Quellensammlung zur mittelalterlichen Geschichte

Titel
Quellensammlung zur mittelalterlichen Geschichte. Fortsetzung


Herausgeber
Müller, Thomas; Pentzel, Alexander
Reihe
Continuatio fontium medii aevi
Erschienen
Berlin 1999: Heptagon
Anzahl Seiten
Preis
DM 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Harald Müller, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

1998 stellte der Berliner bmp-Verlag seine erste CD-ROM mit Quellen zur mittelalterlichen Geschichte vor. Sie beruhte im Wesentlichen auf der Digitalisierung von 22 lateinischen Originaltexten sowie deren deutschsprachiger Uebersetzung und schien damit den langgehegten Traum unzaehliger Studenten und Dozenten zu erfuellen, Quellenrecherche schnell, komfortabel und preiswert am heimischen PC durchfuehren zu koennen. Obendrein ermoeglichte sie den einfachen Export von Textstellen in andere Programme - gleichsam Zitatmontage mit 'copy and paste'. Diese bestechende Idee, die zunaechst an Quellen des frueheren Mittelalters erprobt wurde und dank des Lizenzvertriebs durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft aus dem Mauerbluemchendasein der Hinterhofpublikation fuer Spezialisten herausgetreten ist, hat nun ihre Fortsetzung in einer zweiten CD-ROM gefunden. Mit kaum veraenderten Systemvoraussetzungen (PC mit mindestens 486-er Prozessor, 16 MB RAM unter Windows 9x oder Windows NT, Soundkarte und Lautsprecher fuer die Multimedia-Einlagen) knuepft sie auch inhaltlich dort an, wo CD 1 aufhoerte.

Unter 30 angebotenen Quellen schliessen die Fuldaer Annalen, Wipos Vita Chuonradi, Widukinds Sachsengeschichte und Brunos Buch vom Sachsenkrieg z. T. Luecken in Frueh- und Hochmittelalter, die bei der Vorlaeuferin bemaengelt worden waren. 1 Ansonsten liegt der Schwerpunkt auf Texten der hoch- und spaetmittelalterlichen Historiographie. Die Koelner Koenigschronik, die eigenartige Limburger Chronik des Tileman Elhen von Wolfhagen, die Annalen von Marbach und Kolmar sowie die Chronik des Matthias von Neuenburg markieren die "Westgrenze". Ansonsten dominieren in geographischer Hinsicht Texte aus dem Reichsgebiet mit starker Tendenz zur "Osterweiterung" um die slawischen Gebiete (Slawenchronik des Arnold von Luebeck) und Boehmen (Cosmas von Prag samt Fortsetzern); eine breitere Streuung ueber den europaeischen Kulturraum wurde offenbar nicht angestrebt, Auswahlkriterien werden nirgends offen gelegt. 2 Ohnehin muss von vornherein klar sein, dass mit diesen beiden CDs nur ein Bruchteil selbst der historiographischen Quellen abgedeckt werden kann; eine Bezugnahme auf den Auswahlcharakter der Sammlung im Titel haette indessen wohlgetan.

Der Benutzer findet ein bewaehrtes Schema vor. Die lateinischen Texte sind durchweg den Monumenta Germaniae Historica (MGH) entnommen, meist jedoch um den textkritischen Apparat gekuerzt, bisweilen auch um mehr. Das mitunter hohe Alter der Textausgaben faellt kaum ins Gewicht, handelt es sich doch zumeist um bis heute unersetzte Referenzwerke. Bis auf die Autobiographie des Konvertiten Hermann Scheda (Hermannus Iudaeus) aus Koeln - hier haben die Bearbeiter durchaus vorhandene Uebersetzungen nicht ermitteln oder aber nicht beschaffen koennen 3 -, die Saechsische Weltchronik und die Limburger Chronik, beide volkssprachlich abgefasst, steht dem Benutzer fuer jede Quelle eine deutsche Uebersetzung zur Seite. Eine "Freiherr-vom-Stein-Gedaechtnisausgabe" im Digitalformat liegt dennoch nicht vor, denn aus urheberrechtlichen Gruenden sind die Herausgeber gezwungen, auf aeltere Ausgaben zu rekurrieren. So kommen die 'Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit' zu einem unverhofften dritten Fruehling. Weniger die Qualitaet der Uebersetzungen als deren gelegentliche Unvollstaendigkeit wecken Bedenken. So wird die ohnehin in den Scriptores der MGH unvollstaendig abgedruckte Chronik des Albert von Stade ein weiteres Mal verkuerzt, weil das Fragment nur fragmentarisch uebersetzt ist. Ueber die genaue Textgrundlage sollte sich der Nutzer also unbedingt vorab informieren, insbesondere bei grossraeumigeren Suchvorhaben. Dazu wurde eine Rubrik eingerichtet, die den irrefuehrenden Titel "Literatur" traegt. Diese aber - im Sinne von Basisinformationen oder gar einer Kurzbibliographie - findet man dort nicht, sondern lediglich die (nicht tippfehlerfreie) Angabe der digitalisierten Werke bzw. Werkteile.

