W. Höpken: Wissenschaft – Politik – Biografie

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Titel
Wissenschaft – Politik – Biografie. Die deutsche Südosteuropaforschung und ihre Akteure am Beispiel von Franz Ronneberger (1930er bis 1990er Jahre)


Autor(en)
Höpken, Wolfgang
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten
Erschienen
Oldenbourg 2021: De Gruyter Oldenbourg
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nenad Stefanov, Humboldt-Universität zu Berlin

Vor nahezu 10 Jahren kam es in der überschaubaren Welt der institutionalisierten Beschäftigung mit Südosteuropa zu einem Skandal, der auch die breitere Öffentlichkeit erreichte. Seit 1991 wird von der Südosteuropa-Gesellschaft (SOG) die „Rudolf-Vogel-Medaille“ für herausragende journalistische Beiträge zu Südosteuropa verliehen. Der Preisträger im Jahr 2013, Andreas Ernst von der Neuen Zürcher Zeitung, konfrontierte die SOG bei der Preisverleihung mit der nazistischen Vergangenheit des Namensgebers der Medaille und langjährigen Präsidenten der SOG. Rudolf Vogel verherrlichte als Journalist die NS-Besatzungsherrschaft, was seiner Karriere nach dem Krieg nicht schaden sollte. Fünfzehn Jahre lang war Vogel danach Bundestagsabgeordneter für die CDU, erfreute sich weiterer hoher Positionen, und unterstützte Kriegsverbrecher beim Untertauchen.

Der Skandal demonstrierte nicht nur die Geschichtsvergessenheit der SOG. Zugleich zeigte sich, dass es um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Südosteuropa(SOE)-Forschung in der Zeit des Nationalsozialismus auch nicht weit her war. Die geschichtspolitische Veränderung in der Bundesrepublik in Richtung einer zunehmenden Selbstbefragung von Institutionen zu ihrer Rolle während des Nationalsozialismus, die sich Ende der 1990er-Jahre allmählich intensivierte, setzte hier erst mit Verzögerung ein. So betont Höpken, Mathias Beer anführend, dass „die Magisterarbeit von Dorothea Willkomm von 19791 nach wie vor der ausführlichste und fundierteste Beitrag“ (S. 62) in diesem Zusammenhang sei. Dies zeigt die Defizite drastisch an. Zudem ist die Geschichte der Forschungen von Dorothea Willkomm selbst Teil dieses hochambivalenten Verhältnisses zur Vergangenheit der SOE-Forschung im Nationalsozialismus. Eine Veröffentlichung ihrer Magisterarbeit blieb aus, eine Doktorarbeit zu diesem Thema wurde verweigert. Es war schließlich der Sammelband von Gerhard Seewann und Mathias Beer 20042, der den Impuls für eine weitere kritische Auseinandersetzung gab. Dabei hätte es auch zuvor schon viele gute bzw. schlechte Gründe dafür gegeben.

Forschung zu Südosteuropa oder dem Balkan war zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar eine Randerscheinung. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich aber ein explizit politisches Interesse an der Erforschung des „deutschen Volks- und Kulturboden“ im „Südosten“. Ende der 1920er-Jahre verstärkte sich die Relevanz des „Auslandsdeutschtums“, insbesondere verbunden mit dem Bestreben, stärkeren Zugriff auf die Staaten in Südosteuropa zu erlangen und die politische und wirtschaftliche Dominanz des Deutschen Reiches in dieser Region zu etablieren. In diesen Kontext gehörte etwa die Gründung des Instituts für Mittel- und Südosteuropäische Wirtschaftsforschung in Leipzig. 1930 wurde in München das Institut zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten geschaffen, bekannter als „Südost-Institut“ (S. 82). Diese und andere Institute gewannen mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten enorm an Bedeutung.

Der Skandal bei der Preisverleihung löste eine intensivierte und systematischere Befassung mit dem Verhältnis der SOE-Forschung zum Nationalsozialismus aus, sowie mit deren Rolle in diesem Unterdrückungssystem. Dies dokumentiert sich beeindruckend in der umfangreichen Studie von Wolfgang Höpken. Allein schon quantitativ vermittelt sich im fünfzehnseitigen Quellenverzeichnis imposant der Umfang des für die Studie erschlossenen Stoffs. Diese enorme Anzahl an disparaten, aus den verschiedenartigsten Kontexten kommenden Quellen ist zudem mit marathonhafter Ausdauer auf 880 Seiten in einen präzise umrissenen und spannend zu lesenden Zusammenhang gebracht.

