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Titel
Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung. Zum Wandel des konservativen Nationenverständnisses nach der deutschen Vereinigung


Autor(en)
Finkbeiner, Florian
Reihe
Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen 15
Anzahl Seiten
517 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thorsten Holzhauser, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der Konservatismus genießt in Deutschland wieder viel Aufmerksamkeit. Das hat zum einen damit zu tun, dass seine Vertreter/innen vier Legislaturperioden christdemokratischer Regierung bilanzieren und nach den konservativen Signaturen dieser Ära fragen. Zum anderen hat das Land in dieser Zeit das Aufkommen einer radikalen Rechten erlebt, die für sich in Anspruch nimmt, konservativ zu sein, und damit auch die Unionsparteien unter Druck setzt, ihr Verhältnis zum Konservatismus zu klären. Das ist nicht ganz neu: Schon in den frühen 1990er-Jahren zeigte sich ein beachtlicher Teil des Landes ähnlich verunsichert wie heute, diskutierte über die Rolle des vereinten Deutschlands in der Welt, über die vermeintliche Bedrohung, die vom Grundrecht auf Asyl auszugehen schien, und über „anschwellende Bocksgesänge“1 alternder Intellektueller. Das rechte Rauschen zwischen „nationaler Hoffnung“ und „konservativer Enttäuschung“ nach der deutschen Vereinigung ist auch das Thema der sehr lesenswerten Dissertation von Florian Finkbeiner. Der Göttinger Politikwissenschaftler untersucht das Denken und Wirken einer ausgewählten Gruppe von Intellektuellen (Karlheinz Weißmann, Rainer Zitelmann, Heimo Schwilk und Günter Rohrmoser) und versucht an diesem Beispiel, übergreifende Wandlungserscheinungen in der konservativen Ideenwelt am Übergang der 1980er- zu den 1990er-Jahren aufzuzeigen.

Mit seiner ausführlichen, ideengeschichtlich geprägten Dissertation klinkt sich Finkbeiner in eine Konservatismusdebatte ein, die zuletzt wieder neue Impulse auch aus der Wissenschaft erhalten hat. Während es aber der wichtigen Arbeit von Martina Steber darum ging, in Anlehnung an Michael Freeden eine Reihe von „morphologischen Strukturprinzipien“ zu identifizieren, die konservatives Denken und Handeln über verschiedene historische Situationen hinweg geprägt haben2, hält Finkbeiner einen solchen Ansatz für zu „abstrakt“ (S. 18). Um die Ambivalenzen konservativen Denkens einzufangen, müssten begriffs- und ideengeschichtliche Perspektiven „mit sozial- und kulturgeschichtlichen Blickwinkeln verbunden werden“ (S. 15). Schließlich manifestiere sich der Konservatismus in konkreten Reaktionsformen auf je unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse. Finkbeiner blickt daher, ähnlich wie Thomas Biebricher3, auf die spezifische historische Situation der 1980er- und 1990er-Jahre, die er als entscheidend für die Entwicklung des deutschen Konservatismus bis heute ansieht. Aus der säkularen Umbruchphase um die Jahre 1989/90, so Finkbeiners These, sei der Konservatismus nicht etwa als Gewinner, sondern als Verlierer hervorgegangen. „In der Dynamik zwischen nationaler Hoffnung und der folgenden Enttäuschung“ (S. 16) sei er in eine ideen- und sozialgeschichtliche Krise geraten, die zu einem nachhaltigen Wandel geführt habe. Um der Krise zu entkommen, habe der Konservatismus damit begonnen, den Gedanken der Nation zu „hypostasieren“ (S. 19), ihn also als Leitgedanken für die gesellschaftliche Praxis zu überhöhen.

Um diese These zu entwickeln, geht Finkbeiner zunächst von der Annahme aus, die Nation habe in konservativen Debatten bis in die 1980er-Jahre hinein kaum eine Rolle gespielt und beide Kategorien seien erst danach eine „Mesalliance“ eingegangen (S. 20; S. 309). Das überrascht auch deswegen, weil der Autor selbst in einem längeren, historisch angelegten und durchaus instruktiven Kapitel aufzeigt, dass dem Denken über die Nation im Konservatismus des 20. Jahrhunderts ein zentraler Stellenwert zukam. Man muss dabei nicht einmal auf das enge Zusammenspiel von nationalem und antidemokratischem Denken vor 1945 zurückgehen. Gerade auch die Debatten um ein neues, scheinbar „normales“ Verhältnis zur deutschen Geschichte, die im bundesrepublikanischen Konservatismus fast durchweg geführt wurden, beziehen sich in engster Weise auf die Nation und ihre Traditionsbestände. Dabei ist das Sehnen eines Armin Mohler nach der „Selbstbehauptung“ von Volk und Nation ebenso Teil des deutschen Konservatismus wie die Versuche seiner Gegner/innen, sich stärker vom Nationalismus abzugrenzen. Den Unionsparteien wiederum war immer daran gelegen, das semantische Netz des Konservatismus mit Begriffen wie „Heimat“, „Nation“ und „Vaterland“ aufzuladen und eine klare Trennung beider Sphären gerade nicht zuzulassen.4 Kurz: Die konservativen Selbstverständigungsdebatten waren lange vor 1990 auf das spannungsgeladene Verhältnis zur Nation gerichtet, auch wenn sie nicht darin aufgingen. Vor diesem Hintergrund kann man auch die Wahrnehmung hinterfragen, zu Bonner Zeiten seien Konservatismus und Rechtsradikalismus klar unterscheidbar gewesen, um dann seit den 1990er-Jahren zunehmend ineinander zu verschwimmen (S. 16) – zeigt doch gerade ein Blick auf die 1980er-Jahre, wie eng sich konservative, fremdenfeindliche und geschichtsrevisionistische Positionen damals aneinander anschmiegen konnten, etwa im Umfeld der neu entstehenden Partei der „Republikaner“.5

