J. Nießer: Die Wahrheit der Anderen

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Titel
Die Wahrheit der Anderen. Transnationale Vergangenheitsaufarbeitung in Post-Jugoslawien am Beispiel der REKOM Initiative


Autor(en)
Nießer, Jacqueline
Reihe
Schnittstellen
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
390 S.
Preis
€ 59,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruža Fotiadis, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der 1993 von der UN eingerichtete Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) beendete 2017 seine Tätigkeit. Von den 161 angeklagten Personen wurden 91 wegen schwerer Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht während der Jugoslawienkriege verurteilt.1 Aus juristischer Sicht stellt die Schließung des ICTY eine Zäsur dar – aus Sicht der postjugoslawischen Gesellschaften bleibt die Vergangenheitsaufarbeitung ein fortwährender, schmerzhafter Prozess, wie Jacqueline Nießer eindrücklich darlegt. In ihrer Monographie, die auf einer im Rahmen der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg entstandenen Dissertation gründet, widmet sie sich der „Initiative zur Gründung einer Regionalen Kommission zur Feststellung der Fakten über Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens vom 1. Januar 1991 bis zum 31. Dezember 2001“ (REKOM-Initiative). Es handelt sich hierbei um eine zivilgesellschaftliche Initiative, die sich seit Mitte der 2000er-Jahre für eine transnationale Vergangenheitsaufarbeitung der Jugoslawienkriege mittels der Einrichtung einer von den postjugoslawischen Staaten legitimierten Wahrheitskommission einsetzt. Sie zählt mittlerweile über 2.000 Mitglieder (Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen) und konnte u.a. aufgrund umfangreicher internationaler Fördermittel über mehrere Jahre eine Vielzahl von Veranstaltungen und Projekten in den jugoslawischen Nachfolgestaaten mit rund 6.700 Teilnehmenden organisieren. Ihr Ziel, eine institutionalisierte, zwischenstaatliche Wahrheitskommission für das ehemalige Jugoslawien zu schaffen, konnte sie bislang jedoch (noch) nicht erreichen (S. 15f.).

Mit Jacqueline Nießers Buch wird die REKOM-Initiative erstmalig zum Gegenstand einer Monographie. Hierfür wählt die Verfasserin im Gegensatz zu den bislang vorliegenden Arbeiten, die die REKOM-Initiative aus sozial- und politikwissenschaftlicher Perspektive thematisieren, einen kulturwissenschaftlichen und historisch-anthropologischen Zugang, der sich als überaus fruchtbar erweist. Auf der Grundlage von Jörn Rüsens Konzept der Geschichtskultur wählt sie dabei einen dreifachen Zugriff auf das Thema: Erstens begreift sie Vergangenheitsaufarbeitung als Prozess und Praxis, die sie empirisch zu ergründen sucht, zweitens stellt sie Leidtragende der Kriege und NGO-Aktivist:innen als Akteure in das Zentrum ihrer Untersuchung und fragt drittens nach der spezifischen räumlichen Dimension, die sich im Rahmen dieses Engagements in den postjugoslawischen Ländern entfaltet.

Sie bewegt sich dabei im Forschungsfeld von Transitional Justice, legt dieses jedoch nicht wie sonst üblich als analytische Kategorie an, sondern macht es selbst zum Untersuchungsgegenstand. Damit einher geht eine wichtige Perspektivverschiebung von der juristischen Seite der Vergangenheitsaufarbeitung, insbesondere durch das ICTY, und die Konzentration auf die Täter:innen hin zu den Opfern der Jugoslawienkriege und ihren Kampf um öffentliche Anerkennung, wie er sich im Rahmen der REKOM-Initiative gestaltete. Jacqueline Nießer kommt durch diesen Zuschnitt der Forderung nach einer stärkeren Einbindung von Leidtragenden und erinnerungskulturellen Aspekten in die Forschung zu Transitional Justice nach. Vor diesem Hintergrund entwickelt sie ihre spannende Hypothese, wonach der transnationale Einsatz für die Gründung einer regionalen Wahrheitskommission nicht nur der Vergangenheitsaufarbeitung gedient habe, sondern auch auf die Zukunft gerichtet gewesen sei und so einen neuen Raum des postjugoslawischen Miteinanders geschaffen habe.