Dabei umspannt die Arbeit nicht allein die Zeit des Nationalsozialismus, die „Dienstbarkeit“ und „Selbstmobilisierung“ der Südosteuropa-Experten:innen für die Zwecke des nationalsozialistischen Regimes. Die Studie erstreckt sich ebenso auf die „lange Restauration“ der Südosteuropa-Forschung in der Nachkriegszeit, verfolgt dann den schwierigen Anpassungsprozess an eine sich Ende der 1960er allmählich verändernde Wissenschaftslandschaft und Forschungsförderung bis zum Ende der 1980er-Jahre.

Im ersten Teil wird ein Panorama der Institutionalisierung der Südosteuropa-Forschung zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus entworfen, mit seinen institutionellen Schwerpunkten in München, Leipzig, Breslau und schließlich – nach dem „Anschluss“ – Wien. Beziehungsgeflechte zwischen den Forschungsstandorten, vor allem Konkurrenzen im Kontext der Institutionalisierung der Befassung mit Südosteuropa, die schon seit der Weimarer Zeit unter dem Primat des Politischen stand, persönliche Eitelkeiten der einzelnen Protagonisten – und dies alles vor dem Hintergrund beklemmender Selbstverständlichkeit des „Mitmachens“ – werden im Detail rekonstruiert. Hier sieht Höpken „einen für das NS-Wissenschaftssystem typischen Prozess kumulierender Konkurrenzen, Selbstmobilisierung aber auch Selbstradikalisierung der wissenschaftlichen Beschäftigung“ mit Südosteuropa (S. 83). Der Autor beschreibt eine „Arena eines gelegentlich ‚darwinistisch‘ ausgetragenen Konkurrenzkampfes, vor allem zwischen den Akteuren in München und Leipzig, aber auch Dresden, Breslau und Prag“ (S. 173).

Der zweite Teil konkretisiert diese Beziehungsgefüge zwischen nationalsozialistischer Organisation und des Beitrags der Südosteuropa-Forschung für eine ideologische Legitimation und Praxis der Besatzungsherrschaft anhand der Person Franz Ronneberger. Dieser erscheint für Höpken „als einer der wissenschaftlichen Vordenker eines den Machtinteressen Deutschlands dienenden Südosteuropa-Bildes“ (S. 69). Dabei unterstreicht Höpken, dass eine Auseinandersetzung mit dessen Biographie sich nicht allein auf eine Rekonstruktion von Denken und Handeln, „von Lebenswelt, Umfeld und Diskursen beschränken“ könne. Sie sei gerade vor dem Hintergrund der Umbrüche des 20. Jahrhunderts immer auch „mit der Frage der normativen moralischen Einordnung der zu beschreibenden Akteure konfrontiert“ (S. 72). Zugleich betont Höpken, dass es für ihn nicht allein um eine „abstrakte Schuldanerkennung“ gehe. Vielmehr fragt der Autor „nach den konkreten Verantwortlichkeiten von Institutionen und vor allem von Individuen“ (S. 69).

Dieser Zugang, der Fokus auf klar zuweisbare Verantwortlichkeit, ist insgesamt prägend für die Studie. Die Biographie Ronnebergers ist dabei gleichsam paradigmatisch. Es ist die Karriere eines aus dem Kleinbürgertum stammenden Wissenschaftlers, der sich in die neue Ordnung bruchlos einpasst bzw. sich mit dieser identifiziert: Dafür sprechen frühe Parteimitgliedschaft, eifriges Engagement schon innerhalb der Studierendenorganisationen der Nazis. Die „Korrespondenzstelle Wien“ (etwas zwischen Pressestelle, Auswertung von Nachrichten aus SOE und nachrichtendienstlichen Aufgaben für staatliche Einrichtungen), die Ronneberger 1939 mitbegründet hatte, wurde 1942 in das berüchtigte „Reichsicherheitshauptamt“ in die Abteilung VI G integriert, womit auch der Eintritt Ronnebergers in die SS verbunden war (S. 581). In dieser Abteilung sollten wissenschaftliche Auswertung der verschiedenen „landeskundlichen“ Institute und nachrichtendienstliche Aktivität gebündelt werden. Die Abteilung war auch unmittelbar in die Besatzungsherrschaft involviert, etwa in der Organisation von Raubaktionen von Kunst und Bibliotheken – Höpken spricht von der „Beteiligung an der Politik kultureller Vernichtung“ (S. 590).

