In der diesjährigen Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus rief Charlotte Knobloch, Überlebende der Shoah und Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, zur wehrhaften Verteidigung der liberalen Demokratie in Deutschland auf. Vor dem Hohen Haus warnte Knobloch davor, dass antisemitisches Gedankengut wieder salonfähig sei. Besonders im Internet, das Knobloch als „Durchlauferhitzer für Hass und Hetze aller Art“ kritisierte1, verbreite sich judenfeindliches Denken. Damit einher geht ein veränderter Sprachgebrauch, der vor allem in Instant-Messaging-Diensten floriert. Ob „Baron Totschild“, „Ökostalinisten“, „Gender-Gaga“ oder „Asylindustrie“ – gegenwärtig sind viele Wortschöpfungen im Umlauf, die ein demokratiefeindliches Handlungspotenzial nähren. „Worte“, so Knobloch, „sind die Vorstufen von Taten.“2
Die Studie des israelischen Historikers Marc Volovici über das Verhältnis von Akteur/innen des jüdischen Nationalismus zur deutschen Sprache ist vor diesem Hintergrund hochaktuell. Volovici beleuchtet darin, wie das Deutsche schon vor 1933 von jüdischen Zeitgenossen als ein machtvolles Medium interpretiert wurde, mit dem sie Ängste und Sorgen, aber auch Hoffnungen verbanden und artikulierten. Für viele von ihnen stellte die deutsche Sprache mit ihrem hypotaktischen Satzbau und oft ausschweifenden Wortlängen eine potenzielle Quelle der Manipulation dar, die zu Undeutlichkeiten führen kann. Das analytische Interesse Volovicis ist den Debatten jüdischer Intellektueller in Deutschland, seinen östlichen Nachbarländern und dem Yishuv, dem vorstaatlichen jüdischen Gemeinwesen in Palästina, gewidmet. Vor der Folie eigener nationaler Ambitionen setzte sich diese Gruppe in besonderer Weise mit der deutschen Sprache auseinander. Die Ambivalenz und wechselvolle Geschichte ihrer Auseinandersetzung zeichnet Volovici für die Jahre 1870 bis 1961 nach. Seine Analyse konzentriert sich hierbei auf männliche zionistische Akteure. Während nationaljüdische Akteurinnen nicht hervortreten, vermag Volovici – indem er schon im Titel seiner Studie von der Sprachenpolitik des jüdischen Nationalismus statt des Zionismus spricht – auch das Verhältnis nichtzionistischer Gruppen zur deutschen Sprache in den Blick zu nehmen; wie zum Beispiel das der „Autonomisten“, die auf die Anerkennung als eine nationale jüdische Minderheit in der Diaspora pochten. Mit keiner anderen nichtjüdischen Sprache, so Volovici, hätten sie sich und die Zionist/innen in einem derart zwiespältigen Selbstverortungsprozess befunden wie dem Deutschen. Einerseits stellte die Sprache für beide Gruppen ein Versprechen dar, das sich mit Emanzipation und Fortschritt verbinden ließ. Andererseits führte der aufkommende Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts auch dazu, dass viele von ihnen die deutsche Sprache als ein Mittel der Ausgrenzung und Verfolgung wahrnahmen. Zudem gefährdete das Deutsche aus nationaljüdischer Perspektive die eigene Jüdischkeit durch „Assimilation“, während es unter Bezug auf Hegel oder Fichte zugleich als ein Modell für die Verwirklichung eigener nationaler Visionen fungierte. Die einst führende Stellung der deutschen Sprache in der zionistischen Bewegung, so argumentiert Volovici überzeugend, müsse auch in diesem Kontext der Zwiespältigkeit verortet werden.
Die Studie ist in sieben Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel umfasst die Zeit der Aufklärung und setzt somit schon vor 1870 ein. Volovici widmet sich darin den bekannten Vertretern der jüdischen Aufklärung (Haskala), die darauf drängten, sich an die Umgebungsgesellschaft sprachlich anzupassen und das Judentum mit moderner Wissenschaft in Einklang zu bringen. An seine Ausführungen zum deutschen Reformjudentum und zur Wissenschaft des Judentums anschließend, geht Volovici auf die zentrale Rolle der deutschen Romantik ein. Durch sie avancierte das Deutsche zu einer Sprache, mit der sich nationales Ideengut wortreich transportieren ließ, wovon besonders die frühen Zionist/innen Gebrauch machten.
An die Bedeutung des Deutschen als ein Vehikel des Nationalismus knüpft das zweite Kapitel an. Am Beispiel von Leon Pinsker, ein im heutigen Polen geborener Vordenker des modernen Zionismus, illustriert Volovici, wie jüdische Aktivisten über den deutschsprachigen Raum hinaus auf die deutsche Sprache zurückgriffen. Pinskers bekannteste Schrift „Autoemanzipation“, die 1881 auf Deutsch erschien, belegt dies exemplarisch. Pinsker, so Volovici, schrieb nicht nur aus pragmatischen Gründen auf Deutsch, etwa wegen der Zensur im Russischen Reich, sondern auch, weil sich seine nationaljüdischen Ambitionen mit der Sprache damals eindrücklicher vermitteln ließen.
