D. Hoffmann u.a. (Hrsg.): Transformation als soziale Praxis

Cover
Titel
Transformation als soziale Praxis. Mitteleuropa seit den 1970er Jahren


Herausgeber
Hoffmann, Dierk; Brunnbauer, Ulf
Erschienen
Berlin 2020: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
167 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Lux, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Nachdem die Ereignisse und Folgen der Transformation in Ostdeutschland lange Gegenstand vor allem sozialwissenschaftlicher Forschung waren, ist das Thema in den letzten Jahren auch in der Zeitgeschichtsforschung angekommen. Als wichtige Wegmarke gilt die Arbeit von Marcus Böick über die Geschichte der Treuhand, die differenziert ihre Handlungsspielräume analysiert. Das fortgesetzte Interesse am Thema schlägt sich in einer wachsenden Zahl an Publikationen, Tagungen und Forschungsprojekten nieder, in denen es darum geht, den Blick auf Fallbeispiele mit übergeordneten Fragen nach der Spezifik und Vergleichbarkeit des ostdeutschen Transformationsprozesses zu diskutieren. Die Gründe für diesen Trend sind auf unterschiedlichen Ebenen zu suchen. Wesentlich ist der Abstand von 30 Jahren, der nicht nur einen Generationswechsel markiert und einen differenzierten Blick auf die „Einheitskrise“ (Philipp Ther) eröffnet, sondern auch den Zugang zu Archivmaterial ermöglicht. Ein anderer Grund sind die gesellschaftlichen und politischen Polarisierungsprozesse in den letzten Jahren vor allem in Ostdeutschland, die auch Ausdruck von Deutungskämpfen um 1989 und die Transformationszeit sind. Wesentlicher Teil dieser erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen sind die Debatten um die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft sowie die Folgen der Transformationserfahrungen auf Wertvorstellungen und politische Kultur.

Der Band „Transformation als soziale Praxis“ knüpft an diese Auseinandersetzungen an. Dabei geht es zum einen darum, Transformationsprozesse als Erfahrungsräume zu denken, zum anderen darum, Vergleichsperspektiven aufzuzeigen. Transformation verstehen die Herausgeber in einem weiteren Sinne. Der Begriff umfasst nach ihnen nicht nur den Wirtschaftsumbau, sondern den Umbau einer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ordnung (S. 11). Der Band geht zurück auf eine Tagung am Institut für Zeitgeschichte im März 2019, die unter dem Titel „Transformation als Erfahrungsraum“ stattfand. Den analytischen Rahmen bildete das Begriffspaar „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ nach Reinhart Koselleck. Wo die Autorinnen und Autoren das Konzept auch in ihren Beiträgen systematisch einbeziehen, zeigt sich einmal mehr dessen Potential, um gesellschaftliche Umbruchserfahrungen aufzuschließen. So etwa in dem instruktiven Beitrag von Eva Lütkemeyer über die ostdeutsche Werftindustrie zwischen 1989 und 1994. Unter dem Titel „Erwartung – Erfahrung – Enttäuschung“ macht sie mit Rückgriff auf die Forschungen von Koselleck sowie von Bernhard Gotto ein analytisches Angebot, das eine zusätzliche Ebene einzieht. Sie erweitert den Blick auf die Wirkungen des Transformationsprozesses und diskutiert Hoffnung (auf der Grundlage von positiven Prognosen und Versprechungen) als eine zeitgenössische Erwartungshaltung. Die bald folgende Enttäuschung bezeichnet sie als eine „zentrale Kategorie historischer Erfahrung“ (S. 53) im ostdeutschen Transformationsprozess. In der Verknüpfung von Erfahrung, Erwartung, Enttäuschung sieht Lütkemeyer ein analytisches Instrument, um auch die Entstehung von Krisen und Identitätskonflikten in Ostdeutschland zu untersuchen.

Die Beiträge im Band sind entlang von vier inhaltlichen Felder gegliedert: Werftindustrie, Gewerkschaftsgeschichte, Netzwerke und Räume im Transformationsprozess sowie die Folgen von Wandel auf Stadt und Land. Im Einzelnen: Im ersten Teil widmen sich die Beiträge von Ulf Brunnbauer über die Werft „Uljanik“ im ehemaligen Jugoslawien, von Johanna Wolf über den langfristigen Strukturwandel bei der Bremer Werft „Vulkan“ sowie von Eva Lütkemeyer über die ostdeutschen Werften einem Industriezweig, der bereits vor 1989 mit einem weltweiten Strukturwandel konfrontiert war. Gerade an diesen Beispielen wird deutlich, dass 1989/90 als Zäsur zu hinterfragen ist und ausgehend vom konkreten Gegenstand Vorgeschichten, Pfadabhängigkeiten, aber auch Wertemuster und Handlungsweisen mit analysiert werden müssen: So beschreibt Brunnbauer die Geschichte der Werft „Uljanik“ als einen im Grunde permanenten Transformationsprozess, dem die Akteurinnen und Akteure (auch in leitenden Positionen) mit der sozialen Praxis des „Durchwurstelns“ begegneten. Brunnbauer vollzieht hier eine Perspektivverschiebung, indem er die Transformationsprozesse in die Betriebsgeschichte integriert, anstatt sie als Zäsur „von außen“ zu denken. Damit werden eigene Logiken und eigensinnige Handlungsweisen innerhalb der Werft ebenso sichtbar wie andere Konzepte von Ökonomie und Arbeit als sozialer Praxis.

