: Rabbi Leo Baeck. Living a Religious Imperative in Troubled Times. Philadelphia 2020 : University of Pennsylvania Press, ISBN 978-0-8122-5256-9 288 S. $ 59.95

: Leo Baeck. Rabbiner in bedrängter Zeit. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Rita Seuß. München 2021 : C.H. Beck Verlag, ISBN 9783406773785 364 S., 14 Abb. € 32,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Micha Brumlik, Fachbereich Erziehungswissenschaften, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main / Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

In ziemlich genau zwei Jahren wird der Geburtstag von Rabbiner Leo Baeck – er wurde im Mai 1873 in Leszno, Polen geboren – 150 Jahre zurückliegen. Mehr als rechtzeitig liegt nun eine auf Englisch publizierte, jetzt endlich auch auf Deutsch erschienene neue Biographie dieses – Person-gewordenen – Inbegriffs des deutschen Judentums vor. Der Autor dieser Biographie, Michael A. Meyer – er wurde in Berlin geboren – war selbst von 1991 bis 2013 Präsident des Leo Baeck Instituts und vor allem langjähriger Professor am Hebrew Union College sowie an der Hebräischen Universität Jerusalem. 1988 publizierte er Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum und gab gemeinsam mit Michael Brenner die mehrbändige Deutsch-Jüdische Geschichte der Neuzeit heraus.

Man übertreibt nicht, wenn man die vorliegende neue Biographie als Krönung eines Lebenswerks bezeichnet. Dabei ist die aus Meyers Feder stammende Biographie keineswegs die erste und einzige Biographie dieses letzten, bedeutenden Repräsentanten des deutschen Judentums: So legte schon 1968 auf Englisch, 1973 auf Deutsch Albert H. Friedländer die Studie Leo Baeck. Leben und Lehre vor. 1978/82 veröffentlichte Leonard Baker das Buch Hirt der Verfolgten. Leo Baeck im Dritten Reich und 2012 folgte die lange in der DDR aktive Berliner Dramaturgin und Regisseurin Waltraud Lewin mit der „Romanbiografie“ Leo Baeck. Geschichte eines deutschen Juden.

Von all diesen durchaus informativen Arbeiten unterscheidet sich Meyers biographische Studie nicht nur durch eine intensivere Recherche und Dokumentation, sondern auch und vor allem dadurch, dass und wie er Leo Baecks geistiges Profil aus der Kultur, Literatur und Philosophie seiner Zeit, keineswegs nur Deutschlands rekonstruiert. Mehr noch: Meyer geht es darum, Baeck nicht nur als letzten Repräsentanten des klassischen deutschen Judentums sowie treuen Hirten der verfolgten Judenheit im Nationalsozialismus zu würdigen, sondern ihn auch als vierten bedeutenden jüdischen Philosophen neben Hermann Cohen, Franz Rosenzweig und Martin Buber zu platzieren. Denn in neuester Literatur liegen deutliche Hinweise dafür vor, dass auch und gerade Leo Baeck in jenen Jahren der Jahrhundertwende den Gedanken des Mitmenschen als Kern jüdischen Denkens fasste. Das aber tat Baeck, wie Meyer präzise darlegt, radikal anders als Buber. Denn Bubers Gott spricht – so Meyer – allenfalls ein Du, während der dialogische Gott Baecks dem ein weiteres Wort hinzufügt: Du sollst. Ein Gedanke, der sich so auch und vor allem in Hermann Cohens Philosophie und Hauptwerk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums findet.

Bei alledem war Baeck gleichwohl zutiefst in der deutschen Geisteswelt der Romantik und des Historismus verankert. Anders als all die oben erwähnten Biographien kann Meyer zeigen, in welchem Ausmaß Baeck – er war Schüler und Student des Begründers der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, Wilhelm Diltheys – mit der Geistes- und Bildungswelt seiner Zeit sowohl vertraut als auch von ihr geprägt war. Entsprechend kann Meyer zeigen, dass Baeck an entscheidender Stelle den romantischen Dichter und Romancier Jean Paul (1763–1825) anführt – hielt er doch dessen Rat, eine Kultur des Herzens zu entwickeln, für entschieden jüdisch. Unbekannt war bisher auch, dass Baeck sich in besonderer Weise von der Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz (1867–1945) angezogen fühlte, einer Malerin, die sich in besonderer Weise den Hungrigen und Verarmten zuwandte.