Zur Untermauerung dieser These verwendet sie einen belastbaren Quellen- und Methodenmix. Zum einen stützt sie sich für den Kernzeitraum der Untersuchung von 2006 bis 2011, der Phase des intensiven Austausches innerhalb der REKOM-Initiative, auf rund 6.000 Seiten Transkripte und weiteres Audio-, Video- und Printmaterial, das begleitend zu den mehr als 130 Treffen angefertigt worden ist. Zum anderen hat sie für die Jahre 2010 bis 2018 eigene ethnographische Daten mittels teilnehmender Beobachtung an Zusammenkünften, Feldgesprächen und Leitfadeninterviews mit Aktivist:innen von REKOM erhoben. Bereits hier zeigt sich die Besonderheit der Arbeit: Wie die Verfasserin darlegt, sei sie schon vor und auch während ihres Promotionsstudiums im zivilgesellschaftlichen Bereich auf dem Feld der Erinnerungskultur in Südosteuropa tätig gewesen. Den Fallstricken, die sich aus der Doppelrolle als Aktivistin und Forscherin hätten ergeben können, entgeht sie aber erfolgreich, indem sie diese offen reflektiert. Vielmehr nutzt sie diese besondere Konstellation gewinnbringend, indem sie durch ihre zweifache Expertise einen tiefen Einblick in die Arbeitsabläufe und -zwänge von NGOs bietet und eine besondere Sensibilität bei der Darstellung von Opfergeschichten und dem Umgang mit Gewalterfahrung an den Tag legt.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. Nach der Einleitung, die den thematischen und konzeptionellen Rahmen absteckt, folgt im zweiten eine Auseinandersetzung mit der Entstehung, Aufgabe und Funktionsweise von Wahrheitskommissionen als staatlich eingesetzten Institutionen zur öffentlichen Untersuchung vergangener Gewalttaten, bei der die Erfahrungen der Opfer im Zentrum stehen. Hervorzuheben ist hierbei die Diskussion um den Wahrheitsbegriff: Im Rahmen solcher Kommissionen würden unterdrückte und marginalisierte Gewalterfahrungen zutage gefördert, die als Gegengewicht zu dominanten Vergangenheitsnarrativen fungierten und somit Veränderungen des Selbstbildes innerhalb einer Gesellschaft anstoßen könnten. Es gehe, so auch der treffende Titel des Buches, folglich um die „Wahrheit der Anderen“. Die Besonderheit in Bezug auf die REKOM-Initiative liege wiederum darin, dass diese transnational angelegt sei und damit die sonst übliche Beschränkung auf einen nationalen bzw. bilateralen Rahmen überschreite (S. 55-75). Das dritte Kapitel widmet sich zwei Opfererzählungen, die im Rahmen von REKOM-Veranstaltungen im Jahr 2008 dokumentiert worden sind. Zum einen geht es um die Gewalterfahrungen von Sudbin Musić, einem bosnischen Muslim aus Prijedor, der Anfang der 1990er-Jahre als Heranwachsender mit weiteren Familienangehörigen in einem bosnisch-serbischen Lager gefangen gehalten wurde. Zum anderen wird die Geschichte der Kosovo-Albanerin Saranda Bogujevci erzählt, die als Kind das 1999 von einer serbischen Spezialeinheit verübte Massaker an ihrer und einer befreundeten Familie überlebte. Jacqueline Nießer gibt beide Erzählungen ungekürzt wieder, kommentiert diese sachkundig und fragt nach der persönlichen Aufarbeitung der Gewalterfahrungen und der Veränderung des Selbstverständnisses als Opfer. Ihre sorgsame Art des Umgangs mit diesen nur schwer zu ertragenden Narrationen ist ein großes Verdienst der Arbeit.

Während dieses Kapitel den „anthropologischen Hauptteil“ (S. 51) der Arbeit darstellt, bilden das vierte und fünfte in gewisser Weise den geschichtswissenschaftlichen. So wird die REKOM-Initiative in Kapitel vier im Hinblick auf Erfahrungen mit nationalen Wahrheitskommissionen in verschiedenen postjugoslawischen Staaten und im Vergleich mit weiteren zivilgesellschaftlichen Erzählprojekten kontextualisiert. In Kapitel fünf beschreibt Nießer die Gründung der Initiative Mitte der 2000er-Jahre, stellt die von Konsens und Dissens begleiteten Aktivitäten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts vor und zeichnet die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs im Jahr 2011 nach, der den postjugoslawischen Staaten als Vorlage zur Einrichtung der regionalen Wahrheitskommission dienen sollte. Das Kapitel schließt mit einer Darstellung der im Anschluss daran erfolgten Öffentlichkeitskampagnen und der politischen Lobbyarbeit bis Mitte 2019, die ihr Ziel bislang jedoch nicht erreichen konnten.

