Ch. Forstner u.a. (Hrsg.): Physik, Militär und Frieden

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Titel
Physik, Militär und Frieden. Physiker zwischen Rüstungsforschung und Friedensbewegung


Herausgeber
Forstner, Christian; Neuneck, Götz
Erschienen
Wiesbaden 2018: Springer
Anzahl Seiten
VI, 271 S.
Preis
€ 54,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Sophia Dafinger, Universität Augsburg

Eine der vornehmsten Aufgaben der Geschichtswissenschaft ist es, raunender Empörung und haltlosen Behauptungen die Faktizität der Quellen, differenzierte Analysen und ausgewogene Interpretationen entgegenzustellen. Manfred Heinemann tut im hier besprochenen Sammelband „Physik, Militär und Frieden“ das Gegenteil. Im Ton der Anklage montiert er Quellen und das unbelegte Wissen verschiedener Websites zu einer zwischen den Zeilen präsenten Klage über eine vermeintlich unverhältnismäßige „Rache“ der Alliierten an „den Deutschen“, die 1945 begonnen habe und deren Folgen „bis in die Gegenwart“ (S. 71) reichen würden.

Bereits im einleitenden Abschnitt seines überlangen, sprachlich hölzernen Aufsatzes irritiert Heinemann mit der Feststellung, die Alliierten seien von „Wut und Hass gegen die Deutschen“ (S. 70) getrieben worden, als sie versuchten, mit Kriegsende einen Überblick über die Wissenschafts- und Forschungslandschaft des Deutschen Reiches zu gewinnen, technisches Know-how zu erfassen, Wissenschaftler/innen und Techniker/innen anzuwerben und damit sowohl Wissensbestände zu nutzen als auch die deutsche Gesellschaft zu demokratisieren und eine deutsche Wiederbewaffnung auf absehbare Zeit zu verhindern. Heinemann verweist dazu auf ein Roosevelt zugeschriebenes Zitat über die Notwendigkeit, die Deutschen zu „kastrieren“ (S. 71, Fußnote 6 – man fragt sich, woher die Übersetzung stammt), das Henry Morgenthau in einer Tagebuchnotiz wiedergab, die wiederum einer 1968 erschienenen Monographie von John Morton Blum entnommen ist. Die unmittelbar anschließende, ebenso vage wie haltlose und deshalb empörende Behauptung, „[g]esellschaftlich Rache […] zu üben“, sei „individuelles Kriegsziel“ gewesen und habe zu nicht näher spezifizierten „Selbstmorden“ „auf beiden Seiten“ geführt (S. 71), belegt Heinemann nicht.

Leider nimmt Heinemann auch nicht zur Kenntnis, dass die Wissenschaftsgeschichte die Vorstellung, die Migration von Wissenschaftler/innen in ein anderes Land und die Aneignung von Wissen sei ein direkter Innovationstransfer, problematisiert und darauf verwiesen hat, dass Innovation eben stets von den umgebenden Bedingungen abhängig ist.1 Das hätte ihn vielleicht auch davor bewahrt, das englische Wort „exploitation“ im Text wiederholt mit „Ausbeutung“ (explizit auf S. 70) zu übersetzen und nahezulegen, die Alliierten hätten in den Trümmern des „Dritten Reichs“ „Beute“ (S. 71) gemacht, die insbesondere amerikanischen Innovationen der folgenden Jahre zugrunde gelegen habe (so insb. S. 108).

Hinzu kommen methodische und handwerkliche Schwächen sowie inhaltliche Fehler. So scheint Heinemann etwa nicht bewusst zu sein, dass die Alliierten nicht mit den „Vereinten Nationen“ identisch sind beziehungsweise nicht so genannt werden (siehe S. 78, S. 108). Wenn Heinemann – offenbar ohne jegliche kritische Distanz – schreibt, die deutsche Kriegswirtschaft habe 1944 „phänomenaler Weise“ ihren Höhepunkt erreicht (S. 78), entgeht ihm, dass das in der Wirtschaftsgeschichte durchaus umstritten ist, da diese Einschätzung auf NS-Statistiken beruht, die unter anderem insofern zu hinterfragen sind, als sie sich nicht kontinuierlich auf dasselbe Gebiet beziehen und kriegsbedingte Gebietsgewinne und -verluste sich deshalb in den Statistiken niederschlagen.2 Dass Heinemann regelmäßig auf Wikipedia-Artikel verweist, ohne deren Gehalt kritisch einzuordnen, und kommentarlos auf einer halben Seite einen Internetbeitrag zitiert, der keine einzige Belegstelle angibt (S. 108), hält die Rezensentin darüber hinaus für unangemessen.

