Clash of Normativities: Zu einer Soziologie der Erwartungszusammenhänge

Veranstalter
AK Normativitäten und die Sektion Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Internationales Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse)
Ausrichter
Internationales Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse
Veranstaltungsort
Marburg
PLZ
35032
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
15.02.2024 - 16.02.2024
Deadline
30.09.2023
Von
ICWC Internationales Forschungs– und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse

Am 15. und 16. Februar 2024 findet an der Philipps-Universität Marburg der Workshop "'Clash of Normativities' - Zu einer Soziologie der Erwartungszusammenhänge" als Kooperationsveranstaltung des AK Normativitäten und der Sektion Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt.

Clash of Normativities: Zu einer Soziologie der Erwartungszusammenhänge

Linda Nell (Münster) / Henning de Vries (Marburg) / Marc Mölders (Mainz)

Normen sind ubiquitär. Daher verwundert es nicht, dass das Nachdenken über Normtypen oder -wirkungen die rechts- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen von Beginn an beschäftigt. EugenEhrlich ist in seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ (1913) von unterschiedlichen gesellschaftlichen „Verbänden“ ausgegangen. Ein Verband sei „eine Mehrheit von Menschen, die im Verhältnisse zueinander gewisse Regeln als für ihr Handeln bestimmend anerkennen und wenigstens im allgemeinen tatsächlich danach handeln“ (ebd.: 45). Er unterschied vielfältige Regeln. Wichtig war ihm aber, dass nur, was „ins Leben tritt“, zur lebenden Norm wird. Alles andere sei „Lehre, Entscheidungsnorm, Dogma oder Theorie“ (ebd.: 47).

Wodurch aber, so fragte Ehrlich die aufkeimende Rechtssoziologie, veranlassen diese gesellschaftlichen Verbände den Einzelnen, ausgerechnet ihre Normen zu befolgen? Zwang sei keine Eigentümlichkeit der Rechtsnorm (ebd.: 64). Die Normen der Sitte, der Sittlichkeit, der Religion, des Taktes, des Anstandes, des guten Tones und der Mode seien sinnlos, ginge von ihnen nicht auch ein gewisser Zwang aus. Auch „Vaterland, Heimat, Religionsgemeinschaft, Familie, Freundeskreis, gesellschaftliche Beziehungen, politische Parteizugehörigkeit“ hegten Erwartungen, denen sich der Einzelne kaum indifferent gegenüber verhalten kann. Teils sieht man diesen Verbänden ihren Kontext zum Beginn des 20. Jahrhunderts an, teils ließen sie sich ins 21. Jahrhundert übertragen, wieder andere müssten hinzugefügt werden. Um einander „ins Leben zu treten“, braucht es heute nicht einmal die unmittelbar wahrgenommene Anwesenheit eines Gegenübers; auch digitale Gemeinschaften prägen ihre „Follower“.

Die Heterogenität der Normalitäts- und Normativitätserwartungen der sich kontrollierenden Instanzen steht uns heute klar vor Augen. Doch es gilt nicht nur ihre Co-Existenz zu konstatieren. Normativitäten überlappen sich empirisch und stehen in vielfältigen Wechselwirkungen – auch und gerade, was Art und Tiefe des Erwartungszusammenhanges betrifft. Erwartungen der Familie, des Betriebs und des Staats, um nur wenige herauszuheben, lassen sich nicht nacheinander abarbeiten oder hierarchisieren. Ihre jeweilige Normativität kennt unterschiedliche „Aggregatzustände“ des (In-)formalen sowie unterschiedlich gelagerte Sanktionsmöglichkeiten (Nell 2020), sie beobachten und beaufsichtigen einander (Mölders 2021).

Für die Soziologie war wohl Georg Simmel mit seiner „Kreuzung socialer Kreise“ (1890) der erste, der sich systematisch mit dem Wechsel- und Zusammenwirken differenzierter Erwartungszusammenhänge beschäftigte. Sein Fluchtpunkt – und darin wiederum Ehrlich ähnlich – war aber das Individuum als Schnittpunkt. Das Unteilbare des Einzelnen verdankte sich gerade dem Ausgesetztsein unterschiedlicher Kreiserwartungen, die ihrerseits durch den Eintritt anderweitig Geprägter angereichert und variiert werden könnten.