Angesichts dessen kommt die Verfasserin im letzten Kapitel zu folgendem Schluss: „Möglicherweise dokumentiert dieses Buch also eine Utopie.“ (S. 332) In der Tat hat die REKOM-Initiative am 15. Dezember 2019 (nach „Redaktionsschluss“ der vorliegenden Arbeit) die Entscheidung zu einer Neuausrichtung getroffen, der zufolge aufgrund des fehlenden Willens der aktuellen politischen Entscheidungsträger:innen in den postjugoslawischen Staaten, eine regionale Wahrheitskommission einzurichten, nun der Fokus der Initiative auf die Erarbeitung eines Opferregisters der Jugoslawienkriege gelegt werde.2 Wie die Verfasserin jedoch gleich im Anschluss an die erste Äußerung konstatiert, widme sich das Buch aber vielmehr einer Alternative. Diese Alternative äußere sich in Form jenes eingangs als Hypothese formulierten Raums, der durch die transnationalen Kontakte und individuellen Praktiken zivilgesellschaftlicher Akteure in ihrem Bestreben, den Opfern der Jugoslawienkriege öffentlich Gehör zu verschaffen, entstanden sei. Diese „postjugoslawische Region“ definiere sich nicht mehr durch das Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat, sondern durch den Einsatz für gemeinsame Werte.

Jacqueline Nießer bietet mit ihrer Monographie zur REKOM-Initiative eine empirisch fundierte Arbeit zur Vergangenheitsaufarbeitung, die sie als anhaltenden, transnationalen und zukunftsgerichteten Verständigungsprozess zivilgesellschaftlicher Akteure in den jugoslawischen Nachfolgestaaten beschreibt. Damit berührt sie angesichts der geschichtsrevisionistischen Tendenzen in der serbischen, bosnisch-herzegowinischen und kroatischen Öffentlichkeit und Historiographie ein aktuelles Thema.3 Auch wenn Jacqueline Nießer die Rolle von HistorikerInnen in der Vergangenheitsaufarbeitung nicht näher beleuchtet, so bietet sie darin doch Anknüpfungspunkte, um weitergehende Fragen nach dem Beitrag der Geschichtswissenschaften, dem Gehalt „historischer Wahrheit“ und der Teilhabe an gesellschaftlichen Verständigungen über die Vergangenheit zu stellen. Einige sprachliche Inkonsequenzen und Ungenauigkeiten finden sich im Text, tun dem insgesamt positiven Leseeindruck jedoch keinen Abbruch. Allen an Erinnerungskultur, Zivilgesellschaft, Wahrheitskommissionen, Aufarbeitung von Gewalterfahrungen und dem postjugoslawischen Raum Interessierten sei das Buch wärmstens empfohlen.

Anmerkungen:
1 International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, Key Figures of the Cases, https://www.icty.org/en/cases/key-figures-cases (13.09.2021).
2 Koalicija za REKOM preuzima brigu za izradu regionalnog popisa žrtava u vezi sa ratovima devedesetih na području bivše Jugoslavije [Die REKOM-Koalition übernimmt die Erarbeitung eines regionalen Opferregisters in Bezug auf die Kriege der 1990er auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens], https://www.mreza-mira.net/vijesti/razno/koalicija-za-rekom-preuzima-brigu-za-izradu-regionalnog-popisa-zrtava/?fbclid=IwAR02VqexhG4P5PaXQsrspiBfDAIRl8PQOnS9DLe9-1ici5V1ifwwAa9uAMA (13.09.2021).
3 In Bezug auf den aktuellen Geschichtsrevisionismus im postjugoslawischen Raum sei auf die Projekte „Ko je prvi počeo? Istoričari protiv revizionizma“ [Wer hat zuerst angefangen? Historiker gegen Revisionismus] und „Histoire pour la liberté“, an dem die Rezensentin beteiligt ist, verwiesen: https://kojeprvipoceo.rs/ sowie https://www.krokodil.rs/2021/04/histoire-pour-la-liberte/ (13.09.2021).

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