J. Nicolai: Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens

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Titel
"Seid mutig und aufrecht!". Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1933–1938


Autor(en)
Nicolai, Johann
Reihe
Potsdamer Jüdische Studien 1
Erschienen
Berlin 2016: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
314 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilma Schütze, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Trotz der Forschungen des erst kürzlich verstorbenen deutsch-britischen Historikers Arnold Paucker und des israelischen Historikers Avraham Barkai führte die größte jüdische Körperschaft des Deutschen Reichs, die sich dem Kampf für die Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden verschrieben hatte, eine Randexistenz in der deutschen Geschichtsschreibung.1 Dieser Nichtbeachtung der Historie des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (seit August 1936 „Jüdischer Centralverein e.V.“, in Folge: C.V.) tritt der erste Band der Reihe „Potsdamer Jüdische Studien“ entgegen.

Johann Nicolais Studie „‚Seid mutig und aufrecht!‘ Das Ende des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1933–1938“ zeichnet auf Grundlage der Bestände des Moskauer „Sonderarchivs“ die Schwierigkeiten des C.V. in Fragen der jüdischen Selbstorganisation und Abwehrarbeit gegen den Antisemitismus im Zeitraum von 1933 bis zur Zwangsauflösung des Vereins am 10. November 1938 nach. Nicolais Studie rückt insbesondere die koordinierte Auswanderung deutscher Jüdinnen und Juden nach Übersee in den Fokus seiner Betrachtungen, da sich neben der Herausgabe der „C.V.- Zeitung“ sowie der juristisch-wirtschaftlichen Beratung für Betroffene der Arisierungsmaßnahmen die „Auswanderungsvorberatung und Auswanderungsschulung“ zur wichtigsten Aufgabe des Vereins entwickelt hatte (S. 19). Nicolai möchte hierbei die vielschichtigen Aspekte der Vereinstätigkeit, die bisher nur in Teilstudien untersucht worden sind, in einem Gesamtkontext diskutieren.

Nicolai gliedert das Buch in zwei Abschnitte auf und betrachtet zunächst die Jahre 1933 bis 1935, das heißt bis zur Einführung der Nürnberger Gesetze im September 1935. In seiner Analyse der ersten Reaktionen des C.V. auf den Aufstieg des Nationalsozialismus hebt Nicolai hervor, dass dieser eine abwartende, kritische Haltung einnahm: so z.B. am 2. Februar 1933 als die „C.V.-Zeitung“ an ihre Leser appellierte, die Entwicklungen, welche die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zur Folge haben würden, „ruhig ab[zu]warten“ oder auch in einer Kampagne im März 1933, die sich gegen Berichte ausländischer Medien über eine angebliche antisemitische Gewaltwelle, der sogenannten Greuelpropaganda richtete. Gleichzeitig verurteilte die Vereinsleitung die repressiven Maßnahmen, wie das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, als antisemitisch motivierte Verordnungen und entsandte Delegierte in den „Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau“ sowie in die „Reichsvertretung der Deutschen Juden“, beides Organisationen der jüdischen Selbsthilfe auf Reichsebene, die 1933 als Reaktion auf die antisemitischen Gesetze und den Aprilboykott gegründet worden waren.

In Nicolais Deutung spiegeln die ersten Reaktionen zum einen das Vertrauen der Vereinsleitung in die verfassungsmäßigen Rechte wider. Zum anderen bezeugen sie eine zunehmende Vernetzung und Organisation der jüdischen Interessen über die bisher bestehenden inner-jüdischen Organisationsgrenzen hinweg, was Nicolai vor allem auf die steigende Verfolgung und Ausgrenzung zurückführt.

Der zweite Teil des Buches umfasst die Phase vom 10. September 1935 bis zur Vereinsauflösung 1938. Auf die Nürnberger Gesetze (1935) reagierte – so Nicolai – der Verein mit einer organisatorischen Umstrukturierung und ideologischen Neuausrichtung, da die Abwehrstrategie im Sinne der „C.V.-Idee“ keine adäquaten Mittel mehr bereit stellte, um der rassisch begründeten Ausgrenzung der jüdischen Gemeinschaft aus der deutschen Gesellschaft zu begegnen. Die „C.V.-Idee“, die der Verein seit seiner Gründung 1893 vertreten hatte, sah zum einen die Erziehung der Deutschen jüdischen Glaubens zu „ehrhaften Staatsbürgern“ vor und hatte zum anderen das Ziel, Nichtjuden über das „wahre Wesen“ des Judentums aufzuklären.

Unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Ausgrenzungsmaßnahmen richtete sich der C.V. neu aus und hielt sowohl eine verstärkte jüdische Identität im Bewusstsein jüdischer Tradition und Geschichte als auch die Möglichkeit zur Emigration für seine Mitglieder für wichtig, was den Verein in die Nähe der bisher bekämpften „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ (ZVfD) rückte. Gerade dieses Umdenken in der Emigrationsfrage hält Nicolai für einen der zentralen Aspekte in den letzten Jahren des Vereins und geht dieser Entwicklung exemplarisch an zwei Beispielen nach: dem schlesischen Auswandererlehrgut Groß-Breesen und der Artikelserie in der „C.V.-Zeitung“ über die Aufnahmeländer Südafrika und Brasilien.