Von unterschiedlichen Arten und Formen des gesellschaftlichen Seins, die mit je unterschiedlichen Sollensvorstellungen – Normativitäten – rechnen, gehen auch gegenwärtige soziologische Theorieangebote aus (Renn 2021; Lindemann 2014; Hirschauer 2021). Was schließen diese aus dem wechselseitigen Ausgeliefertsein unterschiedlicher Normativitäten? Lassen sich eher Hegemonien (Laclau & Mouffe 1985; de Sousa Santos & Nunes 2006) oder eher Heterarchie (McCulloch 1965; Willke 2003) ausmachen? Wie sind, allgemein gesprochen, die Relationen solcher Normativitäten zu beschreiben? An Interdependenz, Konkurrenz, Konflikt, Kopplung, friedliche oder feindliche Übernahme, Überzeugung, Überredung, Übersetzung, Unterdrückung, Verflechtung, u.v.m. ließe sich denken. Auch gewaltförmige Auseinandersetzungen haben sich empirisch zuletzt in Erinnerung gebracht (Lindemann 2018). Gerade in der Aufarbeitung gewaltsamer Konflikte treffen verschiedene Erwartungszusammenhänge in Form kultureller Ordnungen, staatlicher Rechtsordnungen und völkerrechtlicher Regeln aufeinander und stehen in konfligierenden oder gar widersprüchlichen Verhältnissen zueinander (de Vries 2022). Solche Erwartungsverhältnisse lösen Zumutungen für alle Beteiligten aus, die Herd neuer Konflikte sein können. Transitional Justice Prozesse handeln die Zumutbarkeit widersprechender Erwartungszusammenhänge aus. Sind bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche von Konflikten zwischen normativen Ordnungen bedrohter als andere? Wie müssen Verhältnisse von Erwartungszusammenhängen organisiert sein, um als Ordnung gelten zu können? Wie viel Widerspruch zwischen Erwartungszusammenhängen kann (gesellschaftlicher) Ordnung zugemutet werden? Hier ist auch an wissenschaftsskeptische oder ideologisch geprägte Bewegungen zu denken, die kommunikative Widersprüche zwischen Erwartungszusammenhängen provozieren und produzieren.

Im Rahmen des Workshops wird eine Publikation für Beiträge angestrebt, die sich thematisch mit Grenzen und Grenzüberschreitungen militärischer Gewalt auseinandersetzen. Wir begrüßen ausdrücklich Beiträge, die sich auf anderen Themenfeldern mit Normativität und Erwartungszusammenhängen befassen. Allerdings können wir nicht für alle Beiträge eine Publikation garantieren.

Der Workshop findet am 15. und 16. Februar 2024 an der Philipps-Universität Marburg als Kooperationsveranstaltung des AK Normativitäten und der Sektion Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt. Bitte richten Sie Ihre Vorschläge für einen Beitrag (max. 500 Wörter) bis zum 30. September 2023 an Linda Nell (nelll@uni-muenster.de).

Literatur

de Sousa Santos, Boaventura/Nunes, João Arriscado (Hg.) (2006): Reinventing democracy. Grassroots movements in Portugal. London/New York: Routledge.

de Vries, Henning (2022): Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof. Eine Rekonstruktion ihrer Struktur in der Weltgesellschaft. Weilerswist: Velbrück.

Ehrlich, Eugen (1913): Grundlegung einer Soziologie des Rechts. Berlin: Duncker & Humblot.

Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1985): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen.

Lindemann, Gesa (2014): Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen. Weilerswist: Velbrück.

Lindemann, Gesa (2018): Strukturnotwendige Kritik. Theorie der modernen Gesellschaft 1. Weilerswist: Velbrück.

McCulloch, Warren (1965): Embodiments of Mind. Cambridge: MIT Press.

Mölders, Marc (2021): »Die öffentliche Meinung und ihre Medien als aufsehende Gewalt. Zur Aktualität von René Marcic in digitalen Räumen«. In: Hahn, Kornelia/Langenohl, Andreas (Hg.): Protestkommunikation: Konflikte um die Legitimität politischer Öffentlichkeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 145–160.

Nell, Linda (2020): Die multiple Differenzierung des Rechts. Eine pragmatistisch-gesellschaftstheoretische Perspektive auf den globalen Rechtspluralismus. Weilerswist: Velbrück.

Simmel, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Duncker &Humblot.

Renn, Joachim (2021): »Das Medium Recht und die Evolution seiner Formen«. In: Ders.: Indirekte Referenz.

Pragmatischer Realismus und Medientheorie. Soziologische Übersetzungen III. Bielefeld: transcript, S. 197-243.

Willke, Helmut (2003): Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Kontakt

Dr. Henning de Vries
Mail: henning.devries@jura.uni-marburg.de

https://www.uni-marburg.de/de/icwc/aktuelles/nachrichten/out-now-call-for-papers-workshop-clash-of-normativities