Die Suche selbst fuehrt gewohnt zuverlaessig und komfortabel zu Ergebnissen, die sich dann recht muehelos z.B. in Textverarbeitungsprogramme exportieren lassen. Nach Auskunft des Verlages steht im Herbst die Auslieferung einer erweiterten Version bevor, die auch eine sogenannte unscharfe Suche erlaubt. Sie funktioniert hauptsaechlich auf der Basis phonetischer Aehnlichkeiten. Mit ihrer Hilfe, so die Hoffnung des Rezensenten, kaeme man den "zahlreichen orthographischen Ungezogenheiten" 4 mittelalterlicher Schreiber leichter auf die Spur, die aus Guillelmus gerne Guillermus oder aus Magdeburg flugs Magedaburg machen. Die dem Rezensenten mitgelieferte Beta-Version erfuellte die Erwartungen an Zuverlaessigkeit und Laufsicherheit, soweit ein Schnelltest hier aussagekraeftige Ergebnisse zulaesst. Bemueht wurden die auf tueckische Weise verwandt klingenden und im Quellenspektrum dieser CD hinreichend haeufig auftretende Namen Bernardus/Bernhardus und Bernwardus. Sie wurden als Such-Strings in allen fuenf waehlbaren Stufen der unscharfen Suche eingegeben. Daraufhin blieb sich 'Bernardus' bis zur 3. Stufe mit je 60 Fundstellen gleich, bei der 4. erhoehte sich die Zahl auf 141. Hier waren nun variante Formen wie Bernhardus und Pernardus, aber auch nur entfernt aehnliches wie 'permatus' zu finden. Stufe 5 brachte dann 1112 Textstellen, freilich weniger Bernardus-nah, wie die aufgefuehrten 'Uebermuth' und 'unbehindert' zeigen. Die Suche nach 'Bernhardus' verlief aehnlich. Stufe 3 foerderte bereits die Schreibvariante Pernhardus zutage, Stufe 4 war mit der von 'Bernardus' identisch. Anders bei Bernward: Hier traten in den ersten 4 Stufen stets nur 12 identische Belege dieses Namens auf, ehe diese sich in Stufe 5 unter insgesamt 418 Nennungen zwischen 'Ueberfahrt', und 'perfida' verloren. Einen - auch phonetisch nahe liegenden - Konnex zwischen den Bernhard-Formen und Bernward vermochte das System also nicht herzustellen. Das liegt vermutlich daran, dass es fuer die deutsche Sprache konzipiert wurde und dort, etwa im Ueberwinden orthographischer Moden, sehr hilfreich sein kann. Der an den lateinischen Texten interessierte Nutzer tut gut daran, zusaetzlich mit eigenen Kreuzpruefungen nach Varianten zu suchen. Massiven Verschreibungen, wie sie bei der Transmission mittelalterlicher Texte gerade bei Eigennamen nicht selten sind, wird er mit der vorliegenden Hilfe ohnehin kaum auf die Spur kommen. Sie bleibt indessen nuetzlich, weil sie dem Suchenden die Arbeit erleichtert, indem sie etwa mit dem Suffix' -burg' auch ' -borg, -burch, -borch' (nicht aber -burh aus dem Annalista Saxo oder der Vita Norberti) etc. verzeichnet. Es spricht fuer die Verantwortlichen, dass sie den unfertigen Charakter dieser Funktion nicht verschweigen und ausdruecklich um Verbesserungsvorschlaege bitten.

Wer profitiert von einer solchen Quellensammlung? Die Antwort faellt zwiespaeltig aus. Technisch bietet sie jedem Nutzer Vorteile, fallen doch Suche nach und Verwertung von Quellenstellen deutlich leichter als mit herkoemmlichen Mitteln. Wer das mitunter tueckische Instrumentarium der mittelalterlichen Geschichte bereits beherrscht, wird einen Dreischritt aus Suchen und Finden mittels CD-Rom, schliesslich Ueberpruefen an der aktuellen, vollstaendigen Textausgabe, Uebersetzung und Kommentierung vollziehen. Bei allen anderen besteht indessen die Gefahr, dass sie den letzten Schritt unterlassen und blind auf Textausgaben, Kommentare und vor allem Uebersetzungen vertrauen, an denen meist 100 Jahre Forschung spurlos voruebergegangen sind.