Dies gesagt, soll dem übrigen Band, der in die Rubriken „Einleitende Beiträge“, „Militär“, „Frieden“ und „Zeitzeugenberichte“ gegliedert ist, davon unabhängig Rechnung getragen werden.

Angesichts der in der Wissenschaftsgeschichte allgemein anerkannten Erklärungskraft von Mitchell Ashs 2002 eingeführter Denkfigur von Wissenschaft und Politik als „Ressourcen für einander“3 (die in der knappen Vorbemerkung des Bandes auch erwähnt wird) erstaunt es, dass manche Beiträge offenbar einer Vorstellung von Wissenschaft und Politik als getrennte Sphären verhaftet bleiben. So beschreibt Bernd Helmbold in einem ersten Abschnitt physikalische Forschung zum „Röntgenblitz“, um anschließend in einem deutlich kürzeren Abschnitt auf „Anwendungsgebiete“ dieser Forschung zu verweisen. Eine solche Trennung geht letztlich hinter die bereits geleistete Forschung zu komplexen Abhängigkeitsverhältnissen zurück. Ash ließ mit seinem Konzept vereinfachende und häufig exkulpatorische Denkfiguren wie etwa jene der „Indienstnahme“ von (vermeintlich reiner) Wissenschaft durch die Politik hinter sich. Aus seinem Ansatz folgt deshalb auch, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als gesellschaftliche Eliten mit politischen Haltungen und teils konkreten Macht- und Gestaltungsansprüchen ernstzunehmen und sie nicht als Spielball der „Verhältnisse“ zu beschreiben.

Dagegen ist es für wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen durchaus gewinnbringend, dass mehrere der (bis auf eine Ausnahme männlichen) Beiträger/innen Physik studiert haben, weil sie auf Problemstellungen aufmerksam machen, die verloren gehen, wenn man keinen tiefen Einblick in die physikalischen Zusammenhänge hat und inhaltliche Feinheiten etwa der Methodik nicht auseinanderzuhalten weiß. Manch strittige Frage, etwa ob deutsche und österreichische Physiker4 vor 1945 ernsthaft am Konstruktionsprinzip von Atombomben forschten, erscheint so – wie es der Aufsatz von Christian Forstner zeigt – in neuem Licht. Er zeigt anhand der Arbeiten der Wiener Gruppe im deutschen Uranverein, wie die beteiligten Physiker traditionelle Arbeitsroutinen beibehielten, somit durch voneinander unabhängige akademische Labore anders als die neue „big science“ der USA Synergieeffekte verschenkten und teils ihre Experimente geradezu handwerklich angingen, ohne jedenfalls echte methodische Neuerungen zu entwickeln.

Instruktiv ist auch der kommunikationswissenschaftlich argumentierende Beitrag von Martin Fechner. Er wählt die Präsentation der neuen Lasertechnik durch Theodor Maiman als Beispiel, um zu zeigen, dass Wissenschaftler ihre Forschung aktiv in variierende Sinn- und Deutungszusammenhänge einpassten, um Gelder zu reklamieren, um ihren wissenschaftlichen Ruf zu pflegen oder um rückblickend ein neues Narrativ zu etablieren. Als Theodor Maiman in einer eigens organisierten Pressekonferenz 1960 bekanntgab, es sei ihm gelungen, „erste Lasing-Aktivitäten zu beobachten“ (S. 115), weckte er laut Fechner nicht von ungefähr Assoziationen an die mögliche Anwendung des Lasers als potente militärische Waffe. Maiman arbeitete bei den Hughes Research Laboratories, die Forschungsgelder vom Militär erhielten – in den USA im Jahr 1960 waren diese Gelder als gewissermaßen öffentliche Forschungsförderung nicht zu unterschätzen.