Das nicht-zionistische Lehrgut Groß-Breesen war 1936 initiiert worden und richtete sich an Jugendliche, die in Vorbereitung ihrer Auswanderung nach Übersee eine landwirtschaftliche Ausbildung erhalten sollten. Die Emigration nach Übersee rückte in den Fokus, da die Quoten der britischen Besatzungsmacht Einreisen nach Palästina erschwerten; zudem befürwortete der C.V. das Leben in den weltweiten jüdischen Diasporagemeinschaften, was sich auch in der genannten Artikelserie niederschlug. Mit den beiden Beispielen belegt Nicolai die fortdauernden Spannungen zwischen beiden Organisationen aufgrund der gegensätzlichen ideologischen Positionen und die immer größer werdenden Schwierigkeiten, insbesondere jungen jüdischen Menschen eine Zukunft im Ausland zu ermöglichen (besonders nach der Konferenz von Evian 1938).

Nicolais Studie baut auf den Arbeiten von Paucker und Barkai zur Gesamtgeschichte des C.V. auf. Besonders Barkai hatte aufgezeigt, dass sich die ideologischen Positionen der Vordenker des C.V. in den 1930er-Jahren verändert hatten.2 Der C.V. – so Barkai – erkannte zwar den Zionismus als Fakt an, sah in ihm jedoch nicht die einzige Antwort auf die von antisemitischen Kräften gestellten „Judenfrage“. Im Unterschied zu den zionistischen Positionen sah es der Verein weiterhin als seine Hauptaufgabe an, den Juden und Jüdinnen, die sich (vorerst) entschieden hatten zu bleiben, praktische Hilfe zukommen zu lassen und sie in ihrer deutsch-jüdischen Identität zu bestärken. Im Gegensatz dazu argumentiert Nicolai, dass die Unterstützung der Emigration zur wichtigsten Aufgabe des C.V. in den letzten Jahren wurde. Damit kann er aber nicht vollends überzeugen, da der Verein nicht direkt in die koordinierte Emigrationsarbeit involviert war. Zwar subventionierte der C.V. das Lehrgut Groß-Breesen und informierte die Leserinnen und Leser der C.V.-Zeitung über Möglichkeiten der Emigration, doch rief der Verein weder explizit zum Verlassen Deutschlands auf, noch wirkte er offiziell in Auswanderungsstellen mit.

In der Darstellung wäre zudem eine Diskussion der Quellen wünschenswert gewesen: Zwar gibt der Autor an, sich auf umfangreiches unveröffentlichtes Archivmaterial zu beziehen (S. 19), zitiert dann jedoch fast ausschließlich – wenn auch sehr ausführlich – aus den Artikeln der „C.V.-Zeitung“. Hier wäre eine mehr als punktuelle Reflexion über diese Quellen wichtig gewesen, da die „C.V.-Zeitung“ als Massenmedium oft aktuelle Ereignisse aus Sicht der Redakteure und Redakteurinnen für einen spezifischen Leser- und Leserinnenkreis aufbereitete. Darüber hinaus hätte eine solche Diskussion auch Fragen der Zensur, Eigenzensur oder Verkaufsverbote thematisieren können und die Lücken in der Dokumentation der Vereinsgeschichte, sei es aufgrund von zeitgenössischen Ängsten vor Verfolgung oder aufgrund von vernichteten Aktenbeständen, erklären können.3 Ein vielseitigeres Bild der C.V.-Abwehrarbeit wird damit nur schemenhaft nachgezeichnet.

Kleinere Fehler sind leider nicht zu übersehen. Der deutsche Botschaftssekretär, auf den Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris seine Waffe richtete, heißt so zum Beispiel Ernst vom Rath, nicht von Rath (S. 268; 296). Auch gab weder Ludwig Holländer „Den Morgen“ heraus (S. 225), noch übernahm Eva Reichmann 1929 die Herausgabe des Magazins (S. 13, Fußnote 37): Nach dem Tod des Zeitschriftgründers Julius Goldstein im Jahr 1929 übernahm seine Witwe Margarete Goldstein, später gemeinsam mit Rabbiner Max Dienemann, die Herausgeberschaft, die erst 1933 an Eva Reichmann und Hans Bach übergeben wurde.4

Trotz dieser Anmerkungen wird mit Nicolais Studie über die letzten Jahre des C.V. die Geschichte eines der größten deutsch-jüdischen Vereine erneut in den Fokus gestellt und damit auch ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte behandelt. Vielmehr noch regt die Studie zwei grundlegende Diskussionen an: die Diskussion über die zugrundeliegenden Bedingungen des Handelns in totalitären Regimen sowie die Grenzen seiner Darstellbarkeit.

Anmerkungen:
1 Vgl. Arnold Paucker, Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Studien zu Abwehr, Selbstbehauptung und Widerstand der deutschen Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 2003; Avraham Barkai, „Wehr Dich!“. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938, München 2002.
2 Barkai: „Wehr Dich!“, S. 330ff.
3 Avraham Barkai, The C.V. and its Archives. A Reassessment, in: Leo Baeck Institute Year Book 45 (2000), S. 173–182, hier S. 175f.
4 Herbert Freeden, Die jüdische Presse im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1987, S. 150.

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