Cover
Titel
The Haitian Revolution. Capitalism, Slavery and Counter-Modernity


Autor(en)
Grüner, Eduardo
Reihe
Critical South
Erschienen
Cambridge 2020: Polity Press
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 21,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Dorestal, Hamburg

Eduardo Grüner, emeritierter Professor für Soziologie in Buenos Aires, legte 2010 seine umfangreiche Studie La oscuridad y las luces über die Haitianische Revolution vor, für die er den argentinischen Literaturpreis erhielt.1 In diesem Jahr ist eine deutlich gekürzte Version nun auch in einer englischen Übersetzung erschienen. Grüner arbeitet in seinem Buch heraus, wie radikal die Haitianische Revolution war, indem er in einem knappen Abriss den historischen Verlauf der Ereignisse rekonstruiert, jedoch vor allem ideengeschichtlich die Zäsur, die die Haitianische Revolution markierte, anhand von vielen Beispielen deutlich macht. Der Autor konzentriert sich vor allem auf eine genaue Lektüre zeitgenössischer philosophischer Texte im Kontext der französischen Encyclopédie und kontrastiert diese mit der haitianischen Verfassung von 1805, die im Zuge der haitianischen Unabhängigkeit verabschiedet wurde.

In Anlehnung an Yves Benot spricht Grüner bei seiner Analyse einiger zentraler Werke der französischen Aufklärung von einer „kolonialen Amnesie“ bei Denkern wie Rousseau oder Voltaire. Diese verwendeten Sklaverei lediglich als Metapher für eine zu skandalisierende politische Unterdrückung. Rousseau prangerte beispielsweise die „Versklavung“ der aufstrebenden Bourgeoisie, die Unterdrückung des Citoyen an. Die schwarzen Sklav/innen werden in Rousseaus Hauptwerk Der Gesellschaftsvertrag, einem Grundlagentext der politischen Philosophie, aber verschwiegen. Auch ein weiterer einflussreicher Theoretiker, Montesquieu, kritisierte Sklaverei nur zaghaft en passant und erwähnt den Sklavenhandel mit keinem Wort. Es wird also die politische Subordination des Bürgertums unter dem Ancien régime moniert, nicht aber die Versklavung der Menschen des afrikanischen Kontinents. In der Französischen Revolution wurde sich vielfach auf die Theorietradition der Aufklärung berufen, und diese inspirierte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Der dort proklamierte Universalismus ging jedoch einher mit der Tolerierung des Sklavenhandels und der Ausbeutung schwarzer Menschen. Selbst der radikale Flügel innerhalb der französischen Revolution, die Jakobiner, weigerten sich bis zuletzt, „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ Schwarzen zuzugestehen. In Saint Domingue erhoben sich die Sklav/innen im August 1791 und begannen die einzige erfolgreiche Revolution von Sklav/innen, an deren Ende im Jahr 1804 die Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich stand und das Land in Haiti umbenannt wurde. Die Sklaverei wurde 1793 in Saint Domingue abgeschafft, in den anderen französischen Kolonien durch Napoleon aber später wieder eingeführt. Den von Frankreich unternommenen Versuch, das Rad der Zeit zurückzudrehen und die Sklaverei auch in Saint Domingue mithilfe einer militärischen Expedition erneut zu etablieren, konnten die Sklav/innen unter Führung des schwarzen Generals Toussaint Louverture abwenden.

Die Haitianische Revolution, so eine von Grüners zentralen Thesen, die sich auf Vorarbeiten von Sybille Fischer in ihrem Buch Modernity disavowed2 stützen kann, lieferte deshalb die erste und radikalste Antwort auf die uneingelösten und partikularistisch verstandenen philosophischen Universalismen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Haitianische Revolution ist, so Grüners dialektische Formulierung, damit französischer als die Französische, aber nur, weil sie zur gleichen Zeit haitianisch ist, da sie die in der Französischen Revolution proklamierten universellen Werte einzig konsequent umsetzt. In seiner Interpretation der haitianischen Verfassung lehnt sich Grüner stark an Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung an, insbesondere am Kapitel „Begriff der Aufklärung“. Der emanzipatorische Anspruch von Aufklärung wird von Grüner weiterhin aufrechterhalten, da sie befreiendes Potential berge. Kritik äußert er aber an der als „falsch“ apostrophierten Moderne, ohne in einen Irrationalismus oder die Aufgabe von den universalistischen Werten zu verfallen. Vielmehr bringt er eine selbstkritische Moderne in Anschlag. Artikel 14 der Haitianischen Verfassung von 1805 postuliert, dass alle Haitianer/innen fortan als schwarz gelten. Dadurch werde das „klassifikatorische Delirium“ umgestürzt: Darunter versteht Grüner die rassistische koloniale Taxonomie, in der 128 verschiedene Arten von „Nichtweißsein“ kategorisiert wurden. Hautfarbe geriet in dieser biologistischen Logik zum Marker der Modernität, denn je nach „Mischungsgrad“ wurde der Grad der Zivilisation zugewiesen. Schwarzsein wurde demgegenüber in der Haitianischen Verfassung dadurch, dass nun von allen Hautschattierungen abstrahiert wurde, zu einer politischen, denaturalisierten Kategorie. Die Verfassung von 1805 besagte weiterhin, dass keine weiße Person in Haiti Besitz erlangen darf. In gewisser Weise macht der Verfassungstext dann ein Paradox auf, da diese Einschränkung nicht für weiße Frauen gilt, genauso wenig wie für Deutsche und Polen, denn diese kämpften teilweise auf Seiten der Haitianischen Revolution. Letztere werden dadurch naturalisiert und sind der Logik von Artikel 14 gemäß schwarz. Dies stellt einen Bruch mit biologistischen Argumentationen dar, wodurch die Verfassung von 1805 damit die haitianische Verfassung von 1801 radikalisiert. Auch wurde in der späteren Version gänzlich die Bezugnahme auf die Kolonialmacht Frankreich gekappt: War die Verfassung von 1801 vom haitianischen Revolutionär Toussaint Louverture in der Beziehung zur Kolonialmacht mit dem Passus „Alle Menschen werden geboren, leben und sterben frei und französisch“ noch in einem politischen Abhängigkeitsverhältnis belassen worden, so wurde dies später getilgt und Haiti als unabhängige Nation definiert.