Davon unbenommen macht Finkbeiners Studie sehr anschaulich, wie nationale Signaturen im bundesdeutschen Konservatismus seit den 1980er-Jahren noch einmal deutlich an Bedeutung gewannen und wie Nation, Volk und Geschichte in bestimmten intellektuellen Debatten zu zentralen Denkfiguren aufstiegen. Dabei gelingt dem Autor ein eindrückliches Porträt einer Gruppe von Intellektuellen, die in den 1990er-Jahren als konservative Avantgarde auftrat und dabei durchaus Aufmerksamkeit bis in die „bürgerliche Mitte“ hinein erzeugen konnte. Wie Finkbeiner zeigt, versuchten seine Protagonisten, die Nation zur Leitidee der beginnenden „Berliner Republik“ zu machen, und grenzten sich dabei zusehends von einer Politik der „Mitte“ ab, die als „vage“ und profillos erlebt wurde. Sie schlossen dabei einerseits an die in den 1980er-Jahren geführten Debatten um die „geistig-moralische Wende“, um nationale Identität und Geschichtsbewusstsein an, die in gewisser Weise die nationale Euphorie der Wiedervereinigungsmonate präfigurierten. Andererseits erscheint der „Epochenumbruch“ 1989/90 tatsächlich als wichtiger Einschnitt, weil er in einer Öffentlichkeit, die sichtlich unsicher mit ihrem neuen Status als Nationalstaat nach dem Ost-West-Konflikt rang, eine Konjunktur für nationalkonservative Thesen beförderte. Während die porträtierten Autoren dabei zunehmend radikal und fordernd in die Öffentlichkeit traten, gelang es den Unionsparteien trotz einer restriktiven Asylpolitik und einem law-and-order-Kurs immer weniger, die deutlich steigenden Ansprüche der Rechten an eine in ihrem Sinne konservative Politik zu erfüllen. Das konnten sie auch deswegen nicht, weil die kritischen Intellektuellen keineswegs das zu erhalten gedachten, was sich in vier Jahrzehnten Bundesrepublik herausgebildet hatte, sondern im Gegenteil die zentralen Fundamente der Bonner Republik – von der Westbindung bis hin zur Vergangenheitspolitik – infragestellten, und das alles unter dem Paradigma einer (nur vermeintlich) „selbstbewussten Nation“.

Als Intellectual History eines rechten Konservatismus nach 1990 funktioniert die Arbeit und liefert einige sehr erhellende Einsichten für die historische Erforschung der 1990er-Jahre. Die Bezüge zur Gegenwart sind dabei ebenso evident wie bedenklich. Gemessen an Finkbeiners hohem Anspruch, einen ebenso grundlegenden wie umfassenden Wandel im Verhältnis von Nation und Konservatismus aufzuzeigen, hinterlässt sein Buch aber einen zwiespältigen Eindruck. Die porträtierte Gruppe von Intellektuellen bildet zweifelsohne einen wichtigen Ausschnitt konservativen Denkens ab, dessen Wirken nicht unterschätzt werden darf. Offen bleibt aber, wie repräsentativ sie und ihre Weltbilder für „den“ Konservatismus in Deutschland tatsächlich waren und wie stark und nachhaltig sie das Denken und Handeln eines konservativen Mainstreams beeinflussen konnten – zumal die rechtskonservative Welle bald wieder abebbte und seine Vertreter zunehmend marginalisiert wurden. Aber ließe sich auch in weniger scharf konturierten Organen wie der christdemokratischen „Politischen Meinung“ eine entsprechende „Hypostasierung“ der Nation aufzeigen, wie Finkbeiner sie für die Zeitschrift „Criticón“ nachweist? Oder war hier nicht mindestens ebenso sehr eine Überformung konservativer Weltbilder durch marktliberale Ideen prägend? Zwar konstatiert auch Finkbeiner einen konservativen „Marktfetisch“ (S. 321). Dieser bleibt in seinem Buch aber nur schwach beleuchtet und seine Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Konservatismus tritt deutlich hinter den Nationenfetisch zurück. Dabei bildeten sich vor und nach 1990 auch andere, eher liberal und neoliberal inspirierte Spielarten des Konservatismus aus. Deren komplexes Verhältnis zur Nation erscheint nicht weniger interessant und wäre eine eigene Untersuchung wert.

Anmerkungen:
1 Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel, 08.02.1993, S. 202–207, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13681004.html (25.09.2020).
2 Vgl. Martina Steber, Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1980, Berlin 2017, S. 10f.
3 Thomas Biebricher, Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2018.
4 Steber, Hüter der Begriffe, S. 326f.
5 Vgl. das Dissertationsprojekt von Moritz Fischer am Institut für Zeitgeschichte in München, https://www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/die-republikaner-1983-1994-eine-partei-zwischen-konservatismus-neuer-rechter-und-rechtsextremis/ (25.09.2020).

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