Imperien haben in ihrer Geschichte erheblichen Einfluss darauf genommen, welche verschiedenen sozialen, kulturellen und religiösen Identitäten und Zugehörigkeiten zum Reich als Ganzem einzelne Gruppen für sich formulierten. Die Ringvorlesung „Imperien und Zugehörigkeiten“ nimmt in den Blick, wie die Vielschichtigkeit von Zugehörigkeiten und religiösen Identitäten imperiale Gesellschaften beeinflussten und welche Dynamiken sozialer Formierung damit verbunden waren. So entwickelten Menschen mit „imperialen Biografien“ in manchen Fällen multiple Zugehörigkeiten, in anderen Fällen hatten sie eindeutige Identitäten anzunehmen.
Die Ringvorlesung beleuchtet den Umgang mit konkurrierenden Bezugssystemen innerhalb einer Gesellschaft an vielen Beispielen – von der Geschichte der Juden im Alten Rom über das multikonfessionelle Fatimidenreich im Mittelalter bis zu westafrikanischen Soldaten, die die französische Kolonialmacht in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts in Europa einsetzte.
Die Referent/innen aus Geschichtswissenschaft, Theologie und Politikwissenschaft eröffnen neue Perspektiven auf die Konstruktion sozialer Zugehörigkeiten über Landesgrenzen, Kontinente und Epochen hinweg. Zur Sprache kommen politische Prozesse, Institutionen und Akteure in den Imperien, aber auch Objekte und symbolische Formen, die für die Imagination und Artikulation von Identitäten eine entscheidende Rolle spielen konnten. Dabei zeigt sich, dass Imperien und Kolonialisierung keine spezifischen Phänomene der Neuzeit darstellen, sondern zu verschiedenen Zeiten und Kulturen je unterschiedliche Gestalt annahmen. Anhand des Konzepts der Resonanzsensibilität von Kulturen lässt sich etwa erkennen, inwieweit Gesellschaften oder gesellschaftliche Gruppen sich in ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen unterscheiden, und wie weit dies zu wirklichem Verstehen oder zu Missverständnissen zwischen den Gruppen führt.
Hintergrund der Ringvorlesung sind langjährige Debatten in der Globalisierungsforschung und globalen Geschichtswissenschaft sowie der Kolonialismusforschung und postkolonialen Theorie, die traditionelle europäische Geschichtsbilder auf den Prüfstand stellen. Denn aus einer globalen Perspektive, die den Blick ehemals kolonialisierter Gesellschaften auf die kolonialisierenden Gesellschaften einbezieht, verlieren spezifisch westliche Sozialtheorien und Konzepte ihre Selbstverständlichkeit. Zugleich werden bei einem vergleichenden Blick die spezifischen Entwicklungslinien unterschiedlicher Gesellschaften bis in die globale politische Moderne sichtbar.