Neben der dekolonialen Textexegese widmet sich Grüner auch politökonomischen Aspekten der Haitianischen Revolution und versucht zu ergründen, welche Rolle Sklaverei und Sklav/innenenhandel bei der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise spielten. Dies ist eine Frage, die bereits durch C.L.R. James in seinem Klassiker Die Schwarzen Jakobiner über die Haitianische Revolution (Erstauflage 1938) angestoßen wurde und in neuerer Zeit für den US-amerikanischen Kontext in einigen Studien wieder intensiv diskutiert wird, beispielsweise in den Büchern von Edward Baptiste und Sven Beckert.3

Die Kolonie Saint Domingue wurde im zeitgenössischen Diskurs nicht umsonst als „Perle der Antillen“ bezeichnet. Grüner bezieht sich auf die von Immanuel Wallerstein begründete Weltsystemtheorie und zeigt, wie konstitutiv Sklavenhandel und Sklaverei bei der Generierung von Reichtum in westlichen Metropolen waren. Dies lässt sich beispielsweise daran ablesen, wie im 17. Jahrhundert Schifffahrt und Schiffbau, die Textilproduktion und der Dienstleistungssektor expandierten und Hafenstädte insbesondere in England und Frankreich prosperierten. Die Nachfrage nach Zucker, Baumwolle, Tabak oder Kaffee in den Metropolen London, Amsterdam und Paris führten zum Ausbau der Plantagen in der Karibik und Brasilien, die wiederum im Gegenzug mit europäischen Waren und afrikanischen Sklav/innen versorgt wurden. Die Geburt des Rassismus lässt sich historisch hier veranschlagen. Der Kolonialismus erfand die „Rassen“, um die Sklaverei als zivilisatorische Mission deklarieren zu können. Zwar gab es bereits in der Antike Sklaverei, und diese ging einher mit Abwertungen der versklavten Menschen. Allerdings zeigt Grüner durch die Analyse zentraler zeitgenössischer Texte, dass ein biologistischer Rassismus erst im Zuge der Kolonialisierung erfunden wurde, beispielsweise der Diskurs der Limpieza de sangre, also der „Reinheit des Blutes“.

Der Sklavenhandel war insofern „modern“, als er Teil einer nunmehr globalen Kapitalakkumulation war. Die Moderne war deswegen immer ambivalent und enthielt zwei zentrale charakteristische Momente: die Durchsetzung einer beschleunigten Produktionsweise einerseits, die Reichtum für einige wenige Menschen generiert, aber andererseits auch physische Vernichtung, Rassismus und Ausbeutung bedeutet. Grüner deutet die Haitianische Revolution in Absetzung zu der klassischen Moderne als „Gegenmoderne“, die diese Ambivalenz – Rationalität hochzuhalten und gleichzeitig damit Unterdrückung in Form von biologistischem Rassismus und Kolonialismus zu legitimieren – zu umgehen versucht.

Grüners Buch ist ein höchst anregender und innovativer Beitrag zu einer dekolonialen Ideengeschichte, der klassische Texte der politischen Philosophie in scharfsinniger Weise interpretiert und auf ihre durch koloniale Denkmuster begründeten Leerstellen hin durchforstet. Grüner fördert aber keine neuen historischen Quellen zutage und zieht wenig von der insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten stark angewachsene Forschungsliteratur zur Haitianischen Revolution heran.

Bedauerlich ist zudem, dass die englische Ausgabe nur eine deutlich gekürzte Version des spanischen Originals ist. Die in der englischen Ausgabe fehlenden Kapitel beschäftigen sich mit Lateinamerika im Speziellen und der atlantischen Ökonomie zur Zeit des Sklavenhandels und hätten es verdient, durch eine Übersetzung breiter wahrgenommen zu werden.

Anmerkungen:
1 Eduardo Grüner, La oscuridad y las luces. Capitalismo, cultura y revolución, Barcelona 2010.
2 Sybille Fischer, Modernity disavowed. Haiti and the Cultures of Slavery in the Age of Revolution, Durham 2004.
3 Philipp Dorestal/ Çiğdem Inan/ Cornelia Herfurtner (Hrsg.), C.L.R. James, Die schwarzen Jakobiner. Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution, Berlin (in Vorbereitung); Edward Baptiste, The Half Has Never Been Told: Slavery and the Making of American Capitalism, New York 2014; Sven Beckert, King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2015.

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