Den zweiten Teil des Bandes bilden drei Beiträge zur Geschichte der Gewerkschaften. Mit Blick auf die 1970er- und 1980er-Jahre in der „alten“ BRD diskutiert Moritz Müller am Beispiel der IG Metall das Scheitern von Reformen und skizziert damit auch Teile ihrer Vorgeschichte im späteren ostdeutschen Transformationsprozess. Im Mittelpunkt der beiden folgenden Beiträge stehen erfahrungsgeschichtliche Perspektiven auf die Geschichte der Gewerkschaften in Ostdeutschland Anfang der 1990er-Jahre. Christian Rau stellt in seinem Beitrag die oft bemühte Erzählung vom Osten als „gewerkschaftsfreiem Raum“, der die unmittelbare Intervention westdeutscher Akteure notwendig machte, in Frage. Davon ausgehend diskutiert er gewerkschaftliche Erfahrungs- und Handlungsspielräume auf lokaler Ebene, konkret Betriebe, Landesbezirke und Kreisbüros sowie Formen von lokalem Protest. Protestformen stehen auch im Mittelpunkt des Beitrags von Detlev Brunner, der die Geschichte der ostdeutschen Transformation stärker als bisher an die deutsche Demokratie- und Protestgeschichte rückbindet. Der Blick auf konkrete Formen von Protest, Mitbestimmung und Partizipation – und ihre Grenzen – eröffnen, so Brunner, Perspektiven jenseits von Opfer(selbst)erzählungen.

Die folgenden zwei Beiträge diskutieren die Bedeutung von Räumen sowie Netzwerken, Akteuren und Wissensbeständen im Transformationsprozess. Der anregende Beitrag von Florian Peters widmet sich dem Phänomen der Polenmärkte, die keineswegs nur ein Oberflächenphänomen gewesen sind, sondern vielmehr „paradigmatische Orte der Transformationszeit“ (S. 109). Sie fungierten sowohl als Erfahrungsraum als auch als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell und prägten die zeitgenössischen Vorstellungen von Markt und Wirtschaft in Polen wesentlich. Der Beitrag von Keith R. Allan wiederum rückt die Rolle der Schweiz im ostdeutschen Transformationsprozess in den Mittelpunkt und verweist auf die Relevanz von Netzwerken, einzelnen Akteuren und ihrem Markt- und Wirtschaftswissen über die DDR für wirtschaftliche Kooperationen nach 1989.

Der letzte Teil des Bandes widmet sich der Untersuchung von wirtschaftlichem Wandel im städtischen wie ländlichen Raum. Jörn Eiben diskutiert am Beispiel von Wolfsburg und Wilhelmshaven, die auf unterschiedliche Weise tiefgreifende Veränderungen ihrer Wirtschaftsstruktur in den 1970er-Jahren erfuhren, wie diese den Charakter der Städte prägten und daraus unterschiedliche Konzepte für die Zukunft der Stadt entstanden. Uta Bretschneider greift mit der Geschichte der LPG nach 1989 ein Feld auf, das im Hinblick auf die Erfahrungsdimension bisher kaum erforscht wurde. Unter dem Titel „Gescheiterte Erfolgsgeschichten?“ stellt sie das dominierende Erfolgsnarrativ in Frage und zeigt ausgehend von erfahrungsgeschichtlichen Quellen die Komplexität der Prozesse auf. Als Ergebnis beschreibt sie die Situation auf dem Land nach Ende der DDR als einen „Überforderungs- und Möglichkeitsraum“ (S. 162) zugleich, der Interessenkonflikte provozierte, die bis in die Gegenwart reichen.

Die von den Herausgebern als „Schlaglichter“ bezeichneten Fallbeispiele sind anregende thematische Setzungen, gerade weil sie die erfahrungsgeschichtliche Dimension stark machen und Vergleichsperspektiven aufzeigen. Diese bleiben jedoch leider oft implizit, da die Beiträge neben den inhaltlichen Bezügen kaum systematisch aufeinander verweisen. Auch „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ funktionieren nicht für alle Beiträge als analytische Klammer. Dennoch ist das Buch ein produktiver Beitrag zu aktuellen Diskussionen. Es regt dazu an, Transformation in ihrer Komplexität zu denken und entlang von konkreten Fallbeispielen die Bedingungen und Handlungsweisen sowie Motive der Zeitgenossen zu analysieren. Prominente Institutionen und (Mikro-)Räume von Aushandlung wie die Treuhandanstalt stehen dabei gerade nicht im Vordergrund, sondern jene Felder, wo die Transformation „ankam“. Dabei hilft der präzise Blick auf den konkreten Fall auch, um sich von überkommenen Deutungsmustern zu verabschieden und drängende Fragen der Gegenwart zu diskutieren, insbesondere in Bezug auf soziale Gerechtigkeit sowie den Umgang mit Integration und Wandel.