Wie ambivalent das Verhältnis der frühen osteuropäischen Hebraisten in Bezug auf die deutsche Sprache war, stellt Volovici im dritten Kapitel heraus. Ihre Vertreter, wie zum Beispiel Peretz Smolenskin, der sich dem Neuhebräischen (Ivrit) als jüdischer Nationalsprache verschrieb, räumten bei aller Kritik auch Stärken des Deutschen ein. Unter Verweis auf die meist idealisierte Bibelübersetzung Martin Luthers, die die vielen Varietäten des Deutschen in eine einheitliche Schreibsprache überführte, attestierte Smolenskin dem Neuhochdeutschen eine einigende Modellfunktion, die sich für die „jüdische Heimstätte“ nutzen ließ. Volovici verdeutlicht damit, wie sehr gerade der frühe Zionismus, dem eine territoriale Basis fehlte, auf eine eigene Nationalsprache angewiesen blieb.
Das vierte Kapitel knüpft hieran an und behandelt die Rolle des Deutschen beim jüdischen Aufbau Palästinas. Volovici geht dazu dem sogenannten Sprachenstreit nach, der 1913/1914 leidenschaftlich im Yishuv ausgetragen wurde. Obwohl Deutsch damals als eine moderne internationale Wissenschaftssprache galt, hielten die Zionist/innen an der Vorrangstellung von Ivrit im Yishuv fest. In Palästina, so Volovici, traten damit pragmatische Aspekte hinter ideologische Überzeugungen zurück.
Wie aufgeladen sich die Beziehung zwischen Deutsch und Ivrit auch weiterhin gestaltete, verdeutlicht das fünfte Kapitel. Am Beispiel von Martin Buber gelingt es Volovici eindrucksvoll, die Zerrissenheit eines einzelnen Akteurs zu beleuchten. Zwar war Buber dank seiner traditionellen Erziehung mit Hebräisch vertraut – anders als die meisten deutschsprachigen Zionist/innen – und hatte sich aktiv für eine Wiederbelebung der „altneuen“ Sprache viele Jahre vor seiner Flucht 1938 engagiert. Trotzdem tat sich auch der Religionsphilosoph mit Ivrit schwer und pflegte seine Verbundenheit zum Deutschen in Palästina weiter.
Das sechste Kapitel beleuchtet das komplexe Verhältnis zwischen den Sprachen Deutsch und Jiddisch im nationaljüdischen Kontext. Wie Volovici stichhaltig darlegt, durchzogen auch diese Beziehung im zeitlichen Verlauf mitunter starke Spannungen. Jiddischisten hoben besonders nach dem Ersten Weltkrieg die Eigenständigkeit des Jiddischen hervor, das aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangen war. Sie sahen in ihm eine selbständige jüdische Sprache, die im Gegensatz zu Ivrit von mehreren Millionen Jüdinnen und Juden gesprochen wurde.
Die Auseinandersetzung zwischen Jiddischisten und Hebraisten in Abgrenzung zur deutschen Sprache führt schließlich das letzte Kapitel aus. Volovici beleuchtet darin, wie neben Deutsch auch Jiddisch ab 1933 einen immer schwereren Stand im Yishuv hatte. Während Deutsch im Zuge des Zweiten Weltkriegs zu einer Sprache von Schuld und Täterschaft herabsank und in der israelischen Öffentlichkeit geächtet wurde, verlor Jiddisch seine Bedeutung nach 1945. Die meisten Opfer der Shoah waren jiddische Muttersprachler/innen, was zum fast völligen Zusammenbruch ihrer Sprachkultur führte und damit die Konkurrenzsituation zu Ivrit beendete. Die Auseinandersetzung mit dem Deutschen blieb hingegen problematisch, wobei vor allem der Eichmannprozess 1961 alte Wunden aufriss, wie Volovici darlegt.
Mit seiner Studie, in der Sprache als eine analytische Sonde fungiert, eröffnet Volovici neue Perspektiven auf die Geschichte nationaljüdischer Akteure in ihrer Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft. Wie ambivalent und vielschichtig sich diese Beziehung im Laufe zweier Jahrhunderte gestaltete, illustriert Volovici anhand der deutschen Sprache eindrücklich. Weitere Forschungsfragen ließen sich an diesen spannenden Zugang anschließen: etwa nach der Rolle von Jüdinnen in Osteuropa, die meist über einen größeren Zugang zur deutschen Literatur verfügten. Ebenso ließe sich der Blick auf die osteuropäischen Palästina-Einwander/innen weiten. Viele Zugewanderte aus Polen der 4. Aliya fühlten sich etwa weder dem Jiddischen noch Hebräischen verbunden, sondern sprachen Polnisch in Palästina. Insgesamt besticht die Arbeit von Volovici durch eine feinziselierte Interpretation. Seine sorgfältige Analyse und Übersetzung hebräischer, jiddischer und deutscher Texte lassen auf hervorragende Sprachkenntnisse des Autors schließen. Umso mehr erstaunt es, dass Volovici den Begriff des „Dritten Reichs“ selbst unkritisch übernimmt (S. 200ff.). Nichtsdestotrotz gelingt es ihm, mit seinem innovativen Ansatz auch für die Gegenwart zu sensibilisieren, in der Sprache wieder vermehrt zu einer „Trägerin von Giftstoffen“ wird, die man „unbemerkt verschluckt“, ehe sich nach „einiger Zeit […] die Giftwirkung“3 einstellt.
Anmerkungen:
1 Ansprache von Dr. h.c. Charlotte Knobloch am 27. Januar 2021 im Deutschen Bundestag, https://www.bundestag.de/resource/blob/818852/004f590b4829fb0f4cbf4cb95698bcf8/kw04_opfer_nationalsozialismus_nachbericht_knobloch-data.pdf (03.02.2021).
2 Ebd.
3 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen [1947], Leipzig 1996, S. 25.