Auch Ulrike Wunderle, deren Dissertation 2015 unter dem Titel „Experten im Kalten Krieg. Kriegserfahrungen und Krisenkonzeptionen US-amerikanischer Kernphysiker 1920–1963“ erschienen ist, liefert einen interessanten und gut lesbaren Text. Sie fragt nach der politischen Bedeutung internationalen wissenschaftlichen Austauschs im „Kalten Krieg“ und schildert, wie sich internationale Diplomatie und internationale Wissenschaftskooperation Mitte der 1950er-Jahre zueinander verhielten. Dabei kann sie zeigen, wie Ziele der Auswärtigen Kulturpolitik mit dem traditionellen Ideal wissenschaftlichen Austauschs im Dienst des Gemeinwohls konvergierten, aber auch in Konflikt gerieten. Die Genfer Atomkonferenz von 1955 sei für die amerikanischen Physiker eine Möglichkeit gewesen, ihr Selbstverständnis als unabhängige, liberal-demokratische Wissenschaftler (S. 171) zu betonen und wissenschaftlichen Austausch gerade im Bereich der Kernphysik zu befördern, ohne staatliche Forschungsförderung zu gefährden. Wissenschaftliche Neutralität zum leitenden Prinzip der Konferenz zu erklären, änderte freilich nichts daran, dass Geheimhaltungsauflagen eine große Rolle spielten und dass etwa 900 Medienvertreter (S. 174) die wissenschaftlichen Inhalte öffentlich kommunizierten, kommentierten und damit eine klassische Konferenz unmöglich machten. Mit der sogenannten Pugwash-Bewegung versuchten Wissenschaftler deshalb aktiv, ein eigenes Format zu etablieren, in dem sie nicht als Repräsentanten eines Systems agieren mussten und als solche wahrgenommen wurden. Ihre Initiative erreichte schnell Bekanntheit unter politischen Eliten insbesondere in den USA und der Sowjetunion, ohne jedoch zu einem Instrument der offiziellen Diplomatie zu werden, und diente in der Folge in der Tat als Plattform für den vertrauensvollen informellen Austausch über eingrenzbare Probleme.

Die Auswahl lässt erahnen, wie heterogen die versammelten Aufsätze sind – inhaltlich, methodisch, aber auch sprachlich. Insgesamt scheint den Herausgebern vor allem daran gelegen gewesen zu sein, die Beiträge von „mehreren gemeinsamen Sitzungen des Fachverbandes Geschichte der Physik und der Arbeitsgemeinschaft Physik und Abrüstung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft während der Frühjahrstagung 2015 in Berlin“ (S. 4) zugänglich zu machen, unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Qualität und ohne größere redaktionelle Arbeit. Da den Beiträgen keine systematisierende Einleitung vorangestellt ist, sie kaum aufeinander bezogen sind und auch abschließend keine Einordnung angeboten wird, sucht man vergeblich nach Kohärenz oder gar methodischen oder forschungspraktischen Anstößen etwa für zukünftige interdisziplinäre Projekte.

Zugegeben, die Enttäuschung darüber wird durch die mangelnde Sorgfalt bei der Textredaktion vielleicht über Gebühr genährt. Denn der Leseeindruck wird durch zahlreiche sprachliche Schnitzer, grammatikalische und orthografische Fehler, falsch wiedergegebene Zitate und Tippfehler – kurz, ein fehlendes Lektorat – getrübt. Sprachlich sind die Aufsätze häufig unpräzise, immer wieder verschleiert die Darstellung historische Abläufe und die Bedeutung historischer Akteure mehr als sie sie erhellt. Zum Teil sind Argumente kaum verständlich, etwa wenn die Herausgeber ankündigen, es gehe ihnen um die „mögliche Ambivalenz und Sorge physikalischer Tätigkeiten in problematischen Zeiten“ (S. 3).

Studierenden werden solche Fehler nicht nur vorgeworfen, sie wirken sich auch auf die Bewertung studentischer Arbeiten aus. Ihnen diesen Band – wie im Klappentext angeregt – als Lehrbuch zu empfehlen, davon ist also nicht nur mit Blick auf den Preis abzuraten.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig. Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland 1900-1960, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 52–59.
2 Albert Speers enger Mitarbeiter Rolf Wagenführ stellte dem „United States Strategic Bombing Survey“ die Daten zur Verfügung und beförderte damit nicht zuletzt die Legende vom unideologischen Technokraten Speer, der die unzureichend mobilisierte Wirtschaft ab 1942 deutlich angekurbelt habe. Auf den Berichten des USSBS wiederum beruhten viele wirtschaftshistorische Arbeiten zum „Dritten Reich“. Auch Abelshauser bezieht sich darauf. Siehe Adam Tooze, No Room for Miracles. German Industrial Output in World War II Reassessed, in: Geschichte und Gesellschaft 31/3 (2005), S. 439–464, sowie Rainer Fremdling, Zur Bedeutung nationalsozialistischer Statistiken und Statistiker nach dem Krieg. Rolf Wagenführ und der United States Strategic Bombing Survey (USSBS), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 57/2 (2016), S. 589–613.
3 Mitchell Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51.
4 Tatsächlich war der weit überwiegende Teil der historischen Akteure männlich, weshalb hier die männliche Form, die in den Beiträgen Verwendung findet, beibehalten wird.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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