Schockmoments sieht er ein gemeinsames Schicksal der Arbeitslosigkeit. Die Stellung in der Gesellschaft und das individuelle Selbstbewusstsein hätten sich in der DDR über die Erwerbstätigkeit definiert. Viele Menschen verloren daher nach dem Mauerfall mit ihrem Job auch den Bezug zur eigenen Identität als Teil des Werktätigenkollektivs mitsamt der damit verbundenen Privilegien und sozialen Strukturen, so Mau. Vorruhestand und Arbeitslosigkeit bildeten Zwangseinschnitte in die bis dato vorgezeichneten Lebenspläne. Aus einem Kollektiv wurden Individuen, eine „soziale Separierung“ (S. 159), die das gesamte soziale Umfeld betraf.

Mau beschreibt diese Situation als „Zusammentreffen eines grundlegenden Strukturwandels mit gesellschaftsweiten prekären biografischen Passagen“ (S. 126). Viele Ostdeutsche hätten ihr gelebtes Leben in den offiziellen Geschichtsbildern und der oftmals vorgenommenen Gleichsetzung von politischem System und privatem Alltag nicht wiedererkannt. Die Wahrnehmung der DDR in der Bundesrepublik wurde in den Medien und der Erinnerungspolitik vor allem durch die Bilder von Mauer und Flucht sowie die Aufarbeitung von Repression und Verfolgung durch die Stasi definiert. Diese Wahrnehmung ließ Mau zufolge für positive lebensweltliche Erinnerungen keinen Platz.

Als Reaktion auf westliche Pauschalurteile, Überheblichkeit und Desinteresse hätten sich viele Bürgerinnen und Bürger aus dem Beitrittsgebiet ihre ostdeutsche Identität konstruiert, konstatiert Mau. Eine damit verbundene positive Selbstbeschreibung, die Wertschätzung der eigenen Geschichte und die öffentliche Forderung nach Anerkennung zeigten deutlich, dass das Gefühl der Ausgeschlossenheit und Fremdbestimmung bis hin zu Distanz und Misstrauen gegenüber Institutionen und Machteliten heute weiterhin bestehe.

In den Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich sieht Steffen Mau einen weiteren Aspekt der gesellschaftlichen Fraktur. Der Modernisierungsdruck der Transformationszeit habe den Osten Deutschlands in ein „Experimentierfeld“ (S. 160) verwandelt. Die ostdeutsche Wirtschaft habe mit Ausnahme des höheren Anteils erwerbstätiger Frauen als veraltet und nicht mehr konkurrenzfähig gegolten. Neben der Abwicklung der Betriebe durch die Treuhand sei dies durch einen Elitentransfer von West nach Ost deutlich geworden. Die neuen, meist männlichen Führungskräfte brachten, so Mau, oftmals wenig Verständnis für die besonderen kulturellen Erfahrungen der Menschen vor Ort auf. Das Prinzip der Leistungsgesellschaft traf auf eine gänzlich andere, sozialistisch geprägte Einstellung. Das habe auch im wirtschaftlichen Bereich ein Gefühl der Fremdbestimmung hinterlassen.

Steffen Mau bezeichnet den Transformationsprozess ebenfalls als „demografischen Schock“. Sinkende Geburtenzahlen und die Abwanderung junger Menschen, vor allem von Frauen, hinterließen eine „Schrumpfgesellschaft“ (S. 193) mit einer „demografische[n] Maskulinisierung“ (S. 197).

Die Folgen für das soziale Gefüge vor Ort, die Sorgen um die eigene Zukunft und der aufkommende Kulturwandel lösten „Diversitätsstress“ (S. 230) aus, so Mau. Soziale und gesellschaftliche Umfelder seien in der DDR so homogen gewesen, dass es auch und im Besonderen nach 1989 für die ostdeutsche Gesellschaft schwer gewesen sei, mit der Globalisierung oder steigenden Migrationszahlen umzugehen. Bisher unbekannte Probleme wie Arbeitslosigkeit, eine sich diversifizierende Gesellschaft oder das Gefühl der politischen Unmündigkeit hätten zusätzlich für eine dynamische Entwicklung fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Tendenzen gesorgt. Populistische Bewegungen nutzen diese Dynamiken aus, und generieren mit ihren Versprechen von materieller und emotionaler Kompensation die Aussicht auf neugewonnenen Respekt, konstatiert Mau.

Insgesamt sieht Steffen Mau den Ursprung der heutigen gesellschaftlichen Spannungen bereits vor der Wiedervereinigung. „Was die ostdeutsche Gesellschaft war und wie sie wurde, gehört untrennbar zusammen.“ (S. 245) Bereits in der DDR habe es die Anlage für bestimmte Frakturen gegeben, die durch die Transformationsprozesse noch vertieft wurden. Die von ihm untersuchten soziokulturellen Entwicklungen stellten heute potenzielle Reibungsflächen einer frakturierten Gesellschaft dar, die durch Anerkennung oder ökonomische Betrachtungsweisen allein nicht zu reparieren seien.

Der Mehrwert der vorliegenden Studie liegt vor allem im theoretischen Konstrukt der frakturierten Gesellschaft. Steffen Mau gelingt es mit seinem sozialwissenschaftlichen Ansatz, ein vielschichtiges und äußerst emotional aufgeladenes Thema differenziert zu analysieren. Er zeichnet detailliert den Verlauf eines soziokulturellen Prozesses nach, bei dem es nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern vielmehr um eine sachliche Analyse der Ereignisse und ihrer Auswirkungen. Positiv hervorzuheben ist ebenfalls, dass er auf eine allzu wissenschaftliche Ausdrucksweise verzichtet, und dadurch auch weniger oder nicht fachkundige Leserinnen und Leser anspricht.

Die Fragen nach mentalen und sozialen Entwicklungen in den ehemaligen ostdeutschen Bundesländern sind bereits vielfach ähnlich diskutiert worden; exemplarisch genannt seien an dieser Stelle der Verlust der Arbeitsstelle als verbindendes Schockmoment oder die Identitätskrise, ausgelöst durch die biographische Umbruchserfahrung und das Fehlen eines gesamtgesellschaftlich anerkannten historischen Narrativs. Der Mehrwert der vorliegenden Studie liegt eindeutig in der empirisch gesättigten Mikroperspektive auf die viel diskutierten Prozesse. Ob sich die Ergebnisse auch für andere Plattenbausiedlungen als typisch erweisen, bleibt dennoch kritisch zu hinterfragen.

Mit seiner eigenen Zeitzeugenschaft geht Steffen Mau reflektiert um, indem er sie einerseits bereits in der Einleitung klar benennt, und andererseits seine eigenen Erlebnisse in den historischen Kontext einbettet, wenn er beispielsweise seine Erfahrungen als junger NVA-Soldat im Jahr 1989 beschreibt. Die von Steffen Mau in der Einleitung erwähnten Interviews mit anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hätten in der Studie allerdings deutlicher herausgearbeitet und gekennzeichnet werden können. Sie fließen lediglich vage als Kolorit in einzelne Beschreibungen ein und sind nur in Einzelfällen als Erinnerungen oder Zitate erkennbar.

Es bleibt zu hoffen, dass die von Steffen Mau angebotenen Erklärungsansätze Einzug in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs finden, um die Behandlungsmethode der von ihm beschriebenen gesellschaftlichen Fraktur mit Empathie und neuen Erkenntnissen zu befördern.

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