Schiffbruch droht vor allem, wenn statt eigener Ueberpruefung die Rubrik 'Multimedia' der CD konsultiert wird. Hatte man sich bei der ersten Portion der Quellensammlung noch an das Prinzip der Erlaeuterung jeweils einer konkreten Quelle gehalten - man gelangte nur von dieser aus zu den entsprechenden Informationen - , so ist man in CD 2 von diesem Referenzsystem abgerueckt. Nunmehr ist jederzeit der Zugriff auf eine eigene Registerkarte 'Multimedia' moeglich, hinter der sich allerdings nur spezifische Informationen zu einem sehr geringen Teil der gespeicherten Quellen finden. Diesen Mangel sucht man durch einige allgemeine Begriffe auszugleichen, die einen Hauch von Lexikon versprechen. Zwar ist verstaendlich, dass Bilder, Toene und dem Benutzer frei Auge und Ohr gelieferte Informationen allgemein die Verkaufschancen heben. Die fakultative schoene bunte Infowelt der vorgelegten Quellensammlung erfuellt indessen gerade bei den umfassenderen Stichworten fachlich keineswegs die Erwartungen. So wird unter dem Begriff Praemonstratenser die Vita Norberts von Xanten vorgestellt, kein Wort aber darueber verloren, dass es deren zwei gibt. Auf den Einfluss Norberts auf Papst Innocenz II., so hoert man weiter, gehe vielleicht die antikaiserliche, unnachgiebige Haltung des Papsttums im Investiturstreit zurueck. Jener Innocenz bestieg jedoch erst 1130 den Stuhl Petri, zu einem Zeitpunkt also, an dem das Wormser Konkordat bereits Erstkommunion haette feiern koennen. Die Beschaeftigung mit Liedgut und Mode wird anderenorts (Limburger Chronik) unbedarft der "Sozialgeschichte" zugeordnet. Die Erklaerung des Stichworts Annalen schliesslich definiert diese wichtige fruehmittelalterliche Quellengattung als "kurze Aufzeichnung von Ereignissen", laesst also selbst das namengebende Strukturmerkmal einer jahrweisen Aufzeichnung ausser Acht und erweist sich so eindeutig als nicht proseminartauglich. Diese entbehrliche, ja geradezu aergerliche Komponente der vorliegenden CD weckt erhebliche Zweifel an der historisch-fachlichen Zuverlaessigkeit des Projekts - ein unnoetiger Kontrast zu der gelungenen technischen Umsetzung.

Insgesamt wird die Continuatio dennoch als wertvolles Instrument bei der Textrecherche nicht zuletzt aufgrund ihres moderaten Preises einen festen Platz im CD-Staender ambitionierter Mediaevisten erobern. Es waere angesichts dessen unbillig, hier die Perfektion zu erwarten, die grosse Verlage und renommierte Institutionen des Faches mit einem Vielfachen an technischem und fachlichen Mitteln erstreben. Von uneingeschraenktem Nutzen ist die CD freilich nur fuer diejenigen, die a) sich hauptsaechlich fuer mittel- und ostmitteleuropaeische Geschichte interessieren und die vor allem b) die gebotenen Zugriffe selbststaendig an aktuelleren Ausgaben zu pruefen und mit selbst ermittelter, solider fachlicher Information zu kombinieren verstehen. Waehrend in der Wissenschaft jeder fuer das verantwortlich ist, unter dem sein Name steht, beduerften fachliche Einsteiger, etwa Studenten, sicherlich der hinweisenden Hilfe, soll die Bequemlichkeit der Recherche im digitalen Pantoffelkino nicht zu grundlegenden handwerklichen Fehlbildungen fuehren.

Die "Quellensammlung" hat eine Nische gefunden, indem sie ausgewaehlte Quellenbestaende am heimischen PC verfuegbar macht. Wie lange sich dieses fragmentarische Konzept aber angesichts des rasanten Anstiegs der Vernetzung, zunehmender Bereitstellung von Quellentexten im Internet und sinkender Flatrates behaupten wird, ist fraglich.

Anmerkungen:

1 Vgl. die ausfuehrliche Rezension der CD 1 von Thilo Koehn in diesem Forum: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/digital/cdrom/datenban/koth1198.htm. 2 Detaillierte Textaufstellung unter http://www.heptagon.de/quellen2.htm. 3 Hier endeten offenbar die Recherchefaehigkeiten. Eine Uebersetzung, zudem eine in den Altersschnitt der anderen Uebersetzungen passende, steht aus der Feder von Augustin Huesing, Der heilige Gottfried von Cappenberg, Praemonstratenser-Moench, und das Kloster Cappenberg, Muenster 1882, S. 104-164 zur Verfuegung. Sie ist nicht die Einzige, wie ein Blick in H. Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.-13. Jh.), Frankfurt/Main ³1997, S. 267 belehrt. 4 Walter Holtzmann, Papsturkunden in England. 1. Band: Bibliotheken und Archive in London, Berlin 1931, S. 213.

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