S. Naithani: Folklore in Baltic History

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Titel
Folklore in Baltic History. Resistance and Resurgence


Autor(en)
Naithani, Sadhana
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 115 S.
Preis
$ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Kusber, Historisches Seminar; Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

In der Geschichtskultur Lettlands, Estlands und Litauens sind Folklore und Volkskultur als Bestandteil nationalen Eigenbewusstseins stark verankert. Sängerfeste wurden in der Zeit der sowjetischen Okkupation zu nationalen Ereignissen, die zunehmend Eigensinn manifestierten und ihren Beitrag zur Vorbereitung der „singenden Revolution“ 1988–1991 beigetragen haben. In ihrem schmalen Bändchen beschreibt Sadhana Naithani ihren multidisziplinären Weg zum Thema. Es geht ihr weniger um Folklore, sondern um eine Geschichte von Volkskunde – um einen älteren traditionsbeladenen Begriff zu nutzen – oder besser: um die Ethnologie als akademischer Disziplin und deren Beitrag zum Gang der Geschichte Lettlands, Estlands und Litauens, den sie als Narrativ verstanden wissen möchte, zu dem die Ethnologie als Wissenschaft mit performativen Ansätzen beigetragen hat.1 Damit ist ein allgemeines Erkenntnisinteresse formuliert, das, wie Naithani schreibt, durch einen Aufenthalt als Gastprofessorin an der Universität in Tartu 2008 geweckt wurde.

Die Verfasserin thematisiert die Voraussetzungen für ihr Vorhaben selbst: Sie spricht keine der Sprachen ihrer Zielländer, sie liest Deutsch und Englisch und kann sich auf diese Weise Teile der älteren und neueren Forschung erschließen, aber eben nur Teile. Dies versucht sie auszugleichen, und das entspricht ihrer methodischen Kompetenz, indem sie Gespräche geführt hat und nicht Interviews stricto sensu, da diese keinem vorgegebenen Rahmen von Frage und Antwort folgten. Es handelte sich eher um Gespräche mit Kolleg:innen und Freund:innen, die sie über die Zeit gewonnen hat, gemeinsame Spaziergänge oder Besuche von erinnerungspolitisch bedeutsamen Orten. Die Voraussetzungen, um tief in die Geschichte des Faches einzutauchen, sind daher schwierig und nur teilweise gegeben. Andererseits kann man die kleine Studie auch mit der Frage lesen, wie weit man unter diesen Voraussetzungen kommt.

Einleitend kontextualisiert die Autorin grob und nicht immer fehlerfrei (so durfte sowjetisches Militär erst nach dem Hitler-Stalin-Pakt in den baltischen Staaten stationiert werden (S. 3), Livland und Estland wurden im 18. und nicht im 19. Jahrhundert Bestandteile des Russischen Reiches (S. 16)). Naithani arbeitet heraus, wie nach den Anfängen im 19. Jahrhundert die Zwischenkriegszeit formativ für die Ethnologie als Nationalwissenschaft für alle drei nun unabhängigen baltischen Staaten wurde. Oskar Loorits (1900–1961) in Estland und Kārlis Straubergs (1890–1962) in Lettland zum Beispiel schufen Archive für nationale Folklore in den 1920er-Jahren und arbeiteten an einem Konzept der Volkskultur als Träger eines nationalen Gedankens. Auf der Basis dieses grundlegenden Kapitels geht Naithani in drei eng zusammenhängenden Kapiteln auf die ihrer Auffassung nach zu Recht relevanten Resistance Sites ein. Sie behandelt Folklore als akademische Disziplin in ihrer Widerständigkeit, die (nationalen) Folklorearchive als Orte des Widerstandes; schließlich den ländlichen Raum an sich.

Nach der sowjetischen Okkupation 1944 machten sich die Sowjets daran, die Ethnologie im Sinne der sowjetischen Vision eines Imperiums, das die Nationalismen bekämpft, umzubauen und umzunutzen. Zensur von Quellen in den angelegten Archiven, Zensur von Publikationen und vor allem auch Säuberungen in verschiedenen Wellen waren die Mittel. Das Schicksal der lettischen Folkloristin Anna Bērzkalne (1891–1956) zeigt an, dass schließlich auch Säuberungen einer Neukonzeptionierung der Ethnologie von sowjetischer Seite vorangingen. Die „sibirische Erfahrung“ sollte auch viele jüngere Wissenschaftler:innen prägen. Auch sie trug dazu bei, dass die sowjetische Ethnologie als Engineering eines leninistischen Bewusstseins als gescheitert betrachtet werden konnte: Wissenschaftler:innen fanden Wege, das offiziell Gewollte in Lehre und Forschung zu unterlaufen, um so an den jeweiligen nationalen Projekten weiterzuarbeiten. Die ethnologischen Expeditionen füllten die nationalen Archive und können als Akte des Widerstandes bezeichnet werden – und umgekehrt: Die ländliche Bevölkerung selbst unterlief, wie ethnologisch herausgearbeitet wurde, die mit der Kollektivierung der Landwirtschaft gewollte Uniformierung der Gesellschaft. Dies alles ermöglichte der Ethnologie, in und nach der „singenden Revolution“ neben der Geschichtswissenschaft phasenweise zur geisteswissenschaftlichen Leitdisziplin zu werden (The Resurgence, S. 89–100), weil sie in idealer Weise in die neu erlangte nationalstaatliche Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens passte.

Die Verfasserin thematisiert im Verlauf ihrer Darstellung immer wieder, ob in den Gesprächen ein „Verstehen“ der Erfahrungen der baltischen Konversationspartner:innen möglich sei – etwa, ob sich Naithani in die sowjetische „Atmosphäre“ nach 1953 einfühlen könne (S.37). In manchen Passagen werden die Gespräche statt einer eigenen Narration wiedergeben. Das führte in der Lektüre des Rezensenten zu dem Eindruck der Abschweifung und des Impressionistischen. Dennoch handelt es sich um einen knappen ersten Aufschlag mit interessanten Beobachtungen und Informationen im Detail. Eine umfassende Darstellung zum Thema bleibt ein Desiderat, das wohl nur von einer interdisziplinär besetzten Forschungsgruppe zu füllen wäre.

Anmerkung:
1 Zum Verhältnis und zur Entwicklung dieser Disziplinen und von der Verfasserin nicht berücksichtigt: Mārtiņš Mintaurus, Perspectives of the Cultural History in Latvia: The 20th century and beyond, in: Jörg Rogge (Hrsg.), Cultural History in Europe. Institutions – Themes – Perspectives, Bielefeld 2011, S. 91–124, https://doi.org/10.14361/transcript.9783839417249.91 (01.01.2023).

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