Wie bei sehr vielen seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen brachte das Kriegsende auch für Ronneberger nur eine kurze Pause in seiner weiteren Karriere. Der ehemalige Kommentator des „Völkischen Beobachters“, der in seinen Beiträgen für Südosteuropa zuständig war und noch bis ins Frühjahr 1945 darin Durchhalteparolen schmetterte, avancierte in der Nachkriegszeit zu einem der westdeutschen „PR-Päpste“, was sich auch in seiner Funktion als Mitglied des ZDF-Fernsehrates in den 1980er-Jahren dokumentiert. Bemerkenswert ist die Zeit zwischen dem Ende des bisherigen und dem Anlauf zum neuerlichen Aufstieg mit einem nicht anders als amoralische Gerissenheit zu nennenden Verhalten in den Spruchkammerverfahren. Seine Verteidigung beinhaltete nicht nur die Bagatellisierung seiner Funktionen im wissenschaftlichen und ideologischen Apparat des NS-Systems, wie es oft geschah. Ronneberger ging dabei noch weiter und erfand sich ausgerechnet vermittels der Spruchkammerverfahren als Wissenschaftler gleichsam neu, indem er sich mit einer akademischen Karriere erdachte und schmückte, die er so noch gar nicht absolviert hatte. Zudem funktionierten die bisherigen Netzwerke effektiv. Schließlich prägten Bekannte und Kollegen etwa wie Giselher Wirsing in der damals noch einflussreichen Zeitschrift „Christ und Welt“ mit ihren Abendland-Meditationen und Demokratie-Verachtung den Zeitgeist des ersten Jahrzehnts der Nachkriegszeit.3

Hier liegt wiederum auch das Spezifische von Ronneberger im Unterschied zu anderen Akteurinnen und Akteuren der SOE-Forschung. Anders als Fritz Valjavec ließ sich Ronneberger von „kleinen Geistern und deren Anpöbelungen“ nicht aufhalten, wie Valjavec jene abqualifizierte, die berechtigte Fragen nach seiner Rolle und „seines“ Münchner Südost-Instituts im Nationalsozialismus stellten (S. 354). Ronneberger versuchte im akademischen Betrieb wieder Fuß zu fassen. Dabei zeitigte die im Nationalsozialismus eingeübte Adaptivität auch in den neuen Verhältnissen Erfolge. Höpken sieht Ronneberger als Ausnahme in der Südosteuropa-Forschung aufgrund dessen Interesse an einem sozialwissenschaftlichen Ansatz. Dieser habe sich in den 1960er- und 1970er-Jahren am Modell amerikanischer Politikwissenschaft, der „Comparative Politics“, orientiert. Schließlich gegen Ende seiner Karriere habe sich Ronneberger „einer von Niklas Luhmann beeinflussten Systemtheorie an[genähert] und versuchte, diese für soziologische und politikwissenschaftliche Fragen Südosteuropas nutzbar zu machen“ (S. 689). Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, dass einer der Mentoren Ronnebergers in dieser Zeit Helmut Schelsky war (S. 679).

Präzise profiliert Höpken die Dimensionen wissenschaftlicher Arbeit, ideologischen und politischen Handelns, um dann transparent nachvollziehbar Argumente ausführlich auszuformulieren, die für „karrieristisches Kalkül“ sprechen könnten oder für „instrumentalisierbare Vernunft“. Dabei stellt Wolfgang Höpken auch die Frage, ob überhaupt eine solche Trennung sinnvoll ist. Dieses Werk vermittelt ein Verhältnis zur Vergangenheit, das sich kritisch absetzt von einem „in ihrer gleichsam enzyklopädischen Systematik […] Abarbeiten der Vergangenheit“. Dieses Werk steht vielmehr für „ein Abarbeiten an der Vergangenheit“ (S. 18) – ohne Schlussstrich.

Anmerkungen:
1 Dorothea Willkomm, Untersuchungen zur Anfangsphase der deutschen Südosteuropahistoriographie. Magisterarbeit, Hannover 1979.
2 Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hrsg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen, München 2004.
3 Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020.

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