Wirklich überraschend aber ist es, bei Meyer zu lesen, dass Baeck beste Beziehungen, wenn nicht gar Freundschaften zu wichtigen Persönlichkeiten des deutschen Adels unterhielt, wie etwa zum Philosophen Hermann Graf Keyerling (1880–1946), aber auch zu Paul Graf Thun-Hohenstein sowie Baron Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau, die nach Meyers Überzeugung danach strebten, die alte imperiale Geisteshaltung der deutschen Intelligenz auch nach dem Ersten Weltkrieg zu bewahren. Was Baeck an diesen Persönlichkeiten faszinierte, war der Umstand, dass sie alle kosmopolitische Europäer, aber eben keine deutschen Nationalisten waren. In der von Keyerling in Darmstadt gegründeten „Schule der Weisheit“ traten unter anderem der christliche Theologe Martin Dibelius, der Historiker Ernst Troeltsch, der Tiefenpsychologe und Psychiater Carl Gustav Jung sowie der Philosoph Max Scheler auf. Baecks und Keyerlings Denkweisen zeigten ebenfalls starke Gemeinsamkeiten auf, ging es doch beiden darum, die bloße Kenntnis von Menschen und Kulturen um ein emphatisches Verstehen zu erweitern. Mehr noch: Keyerling war sogar der Überzeugung, dass die Juden das Potential hatten, eine wirklich internationale Nation zu werden und damit eine wohltuende politische Rolle zu spielen – vorausgesetzt, dass sie ihr Judentum nicht aufgeben. Baeck hielt mindestens dreimal in Keyerlings „Schule der Weisheit“ Vorträge: 1922 zum Thema Die Spannung innerhalb einer Person und die vollständige Person, 1924 referierte er über Tod und Wiedergeburt sowie 1930 über Geist und Blut.

Noch erstaunlicher und wirklich neu ist es, zu lesen, dass Baeck auch mit dem Werk des US-amerikanischen Philosophen, Autors und pragmatistischen Dichters Ralph Waldo Emerson (1803–1882) bestens vertraut war – war es doch Emersons protosozialistische Haltung, die Baeck, von dem eher zu erwarten war, dass er politisch ein Liberaler war, anzog. In Emersons Ausspruch Let your faith be seen in your deeds erkannte Baeck Jüdisches. Entsprechend hielt er es für keinen Zufall, dass viele bedeutende Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Parteien Juden waren. Politisch, das arbeitet Meyer klar heraus, lehnte Baeck den nationalen, aber auch den sozialistisch-kommunistischen Machtstaat entschieden ab, um in letzter Instanz für eine (jüdische) Form des religiösen Sozialismus einzutreten. Das lag nicht zuletzt daran, dass Baeck eben nicht nur ein Schüler Diltheys, sondern eben auch Hermann Cohens war. Gleichzeitig hielt dies ihn nicht davon ab, sich auch mit der jüdischen Mystik auseinanderzusetzen, unter anderem von Rudolf Ottos (1869–1937) bahnbrechendem Werk über das Heilige belehrt. Zudem ermutigte er Rabbinatsstudenten, den Zohar zu lesen und sich so mit dem Irrationalen auseinanderzusetzen. In den späten 1920er-Jahren kam es gar zu einer Freundschaft mit dem erwähnten Religionsphänomenologen Rudolf Otto, den Baeck und seine Gattin in ihrem Marburger Heim beherbergten.

Baecks Liebe zur und tiefe Kenntnis der Romantik versetzte ihn zudem in die Lage, sich offensiv und in Teilen erfolgreich mit gehobenem christlich-theologischen Antijudaismus kritisch auseinanderzusetzen. 1895 – Baeck war gerade einmal 22 Jahre alt – nahm er eine Rabbinatsstelle in Oppeln (damals Oberschlesien) an: einer heute kaum noch bekannten polnischen Stadt, die freilich eine nicht unbeachtliche deutsche Minderheit aufwies. Im vierten Jahr seiner dortigen Amtszeit, also kurz vor der Jahrhundertwende, legte er eines seiner Hauptwerke vor: Das Wesen des Judentums. Ein Werk, das schon alleine deswegen Aufsehen erregen musste, weil es eine Antwort auf und Kritik an einem der bekanntesten liberalen Theologen des Protestantismus war, nämlich Adolf von Harnack (1851–1930), und seinem Buch Wesen des Christentums – Vorlesungen, die im Jahr 1900 publiziert wurden. In dem Werk veröffentlichte Baeck – neben anderem – auch eine Kritik des christlichen Glaubens als einer vor allem Innerlichkeit und individuelle Seelenrettung zielenden „romantischen Religion“; tatsächlich ging Baeck soweit, Harnacks Ansatz einschließlich seiner Darstellung des Judentums als „unwissenschaftlich“ zu bezeichnen.

Bei alledem steht Michael Meyer gleichwohl Baeck nicht unkritisch gegenüber, begehe doch Baeck – so jedenfalls Meyer – in seinem Wesen des Judentums dieselben Fehler, die er Harnack vorwarf: nämlich äußere Einflüsse auf das Judentum zu vernachlässigen, zumal in den Schriften der Propheten.

Für seine Zeit ganz und gar ungewöhnlich, setzte sich Baeck – er war der Lehrer Abraham Jehoschua Heschels – in einer Vorlesung der jüdischen Volkshochschule in Berlin mit dem Schicksal der schwarzen US-Amerikaner auseinander und sprach – das ist von höchster Aktualität – tatsächlich 1934 (!) davon, dass das schlimmste Verbrechen, das die weiße Rasse begangen habe, sich gegen die Schwarzen gerichtet habe, nämlich: sie aus ihrer Heimat gezerrt und sie plötzlich von ihren Traditionen getrennt zu haben. Diese, zu Beginn der NS-Zeit geäußerten Überlegungen standen in einem engen Verhältnis zu Baecks Haltung zum Zionismus, eine von inneren Widersprüchen nicht ganz freien Haltung: war doch Baeck selbst kein Zionist, stand aber dem Zionismus stets freundlich gegenüber.

Durchaus selbstkritisch – kaum anders als in seiner Kritik am christlichen Glauben – sah er auch das in Deutschland vom jüdischen Bürgertum als Konfession geschätzte liberale Judentum. Immer wieder betonte er, dass diese Form des Glaubens zutiefst bürgerlich sei, es aber genau genommen so etwas wie eine bürgerliche Religion gar nicht geben könne: sei doch eine bürgerliche Religion nichts anders als eine Degeneration des Glaubens. Demgegenüber sei der Zionismus nichts anderes als ein Ausdruck des Begehrens, diese bürgerliche Lebensweise hinter sich zu lassen. Konsequenterweise begrüßte Baeck die 1917 von Großbritannien erlassene Balfour Declaration und ging soweit, 1929, als jüdische Siedler in Palästina bei den dortigen Unruhen im Zuge des Konflikts mit der arabischen Bevölkerung umgebracht wurden, diese zu Märtyrern zu erklären, die ihr Leben „zur Heiligung des Namens“ [...Gottes…, M.B.] hingaben. Baecks Stellungnahmen zum Zionismus erwiesen sich somit als Ausdruck einer tiefen Spaltung innerhalb des liberalen Judentums. Im NS-Staat sollte es schließlich Leo Baeck sein, der als oberster Repräsentant des Judentums in Deutschland bald an der Spitze eines von den Nationalsozialisten immer wieder umgegründeten und umbenannten Verbandes der Juden im Deutschen Reich stand: des „Reichsverbandes“, der „Reichsvertretung“, der „Reichsvereinigung“ – eine Funktion, die er nicht immer gerne, aber doch aus tiefstem Pflichtbewusstsein bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt im Jahre 1943 auf sich nahm; – und das dem Umstand zum Trotz, dass ihm das NS Regime sogar angeboten hatte, zu emigrieren. Baecks Haltung zum Zionismus sollte nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine nicht geringe Probe gestellt werden – war er doch der festen Überzeugung, dass die Juden in Palästina auch der dort lebenden oder geflohenen arabischen Bevölkerung gegenüber in Verantwortung standen. Entsprechend stand Baeck dem von jüdischen Intellektuellen wie Martin Buber, Gerschom Scholem, Ernst Simon, Judah Magnes und Hugo Bergmann 1925 gegründeten Brit Schalom nahe.

Mit Meyers Biographie liegt nicht nur die bisher umfassendste und detaillierteste Biographie Leo Baecks vor, sondern auch eine Studie, die am Leitfaden eines außergewöhnlichen Lebens in außergewöhnlicher Zeit noch einmal zeigt, was das vernichtete, klassische deutsche Judentum in all seinen Facetten war.

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